
Konferenz in Jerusalem:
Die Rückkehr der Jeckes
Von Reuven Weiß, Jedioth Achronoth,
04.05.04
Ein Jecke läuft auf der Straße, und
plötzlich tritt ein Mann auf ihn zu und verpasst ihm eine schallende
Ohrfeige. Der verblüffte Jecke reibt sich die schmerzende Wange und
fragt den Mann: "Sagen Sie mal, war das im Ernst oder im Spaß?"
"Natürlich im Ernst", lautet die Antwort. "Da haben Sie aber Glück
gehabt", sagt der Jecke, "denn solche Witze mag ich nämlich ganz und gar
nicht."
Viele Jahre lang, vor allem seit sie vor
70 Jahren im Rahmen der 5. Einwanderungswelle in Scharen nach Israel
kamen, waren die Jeckes und ihre Eigenschaften das Thema zahlreicher
Witze. Ihre Pünktlichkeit, ihre Präzision und ihre Sorgfalt wurden zum
Symbol der gesamten Volksgruppe. Redewendungen wie "Sei doch nicht so
ein Jecke" wurden Teil des Sprachgebrauchs.
Am 2. Mai wurde in Jerusalem eine
internationale Konferenz, die erste ihrer Art, über die Jeckes eröffnet.
Die Konferenz befasst sich mit dem Beitrag der Einwanderer aus
Zentraleuropa zum Aufbau und der Entwicklung des Landes und zur
Erziehung, Wirtschaft, Justiz, Kunst u.m.
"Meiner Meinung nach fühlten sich die
Jeckes ein wenig verachtet, wegen des Verhaltens, das ihnen jahrelang
entgegengebracht wurde", erklärt Michael Shilo, der Leiter des
Kulturinstituts Mishkenot Sha'ananim in Jerusalem, wo die Konferenz
stattfindet. "70 Jahre sind seit der 5. Einwanderung vergangen, und aus
biologischen Gründen sind die Jeckes allmählich verschwunden. Es blieben
nur noch 10% von ihnen übrig. Aber die, die noch da sind, und auch die
zweite und dritte Generation zeigen starkes Interesse, sie wollen in der
Vergangenheit schwelgen, stolz sein und der Öffentlichkeit ihren Beitrag
zeigen. Immerhin waren die Jeckes die Gründerväter zahlreicher Bereiche
in der israelischen Gesellschaft und volle Partner bei der Gründung der
übrigen."
Shilo, Angehöriger der zweiten
jeckischen Generation, begeisterte sich für den Gedanken und stellte
Mishkenot Sha’ananim für die Veranstaltung zur Verfügung. Im Rahmen der
Konferenz finden Debatten, Vorlesungen, Konzerte, Aufführungen,
Ausstellungen und Filmvorführungen statt, mit 80 Teilnehmern, darunter
Schriftsteller, Dichter, Künstler, Schauspieler, Musiker und Akademiker.
"Ich bin ein Ehrenjecke"
"Wir dachten, die Jeckes seien weniger
geworden, aber es stellt sich heraus, dass sie sich noch vermehrt
haben", sagt Shilo scherzend. "Mishkenot Sha'ananim ist relativ klein,
und wir waren überrascht, dass es sich bis auf den letzten Platz gefüllt
hat. Es kamen 'Originaljeckes', Angehörige der zweiten und dritten
Generation und auch Leute, die sich einfach für das Thema interessieren.
Sie haben allen Grund, stolz zu sein. Zum Beispiel waren sie in der
ersten Generation des Obersten Gerichts vertreten. Die Unterschriften
auf den ersten Geldscheinen sind die von Jeckes. Die Jeckes legten die
Grundlagen für Justiz und Bankwesen in Israel."
Ein Blick auf die Jeckes im heutigen
Israel zeigt die Crème de la Crème der israelischen Gesellschaft, wie
den Milliardär Steff Wertheimer, die Familie Strauß aus Naharija, den
ehemaligen Bürgermeister von Tel Aviv, Shlomo (Tschitsch) Lahat und noch
viele mehr.
Das sind Leute, die viel durchgemacht
haben, seit sie oder ihre Eltern nach Israel kamen. Oder wie es Michael
Shilo in seiner Eröffnungsrede sagte: "Menschen, die im kulturellen
Mittelpunkt der europäischen Zivilisation aufgewachsen sind und zu ihrer
Führungsspitze gehörten, wurden mit einem Schlag und fast ohne
Vorwarnung entwurzelt, und dennoch trugen sie ihr Schicksal mit Humor
und Würde. Die Last ihrer Kultur und ihres guten Benehmens brachten sie
mit, und als sie in Anzug und Krawatte am Hafen von Jaffa ankamen,
verbeugten sie sich tief vor dem Araber, der sie vom Schiff zum Ufer
brachte."
Einer der bekanntesten Vertreter der
zweiten Generation ist der Korrespondent des ersten Fernsehprogramms,
David Wiztum. "Ich bin ein 'Ehrenjecke', denn es ist mir eine Ehre, ein
Jecke zu sein", scherzt er. "Mein Vater ist in Berlin geboren und ich
bin in einer jeckischen Atmosphäre aufgewachsen, im Achusa Viertel in
Haifa und habe eine jeckische Erziehung genossen."
Wiztum, der das Medienpanell bei der
Konferenz moderieren wird, wird auch einen Film zeigen, den er zu dem
Thema gedreht hat. "Das Thema der jeckischen Kultur liegt mir sehr am
Herzen. Ich befasse mich mit ihrer Forschung und schreibe darüber, und
ich muss betonen, dass im Verhältnis zu ihrer Zahl die Jeckes einen
enormen Beitrag zum Staat Israel geleistet haben. Mehr als jede andere
Volksgruppe. Sie bewahrten ihre kulturelle Identität, was ihnen oft
Schwierigkeiten machte, sie übernahmen jedoch auch mit Freude die
israelische Identität."
Ein weiterer Film Wiztums befindet sich
im Museum für deutschsprachiges Judentum in Tefen. In das Museum, das
bis Ende 2004 wegen Renovierungsarbeiten geschlossen ist, können alle
diejenigen kommen, die die Konferenz verpasst haben, oder die sich
einfach immer wieder erinnern und Ausstellungen zu dem Thema sehen
wollen.
Die Ausstellung, die sich mit dem
Beitrag der Jeckes zur Gründung des Staates Israel und ihren Einfluss
auf die Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur im Lande befasst, beinhaltet
Fotos, Dokumente, Gegenstände und Filme, die der Einzigartigkeit des
deutschsprachigen Judentums Ausdruck verleihen. Das Archiv, das im
Museum tätig ist, nimmt private Nachlässe auf und kümmert sich um sie.
Nach der Renovierung wird es wieder für das breite Publikum geöffnet.
Leisteten viel und wurden enttäuscht
"Die Jeckes fühlten von Anfang an, dass
man sie nicht so aufnahm, wie sie es verdient hatten", sagt Prof. Mosche
Zimmermann, der Leiter der Fakultät für Geschichte an der Hebräischen
Universität, der als akademischer Vorsitzender der Konferenz fungiert.
"Dieses Gefühl geht den meisten älteren Jeckes im Bauch herum. 'Wir
haben viel geleistet und wurden nicht anerkannt', empfinden sie. Diesen
Vorwurf äußern viele Volksgruppen, aber die Jeckes empfanden sich nicht
als jemand, der nur irgendeinen Beitrag leistete, sondern der die
Grundlagen legte. Deshalb ist ihre Enttäuschung umso größer. Als sie
kamen, wurden sie als Repräsentanten des Feindes betrachtet. Sie wurden
sogar mit den Nazideutschen identifiziert. Als Partner der Nazis. Man
richtete sich gegen ihre Sprache, gegen die Literatur, die sie
mitbrachten. Sie fühlten sich wie unter einer Blockade. Im Lande
verstanden viele nicht, dass jemand aus Deutschland nicht gleichzeitig
ein Nazi ist, auch wenn er nicht auf seine deutsche Identität
verzichtet. Im Nachhinein hinterließen die Deutschen der israelischen
Gesellschaft ein riesiges Erbe- Musik, Gymnastik, die Jugendbewegungen."
Friedel Stern, die sich weigert,
Auskunft über ihr Alter zu geben ("Bald 120"), störte ich gestern bei
ihrer traditionellen "Schlafstunde". Stern, in Deutschland geboren, kam
im August 1936 nach Israel und arbeitete jahrelang als Karikaturistin in
der israelischen Presse.
Bei der Sitzung mit dem Thema "Die
Präsenz deutscher Juden in Kultur und Kunst" befasste sich Stern mit
Humor. "Warum sagt man, die Jeckes hätten keinen Humor?", fragt sie
gekränkt. "Das stimmt nicht. Es handelt sich um ein Missverständnis. Als
die Jeckes nach Israel kamen nannte man sie 'Jecke-Potz'. Warum? Weil
wir ganz einfach nicht verstanden, was hier eigentlich los ist.
Wir konnten diese neue Kultur nicht
verstehen. Wir waren sehr, sehr naiv. Wenn uns jemand etwas sagte, dann
glaubten wir das auch. Wir waren sehr ehrlich. Sehr ordentlich. Deshalb
entstand die Bezeichnung 'Jecke-Potz'. Wir waren dazu erzogen, dass man
zu seinem Wort steht, zu Pünktlichkeit und dazu, den Nächsten zu
respektieren.
Bis heute zwinge ich mich manchmal dazu,
zu spät zu kommen, aber es gelingt mir nicht. Das steckt tief in uns
drin. Man hat uns gelehrt, dass es sich nicht gehört, jemanden warten zu
lassen. Ich bin jetzt schon so lange in Israel, und ich habe es noch nie
geschafft, zu spät zu kommen, obwohl ich mir große Mühe gebe. Immer noch
sage ich ständig ‚Danke’ und ‚Entschuldigung’. Viele schauen mich ganz
verblüfft an. Aber so sind wir nun mal. Niemand hat uns geholfen, als
wir nach Israel kamen, und wir haben auch nichts verlangt. Es gab keinen
Ulpan, wir konnten die Sprache nicht. Aber wir haben auch nicht gedacht,
dass uns irgend etwas zusteht. Wir haben schwer gearbeitet. Alle Jeckes,
die es zu etwas gebracht haben, schafften dies allein. Das war eine
großartige Einwanderung, aber ich wundere mich auch nicht über die
vielen Witze, die wegen der vielen Probleme entstanden sind."
Die verschiedenen Veranstaltungen bei
der Konferenz sind sehr interessant, und es nehmen namhafte
Persönlichkeiten teil. An dem Panell zu dem Thema "Die Präsenz der
Jeckes in Politik und Medien" nehmen unter anderem Uri Avneri teil,
David Rubinger und der HAARETZ- Redakteur Amos Schocken. Bei der
Abschlussveranstaltung "Theater- Erinnerung" unter der Leitung von Dan
Almagor, nehmen unter anderem Gideon Singer, Hana Meron, Doron Nesher
und Orna Porath teil.
Bei der Diskussion zu dem Thema "Die
Präsenz deutscher Juden im Musikleben" nahmen Michal Zmoira-Cohn und
Michael Wolpe teil, "Ohne die Jeckes gäbe es keine Orchester,
Kammerensembles oder Chöre", sagte Wolpe, ein gebürtiger Israeli und
Sohn von deutschen Einwanderern gestern. Viele der Jeckes musizierten.
Der Begriff 'Kultur' war ein fester Bestandteil ihres täglichen Lebens.
Auch diejenigen, die in Fabriken oder als Straßenkehrer arbeiteten,
waren an Musik und Kunst interessiert.
Einerseits lebten sich die Jeckes
schlecht ein, und andererseits waren sie auch sehr bescheiden. Sie
machten keinen Lärm. Man kann das auch an den Bereichen erkennen, in
welchen sie vertreten sind- Kultur, Erziehung, Wissenschaft, Justiz,
jedoch kaum in der Politik. Aber vor allem hatten sie die Musik. Das war
fast ihre Religion, sie liegt tief in ihnen verwurzelt. Ich kann mich
erinnern, dass bei Familientreffen bei uns immer musiziert wurde."
Bei dem Konzert, das für die
Konferenzbesucher stattfand, kombinierte Wolpe Werke von Komponisten,
die in den 30-er Jahren nach Israel kamen, mit Liedern, die von
deutschstämmigen Musikern geschrieben wurden. "Ohne die Jeckes würde
diese ganze Kulturwelt hier gar nicht existieren", sagt er.
hagalil.com
05-05-2004 |