Die israelische Tageszeitung Haaretz veröffentlichte kürzlich einen
Bericht über die Eröffnung eines Obdachlosenheims für homosexuelle
Jugendliche, die das Haus ihrer Eltern verlassen mussten. In der Zeitung
erschienen in den letzten Monaten mehrere Artikel, in denen über die
Auseinandersetzungen in der israelischen Gesellschaft über
Homosexualität berichtet wurde. Der Artikel erschien 22. September 2002:
„’Für mich ist dies ein weiterer Schritt nach vorn’, sagte gestern der
Bürgermeister von Tel Aviv, Ron Holdai, angesichts der landesweit ersten
Eröffnung einer Zufluchtstätte für homosexuelle Jugendliche. In dem Heim
‚Freiheit’ im Stadtteil Nave Zadek finden Schwule, Lesben, Bisexuelle
und Transsexuelle, die auf Grund ihrer geschlechtlichen Neigung von
Zuhause ausgerissen sind, eine Unterkunft. ‚Ich empfinde eine große
Genugtuung’, fügt Holdai hinzu. ‚Und ich hoffe, dass wir große
Fortschritte machen werden.’
Das Heim ‚Freiheit’, das seit Mai existiert, ist eine Zwischenstation
für Jugendliche, die plötzlich ohne Dach über dem Kopf da stehen. Das
Heim soll keine dauerhafte Bleibe für die Jugendlichen sein – die
meisten bleiben nicht länger als ein halbes Jahr, so lange bis sie
wieder auf die Beine kommen. Es soll ihnen ermöglicht werden entweder
wieder in ihre Familien zurückzukehren oder die nötige Hilfe zu
bekommen, um ein neues Leben ohne Unterstützung ihrer Familie
anzufangen.
Heute leben im dem Heim vier Jugendliche im Alter von 18 Jahren; nach
einem Ausbau werden dort bald 10 Jugendliche eine Unterkunft finden.
Das professionelle Team des Heims besteht aus dem Direktor, einer
Sozialarbeiterin und mehreren Betreuern. Das Heim ist 24 Stunden und 365
Tage im Jahr geöffnet, in jeder Nachtschicht sind mindestens zwei
Mitarbeiter anwesend. Die Heimbewohner versorgen sich selbst und sind
daran beteiligt den Hauhalt in Ordnung zu halten.
Das Team begleitet die Jugendlichen, indem es für jeden einzelnen von
ihnen eine Art Integrationsplan zusammenstellt. Dabei wird die
persönliche Situation jedes einzelnen berücksichtigt, einschließlich der
Vorbereitung zum Studium und der Suche nach einem Beruf. Bis jetzt ist
es den Mitarbeitern gelungen, einen Jugendlichen in seine Familie
zurückzubringen. In einigen andern Fällen sind die Familien von sich aus
ins Heim gekommen, um erneut ein gemeinsames Leben zu versuchen.
Die Errichtung des Obdachlosenheims zählt zu den wichtigsten
politischen Errungenschaften der Stadträtin Michal Eden, der einzigen
israelischen Politikerin im Amt, die sich als homosexuell geoutet hat.
In den letzten Jahren ist es Eden gelungen, Druck auf das Magistrat
auszuüben, damit dem Heim ein Budget zugeteilt wird. […]
‚Es ist richtig, dass hier von einem großzügig bemessenen Projekt die
Rede ist’, sagte Eden, ‚und ich bin froh, dass man bereit war, die
Geldquelle zu bewilligen. In zwei Jahren werden wir wissen, was der
Umfang unserer Arbeit sein wird und wir werden mehr Erfahrungen für
unsere Betreuung von schwulen und lesbischen Jugendlichen, die aus dem
familiären Rahmen ausgeschlossen worden sind, sammeln und der
Öffentlichkeit präsentieren. Diese Erfahrung wird uns in der Zukunft von
Nutzen sein.’
Der Vorsitzender der Wohlfahrtsabteilung Zeev Friedmann sagt: ‚Es ist
richtig, dass es eine wachsende Anzahl der Hilfsdienste für obdachlose
Jugendliche gibt. Ein Jugendlicher, der seine sexuelle Neigung
verleugnet, hat, mit allem was er durchlebt, große Schwierigkeiten, sich
in den gewöhnlichen Rahmen einzufügen. Das heißt, es gibt eine
Notwendigkeit für die Schaffung eines anderen Rahmens, sprich, eine
solche Einrichtung.’
Eine 1998 veröffentlichte wissenschaftliche Studie aus Belgien, zeigt,
dass die Selbstmordgefährdung Homosexueller im Alter von 15 bis 25
Jahren, 2- bis 5-mal höher liegt als bei heterosexuellen Jugendlichen.
Dieser Studie zufolge hatten 13% der homosexuellen jungen Männer einen
Selbstmordversuch hinter sich, das steht 6% der heterosexuellen
gegenüber, während 25% der lesbischen Mädchen gegenüber 5% der
heterosexuellen Mädchen einen Selbstmordversuch unternahmen.
Nach einen Schätzung werden in Israel jährlich 30 Jugendliche wegen
ihrer sexuellen Orientierung von Zuhause rausgeschmissen, des Weiteren
leben 20 heranwachsende Transsexuelle auf der Strasse. Ein Teil von
ihnen geht der Prostitution nach. Die Beschäftigten in der Gemeinde
sagen, dass die Kombination von der natürlichen Unsicherheit und der
Entfernung von der Familie die Jugendlichen in die aussichtslose
Situation bringt.
Seit der Einrichtung des Asyls tauchen in der Nachbarschaft Nave Zedek
Protestpamphlete auf, in denen steht: ‚Gott bewahre uns vor dem, was da
in unserer Stadt geschieht’, aber es scheint nicht, dass dies die Arbeit
des Projekts
stört. Allerdings wurde die Eröffnungszeremonie durch einen Nachbarn,
der in den Shofar [Horn] blies, gestört.
Trotz des Durchbruches und der Eröffnung der ‚Freiheit’ gibt es noch
eine Menge ungelöster Probleme: das Heim ist nur für Jugendliche bis 18
Jahre, ein verhältnismäßig junges Alter, um sich endgültig mit der
eigenen, andersartigen sexuellen Neigung abzufinden.
Ebenso ist es für das Heim verboten, Jugendliche, die keine
israelischen Staatsbürger sind, aufzunehmen. Insofern ist das Heim nicht
offen für homosexuelle Jugendliche, die aus den besetzten
palästinensischen Gebieten, wo sie für ihre Sexualität verfolgt werden,
nach Israel kommen.
Eden sagt, dass man sich in Zukunft bemühen wird, die Tätigkeit des
Heims auch auf diese Gruppen zu erweitern. Ein öffentlicher Ort wie
dieser kann nur dann bestehen, wenn dieses Experiment Nachfrage und
Erfolg haben wird und von sich überzeugen kann – also eine große Zahl
von Jugendlichen unterstützt und behandelt. Viel Erfolg!“