Ein seltenes Interview:
Ha'aretz-Gespräch mit IDF-Generalmajor Dan Harel
Von Amos Harel, Ha'aretz, 24.04.2002
Übersetzung Daniela Marcus
Wellen von Analysen und Vorhersagen über den
neuen Nahen Osten, über den Kollaps der östlichen Front und über
weitreichende Veränderungen, die im Konflikt mit den Palästinensern
zu erwarten sind, werden im Hauptquartier der Israelischen
Verteidigungsstreitkräfte (IDF) trotz des amerikanischen Sieges im
Irak immer noch mit einem Maß an Misstrauen studiert.
Letzte Woche begann die Armee mit einer Reihe von
Überlegungen zur Beurteilung der Folgen des Krieges. Der
ausscheidende Befehlshaber des Operationszweiges, Generalmajor Dan
Harel, nahm daran teil und sagte, selbst wenn nun klar sei, dass die
Region weitreichenden Veränderungen gegenüber stehe, so seien die
Details der erforderlichen Veränderungen bei den IDF –zusätzlich zu
den drastischen Einsparungen beim Verteidigungsbudget- noch nicht
klar.
Der 48jährige Harel war in den vergangenen drei
Jahren als Leiter von Operationen am Kernpunkt von
Entscheidungsfindungen. Er war einer von sieben oder acht
Spitzenoffizieren, die die Position der IDF in einer Reihe von
schicksalhaften Themen -wie z. B. im Konflikt mit den
Palästinensern, dem Rückzug aus dem Libanon und den Vorbereitungen
für den Krieg im Irak- geformt haben. Wenn man den Mangel an
anderen, ähnlichen Planungsgremien im Land in Betracht zieht, so
kann man sagen, dass damit nicht nur die Positionen der IDF, sondern
zu einem großen Ausmaß auch Israels diesbezügliche Positionen
geformt wurden.
Harel verbrachte die meiste Zeit seiner
Armeekarriere im Artilleriekorps. Doch 1999 war er auch
Militärsekretär des damaligen Verteidigungsministers Moshe Arens, er
war Leiter des Operationszweiges, und er war Befehlshaber eines
Reservistenkorps. Obwohl es ziemlich wenig ranghohe Offiziere an der
Spitze der IDF gibt, die den Rückgang in der Intensität des
palästinensischen Terrors bereits als israelischen Sieg in diesem
Konflikt bezeichnen, und andere, die sagen, der Höhepunkt des
Konflikts liege hinter uns, ist Harel der Meinung, dass es zu früh
ist zum Feiern.
"Wir haben noch nicht gewonnen", sagt er. "Meine
Prognose ist gravierend. Eigentlich glaube ich, dass wir noch viele
Jahre vor uns haben, in denen wir uns mit dem Terror
auseinandersetzen müssen, ungeachtet der politischen Lösung."
Trotzdem ist er angenehm überrascht vom israelischen Erfolg auf zwei
Gebieten bezüglich derer er skeptisch war. "Ich war nicht sicher, ob
es möglich ist, mit solch einem gestaltlosen Terror auf solch
effiziente Art umzugehen. Doch wir haben es geschafft. Ich wusste
nicht, ob es uns möglich sein wird, in palästinensischen Städten und
Dörfern zu operieren, ohne die Verantwortung für das zivile Leben in
diesen Gebieten zu übernehmen. Doch wir fanden einen Weg, der es uns
ermöglicht, militärisch zu operieren und der es der PA erlaubt, die
Bevölkerung mit Diensten im Gesundheits- und Erziehungswesen zu
versorgen. Wir haben die PA nicht gestürzt."
Zahlen zählen
Terrorstatistiken vor und nach der Operation
"Schutzschild" sind auf jeden Fall aufschlussreich. Im ersten
Viertel des Jahres 2002, also vor der Operation "Schutzschild", gab
es 40 Selbstmordanschläge innerhalb der Grünen Linie. Im zweiten
Viertel gab es 23, im dritten Viertel 17 und im vierten Viertel 12.
Im ersten Viertel des Jahres 2003 gab es fünf Selbstmordanschläge.
Und im April gab es bis zum 23. nur einen in Netanya. Die Anzahl der
Anschläge in der Westbank ist um 75 % gesunken.
Eine spektakuläre Änderung zeigte sich in der
Relation zwischen den Selbstmordattentätern, die ihr Ziel erreichten
und denen, die es nicht erreichten. Vor einem Jahr lag die
Proportion so, dass auf einen Selbstmordattentäter, der rechtzeitig
verhaftet werden konnte, zwei bis drei kamen, die "erfolgreich"
waren. Diese Proportion hat sich umgekehrt. "Von 300
Selbstmordattentätern konnten wir 200 verhaften, 90 % davon nach der
Operation "Schutzschild", sagt Harel. Er ist der Meinung, dass das
Verhalten der israelischen Gesellschaft während dieser Zeit sehr
wichtig war. "Angesichts des Terrors demonstrierte sie
Entschiedenheit und Widerstandskraft. Sie hat ihre Moral nicht
verloren und ist nicht zerbrochen."
Er ist der Meinung, dass die Medien den
Kampfeinheiten, den Reservisten und besonders den Wehrpflichtigen
nicht genug Anerkennung geben. "Sie tragen auf ehrenhafte Weise eine
Art von Last, an die ich mich in all meinen Jahren in der Armee
nicht erinnern kann. Wir haben erstaunliche Leistungen vollbracht.
In Gaza haben wir mit 100-prozentigem Erfolg Terroristen daran
gehindert, nach Israel zu kommen. In der Westbank haben wir der
Infrastruktur des Terrors ernsthaften Schaden zugefügt. Dadurch,
dass wir in die Städte eingedrungen sind, wurde es uns möglich,
bessere Geheimdienstinformationen zu erhalten und die
Operationszyklen der Zellen schnell zu durchbrechen. Dies gelang
durch Geheimdienstaktionen. Bevor wir das Gebiet kontrolliert haben,
war es praktisch unmöglich, einen Selbstmordattentäter zu
verhaften."
Ha'aretz: Bedeutet dies, dass die IDF die Städte
nicht verlassen sollten, nicht einmal als Bestandteil der "Roadmap"?
"Wir werden die palästinensischen Städte in der
Minute verlassen, in der die Palästinenser die Verantwortung für die
Sicherheit übernehmen", sagt er. "Wenn die Palästinenser den Terror
bekämpfen, wird unsere Anwesenheit nicht mehr nötig sein. Wenn sie
eine politische Lösung wollen, so sind die Regeln des amerikanischen
Spieles klar – ein totales Verbot von Terror. Die Palästinenser
haben keine andere Wahl, als den Terror zu bekämpfen. Ohne diese
Bekämpfung wird der Terror jede Hoffnung, sowohl auf unserer wie auf
ihrer Seite, verwüsten. Daran gibt es keinen Zweifel."
Harel glaubt, dass die politische Initiative der
Amerikaner "definitiv eine Chance bietet", und die Ernennung von Abu
Mazen gibt ihm etwas Hoffnung. "Soweit ich von dem urteilen kann,
was er sagt, ist er ein beständiger und kraftvoller Opponent
gegenüber Arafats Management in der letzten Zeit. Ich hoffe, dass
der Kampf, den Arafat um seine Autorität und seine Führung kämpft,
sein letzter sein wird. Bis jetzt war seine Dominanz in der
palästinensischen Arena ungebrochen."
Harte Forderungen
Die Forderungen, die Harel an den neuen
palästinensischen Premierminister hat, sind hart, und sie scheinen
aus der Mottenkiste zu stammen, weil sie seit dem Besuch des
amerikanischen Generals Anthony Zinni Anfang 2002 nicht mehr gehört
wurden. "Die Palästinenser müssen die gesamte "Kette der
Präventionen" ausführen. Sie müssen Terroristen verhaften, sie
befragen. Sie müssen das, was sie erfahren haben, benutzen, um den
Rest der Organisation zu verhaften. Sie müssen die Verhafteten
anklagen und sie verurteilen. Ohne Wenn und Aber. Wenn es keine
Verhaftungen gibt, keine Befragungen, keine Prozesse, keine
Gefängnisstrafen, dann ist es unmöglich den Terror zu bekämpfen."
Weiterhin erwartet Harel von den Palästinensern,
dass sie "die Hetze beenden und tiefgreifende erzieherische Schritte
unternehmen, die daraufhin zielen, Werte zu wählen, die
charakteristisch sind für eine demokratische Gesellschaft, die den
Frieden liebt." Er warnt die Palästinenser davor, zu einem System
von "Schutzverhaftungen" zurückzukehren, bei denen gesuchte Männer
schnell wieder auf freien Fuß gesetzt werden "und den Zeitraum
nutzen, um das terroristische Potential wieder aufzubauen. Wenn es
nur eine Ruhepause gibt, ohne eine Kette von Präventionen, dann wird
diese Ruhepause die Organisationen befähigen, ihre Möglichkeiten
wieder aufzubauen und eine neue Welle des Terrors auszulösen. Diese
wird dann viel intensiver sein als die, die wir bisher kannten."
Harel nimmt zwei Monate Urlaub bevor er der neue
Oberbefehlshaber des Kommandos Süd wird. Nach Jahren, in denen
Infanteristen und Fallschirmjäger diesen Posten innehatten, ist er
nun der erste Artillerieoffizier. Es wird von ihm verlangt das
umzusetzen, was er vom IDF-Hauptquartier in Tel Aviv aus gepredigt
hat. Dieses ist das erste Interview mit Harel – ein alter
Verweigerer, wenn es um die Presse geht. Und selbst dieses
Interview, so gibt er zu, geschieht nur auf direkten Befehl der
IDF-Sprecherin Ruth Yaron (an die Harel noch bis vor einer Woche
Befehle erteilte). Für ihn bedeutet ein Interview kein großes
Vergnügen. So sagt er es mehrere Male während des Treffens.
Er nennt die Änderungen, die von der Beseitigung
der irakischen Bedrohung ausgehen, "umgehend und absolut. Derzeit
stellt der Irak für Israel nicht länger eine Bedrohung dar. Keine
direkte Bedrohung, die ein Expeditionskorps aussenden, Raketen
abfeuern oder Luftangriffe ausführen kann. Der Irak ist auch nicht
länger eine indirekte Bedrohung dadurch, dass er Geld für den
palästinensischen Terror zahlt und palästinensische Terroristen
ausbildet. Als Saddam Hussein 25.000 Dollar an jede Familie eines
Selbstmordattentäters zahlte, an einem Ort, an dem das
Bruttoinlandsprodukt pro Kopf bei weniger als 1.000 Dollar pro Jahr
liegt, war das sehr bedeutend." Nicht weniger wichtig, sagt er, ist
die Botschaft, die Amerika in diesem Krieg gesandt hat. "Einem Staat
ist es erlaubt zu handeln, um dem Aufbau von ernsthaften Bedrohungen
gegen ihn zuvorzukommen. Für Regimes, die Terror benutzen, gibt es
keine Legitimation."
Trotz der Skepsis in den Medien glaubt Harel, dass
das Corpus Delicti im Irak gefunden werden wird – der Beweis dafür,
dass das Regime Massenvernichtungswaffen besaß. "Die Iraker hatten
nicht-konventionelle Waffen", sagt er. "Ich nehme an, dass das Bild
in den nächsten Wochen klarer werden wird."
Unbekanntes Gebiet
Harel riskiert keine Vorhersage darüber, welche
Art von Irak aus den Trümmern des Krieges hervorgehen wird. "Es
könnte eine Demokratie nach westlicher Art werden, so Gott will. Und
vielleicht wird es in etwa vier Jahren ein Regime der Schi'iten
geben." Auf jeden Fall, so sagt er, "müssen sich die IDF in der
Welle der Beseitigung der irakischen Bedrohung und wegen der
finanziellen Schwierigkeiten mit ihren Arbeitskräften auf sofortige
Änderungen einstellen." Der Generalstab diskutiert bereits über
Kürzungen in einigen Kampfeinheiten und über die Kündigungen von
Tausenden von Karrieresoldaten.
Harel war tief beeindruckt von den amerikanischen
Errungenschaften im Krieg. Doch er behauptet, dass keine davon die
IDF, die einen schnellen Feldzug im Irak erwartet hatte, beeindruckt
hätte. Er sagt, eine Lektion, die er bereit sei zu lernen, war
eigentlich schon vor dem Krieg im Irak eingeführt worden, und zwar
der Umgang der Amerikaner mit der Presse. Zu Beginn der Operation
"Schutzschild" war Harel einer derjenigen, die entschieden, die
Presse nicht am Vormarsch der IDF in palästinensische Städte
teilnehmen zu lassen.
"Inzwischen würde ich mehr Öffentlichkeit
erlauben", sagt er. "Während des Konflikts haben sowohl wir wie auch
die Medien hinzugelernt. Die enorme Komplexität des Kampffeldes ließ
uns den Medienaktivitäten zu dieser Zeit Grenzen setzen. Dies war
ein Fehler, der Israel zu einem großen Ausmaß den Sieg in der
Public-Relations-Kampagne -z. B. beim Kampf im Flüchtlingslager von
Dschenin- kostete. Rückwirkend betrachtet hätte ich mit jedem
Kampfbataillon auch ein Journalistenteam nach Dschenin geschickt",
sagt er.
Vor dem Krieg im Irak hatte das Hauptquartier der
IDF erwartet, dass der amerikanische Schritt eine beruhigende
Wirkung haben wird auf die Pläne der Hisbollah (unterstützt von
Syrien und dem Iran), ein Feuer an der nördlichen Grenze zu Israel
zu entfachen. Dies erwies sich als wahr. "Die nördliche Arena
verhält sich beherrscht, wenn auch nicht ganz ruhig. Dort gibt es
alle Elemente, die für eine Explosion nötig sind. Doch die
amerikanische Aktion setzte dem Topf einen Deckel auf. Angesichts
der neuen Regeln bewerten die Syrer ihre Situation von neuem. Nach
Afghanistan und dem Irak möchten sie keine Option für "Stufe 3" der
amerikanischen Bemühungen bieten. Als Nummer 3 fühlen sie sich sehr
ungemütlich. Doch dies ist nicht das Ende der nördlichen Odyssee.
Die Hisbollah hat immer noch das Bedürfnis, sich selbst in ihren
Aktionen gegen Israel auszudrücken. Sonst wäre sie nicht die
Hisbollah."
hagalil.com
25-04-2003 |