Israels
größtes Hospital und seine Ärzte ohne Grenzen: "Warum kann es nicht im
ganzen Land so sein wie hier im Krankenhaus?"
Infusionen für
die Zukunft
Ein
jüdisch-palästinensisches Team behandelt hier die Opfer beider Seiten
–Visite an einem seltenen Ort, wo Hass und Misstrauen Fremdworte sind
Von
Thorsten
Schmitz
Jerusalem, im Mai – Jeden Morgen
um halb acht gibt Doktor David Krieger, 53, seinen zwei Töchtern und
seiner Frau einen Kuss und macht sich auf den Weg in sein Krankenhaus.
Ab acht steht Doktor Krieger in der Notaufnahmestation des
Hadassah-Ein-Kerem-Hospitals, das Stethoskop um den Hals und
Patientenakten in der Hand. Fast jeden Tag ab viertel nach acht fragt
er, wo denn Doktor Tair bleibe.
Jeden Morgen um sechs schleicht
sich Doktor Abutir Tair, 30, auf Zehenspitzen aus seiner Wohnung in Beit
Sachur nahe Bethlehem und zieht die Tür leise hinter sich zu. Er will
seine Töchter und seine Frau nicht wecken. Doktor Tair wohnt genauso
weit weg wie sein Kollege, aber im Gegensatz zu Doktor Krieger macht es
ihm die politische Lage unmöglich, pünktlich zur Morgenvisite zu
erscheinen. Doktor Krieger ist Jude und schafft es lässig in 15 Minuten
bis zum Angestelltenparkplatz von Hadassah-Ein-Kerem. Doktor Tair ist
Palästinenser und kann sein Auto nicht benutzen, weil Israel sich vor
palästinensischen Nummernschildern fürchtet. Und obwohl sich Doktor Tair
jeden Morgen um halb sechs aus dem Bett schält, ist nicht sicher, dass
er zwei Stunden später im weißen Kittel zusammen mit Doktor Krieger
Patienten untersuchen kann. Zwischen seiner Wohnung und seinem
Arbeitsplatz liegen zwei israelische Kontrollpunkte und mindestens
zweimal muss er sich die Frage israelischer Soldaten gefallen lassen:
"Was wollen Sie in Israel?" Dass ein Palästinenser in einem jüdischen
Krankenhaus Röntgenbilder analysiert, Oberschenkelhalsbrüche
zusammenschraubt, Bombensplitter aus Lungenflügeln entfernt, ist für die
Soldaten an den Checkpoints so außergewöhnlich, dass sie Rücksprache
halten müssen mit Vorgesetzten und manchmal sogar auf dem Handy von
Doktor Krieger landen. Wenn Doktor Tair an solchen Tagen mit schlechter
Laune und zu spät in der Notaufnahme erscheint, ist niemand böse. Alle
haben Verständnis.
Rachel spricht Arabisch
Die Sprecherin des Krankenhauses
hatte uns vorgewarnt: "Hadassah ist kein Disneyland, sondern real. Wir
sind eine Insel des Friedens. Kommen Sie, und schauen Sie sich die
Zukunft an!" Die Zukunft in dem labyrinthisch angelegten größten
Krankenhaus Israels ist surreal: Palästinenserinnen mit Kopftüchern
sitzen in Warteräumen neben kippabedeckten Juden, die in handlichen
Ausgaben des Alten Testaments blättern. Jüdische Ärzte retten das Leben
von palästinensischen Terroristen, die von israelischen Soldaten
angeschossen worden sind oder sich bei einem Selbstmordanschlag verletzt
haben. Palästinensische Ärzte operieren schwer verwundete jüdische Opfer
von palästinensischen Selbstmordanschlägen. Jüdische Hebammen entbinden
palästinensische Frauen, palästinensische Geburtshelferinnen assistieren
beim Kaiserschnitt jüdischer Frauen. In Hadassah-Ein-Kerem retten
Palästinenser und jüdische Israelis Leben von Palästinensern und
jüdischen Israelis–und sie verhelfen Leben zur Welt. Sie arbeiten gegen
die grausame Statistik an, die seit dem Beginn der jüngsten Intifada
über 1400 palästinensische und über 400 jüdische Tote verzeichnet.
Nirgendwo sonst in Israel stehen Juden und Palästinenser so nah
beieinander, mit Stethoskopen bewaffnet, Schulter an Schulter. Nirgendwo
sonst sind Hass und Misstrauen Vokabeln von einem anderen Planeten.
Die Ursachen der Intifada sind
auf den Fluren, in den Krankenzimmern, in der Notaufnahme ganz weit
weg–ihre Resultate dagegen liegen auf OP- Tischen und hängen an
Infusionsschläuchen. Erst letzte Woche operierte Doktor Krieger den
20-jährigen Thaer Manasra, der aus dem palästinensischen
Flüchtlingslager Daheische nahe Bethlehem stammt. Manasra harrte zwei
Wochen in der Geburtskirche von Bethlehem aus, zusammen mit bewaffneten
Palästinensern und Geistlichen. Er sei vor den israelischen Truppen in
die Kirche geflüchtet, "ohne viel zu überlegen". Tagsüber, erzählt
Manasra der jüdischen Krankenschwester Rachel, die Arabisch spricht und
übersetzt, habe man geschlafen, nachts sei geschossen worden. Weil ihm
"langweilig" gewesen sei und er Hunger gehabt habe, sei er aus einem
Kirchenfenster geklettert. Israelische Soldaten schossen ihm ins Bein,
die Kugeln entfernten ihm Juden. Die kannte Thaer Manasra bis dahin nur
in grünen Uniformen und nicht in weißen Kitteln. Einer war Doktor David
Krieger. Jetzt liegt Thaer Manasra in einem Zimmer zusammen mit
jüdischen Patienten, man hat ihm Handschellen angelegt, damit er nicht
fliehen kann, aber der Soldat, der ihn rund um die Uhr bewacht, sagt:
"Das ist ein kleiner Fisch." Der Soldat schaut im Fernsehen Fußball,
Thaer Manasra langweilt sich den ganzen Tag. Denkt an seine Freundin, an
die Eltern, an die neun Geschwister, an seine Autowerkstatt. Er ist zum
ersten Mal in seinem Leben in Israel–und findet das gar nicht mal so
schlecht: "Das Essen schmeckt." Und er hat eine Entdeckung gemacht:
Einer der Soldaten, die ihn bewachen, hat auf seinem Walkman Zahava Ben
gehört, eine der populärsten Popsängerinnen Israels. "Wenn ich hier
rauskomme", sagt Thaer Manasra, "kaufe ich mir ihre CD." Seine Operation
wird der Staat Israel finanzieren, Thaer Manasra hat keine
Krankenversicherung.
Doktor Krieger sagt, es sei
mitunter "schizophren", in Hadassah-Ein- Kerem zu arbeiten. "Ich flicke
Palästinenser zusammen und bin gleichzeitig voller Trauer im privaten
Leben wegen der Palästinenser." Die Cousine von Doktor Krieger aß im
August vergangenen Jahres eine Pizza im Schnellrestaurant "Sbarro" im
Zentrum Jerusalems, als sich ein Palästinenser in die Luft sprengte und
15 Menschen mit in den Tod riss. Ein Nagel durchtrennte die Herzarterie
der Cousine, sie verlor viel Blut und ihr Gehirn war für mehrere Minuten
nicht mit Sauerstoff versorgt. Sie wird nie wieder aus ihrem Koma
erwachen. Am Tag danach operierte Doktor Krieger einen Palästinenser,
der zwei jüdische Siedler erschossen hatte und von israelischen Soldaten
angeschossen worden war. "Als Doktor lege ich meine Gefühle ab und meine
Gedanken. Wenn ich einen palästinensischen Terroristen behandele, sehe
ich nur seine Wunden, nicht die Möglichkeit, dass er auch mich hätte
töten können." Wer das auf den Hügeln vor Jerusalem gelegene weitläufige
Areal betritt, lässt Herkunft und Ansichten hinter sich, das Krankenhaus
macht alle Patienten und Ärzte gleich.
Der arabisch-israelische Doktor
Achmed Eid ist Spezialist für Lebertransplantationen und hat schon
mehreren Juden das Leben gerettet. Sie schreiben ihm noch heute. In der
Kantine schwärmt er vom jüdisch-arabischen Ärzte-Kollektiv als
"Dream-Team im Heiligen Land". Doktor George Backleh, ein christlicher
Palästinenser aus Ost-Jerusalem, ist Assistenzarzt in der HNO- Abteilung
und wird als einziger Arabisch Sprechender auf der Station oft zum
Übersetzen gebraucht. Viele jüdische Patienten, sagt er voller Stolz
kurz vor der Mandeloperation an einer israelischen Soldatin, "bestehen
darauf, nur von mir behandelt zu werden".
Der jüdische Kinderfacharzt
Menachem Bitan erzählt, auf seiner Station liege ein siebenjähriger
jüdischer Junge zusammen mit einem gleichaltrigen Palästinenser. Der
Körper des jüdischen Jungen sei durch einen palästinensischen
Selbstmordanschlag völlig verbrannt, der palästinensische Junge litte an
einem schweren Herzklappenfehler. Die Familien der beiden Jungen treffen
sich jeden Tag, reden, bringen sich etwas zu essen mit, die Väter
rauchen Zigaretten auf dem Krankenhausbalkon.
Die Harmonie zwischen den Männern
und Frauen in Weiß birgt manchmal Dissonanzen. Doktor Krieger und Doktor
Tair stehen im Aufenthaltsraum der Notaufnahme, schlürfen heißen Kaffee
aus dem Automaten und müssen begreifen, dass die rosige Zukunft im
1000-Betten-Komplex Hadassah-Ein- Kerem der hässlichen Gegenwart in
Israel nicht immer standhält. Heute Morgen ist Doktor Tair eine halbe
Stunde zu spät gekommen, "und weißt du, warum? Ich musste meine Jacke
ablegen und mein T-Shirt hochziehen!". Die Soldaten am Checkpoint
wollten sehen, dass Doktor Tair sich keinen Bombengürtel um den Bauch
geschnallt hatte. "Ich fühle mich gedemütigt!" Doktor Krieger hört
seinem Kollegen zu, nippt am Kaffee, sucht nach Worten. "Ich schäme
mich, dass dir das passiert, aber wir Israelis haben Angst vor
Selbstmordattentaten. Wir müssen uns doch schützen."
Und Doktor Krieger erzählt die
Geschichte von Salah Othman, einem Terroristen der radikal-islamischen
Hamas-Organisation. Vor ein paar Jahren attackierte Othman einen
öffentlichen Bus in Jerusalem und tötete zwei israelische Passagiere.
Polizisten verfolgten den Palästinenser und schossen ihn in den Kopf.
Othman wurde gehirntot in die Notaufnahme von Hadassah-Ein- Kerem
eingeliefert und als hoffnungsloser Fall klassifiziert. Nach mehreren
kostspieligen Monaten entließ ihn die Klinik nach Hause, in das
Flüchtlingslager Dschabalja im Gaza-Streifen. Dort erholte Othman sich
wundersamerweise von seinen Kopfverletzungen und widersetzte sich
Aufforderungen Israels, sich einem Gerichtsverfahren zu stellen. Seit
mehreren Monaten hetzt Othman gegen Israel und fordert in Interviews zu
Selbstmordanschlägen auf. "Es war unsere Pflicht, Othman zu behandeln.
Auch wenn es im Nachhinein schmerzt", sagt Doktor Krieger.
Die grausame Realität macht auch
vor den Ärzten nicht Halt. Im Februar erschossen palästinensische
Terroristen der Al-Aksa-Brigaden den Blutkrebsspezialisten Schmuel
Gillis von Hadassah-Ein-Kerem. Gillis war auf dem Weg nach Hause, als
ihn die tödliche Kugel in den Kopf traf. Weil unter Palästinensern
besonders häufig Formen der Leukämie anzutreffen sind, waren viele
Patienten von Gillis Araber–viele wohnten seiner Beerdigung bei. Doktor
Tair sagt, in den letzten Monaten seien die Gespräche zwischen jüdischen
und palästinensischen Ärzten und Krankenschwestern weniger geworden.
"Die Situation lastet auf uns allen, und jeder ist irgendwie betroffen.
Aber wir wollen uns nicht davon abhalten lassen, zusammenzuarbeiten und
zu zeigen, dass Koexistenz möglich ist. Ja, ich bin ein Palästinenser,
das ist mein Volk. Es macht mich wütend, wenn ich kontrolliert werde und
mein T-Shirt hochziehen muss. Aber es gibt keine Entschuldigung für das
Töten. Es ist Wahnsinn." Doktor Krieger gibt seinem Kollegen Recht: "Wir
haben ja gar keine Zeit zu trauern. In Amerika konnte die ganze Nation
ordentlich Abschied nehmen von 3000 Menschen, hier wird ja jede Stunde
jemand getötet oder verletzt."
Frau Weiss hat tote Augen
Doktor Tair geht nach einer
Patientin schauen, die er mehrfach mit operiert hat: Gila Weiss. Die 31
Jahre alte Buchhalterin aus Jerusalem liegt in ihrem Bett und
telefoniert. Als sie Doktor Tair kommen hört, legt sie den Hörer auf.
Sehen kann sie ihn kaum. Gila Weiss stand vor drei Wochen an einem
Freitagnachmittag an einer Busstation nahe dem Obst- und Gemüsemarkt
Mechane Jehuda, als sich eine Palästinenserin neben ihr in die Luft
sprengte. Die Wucht riss Weiss zu Boden, daran kann sie sich erinnern,
und daran, dass sie ihre Zähne nicht mehr spürte "und dass etwas mit
meinen Augen nicht in Ordnung war". Der Rettungssanitäter sprach im
Wagen auf Weiss ein, sie solle reden und das Bewusstsein nicht
verlieren. Sie bat darum, dass jemand ihre Tasche mitnehme: "Da sind
meine Schlüssel drin, ich muss doch in meine Wohnung kommen." Als sie in
Hadassah-Ein-Kerem eingeliefert wurde, hatte unter anderen Abutir Tair
Dienst. In mehreren Operationen versorgten die Ärzte die Kopfwunden,
entfernten Metallsplitter aus den beiden Augen von Gila Weiss, nähten an
Armen und Beinen klaffende Wunden wieder zu. Ihre rechte Gesichtshälfte
ist noch gelähmt, Nerven sind durchtrennt, Wimpern verbrannt worden. Sie
hört ein Klingeln in den Ohren, das, sagen die Ärzte, mit der Zeit
verschwinden könne.
Jetzt sitzt Gila Weiss mit weit
aufgerissenen Augen und im Pyjama auf ihrem Bett, hinter ihr schwebt ein
bunter Luftballon vom Vater. Wenn sie mit Doktor Tair redet, sieht sie
ihn nicht. Der Augenspezialist hat ihr gesagt, vielleicht werde sie auf
dem einen Auge mehr sehen als die zehn Prozent jetzt. Das andere bleibe
blind. Ihr Körper ist übersäht mit roten Punkten, die ihr die
Metallsplitter und Nägel aus der Bombe zugefügt haben. Gila Weiss weiß
nicht, "was jetzt aus mir werden soll, ich brauche doch meine Augen für
die Buchhaltung". Aber sie sei "froh, dass ich am Leben bin". Und dass
es Menschen wie Abutir Tair gebe: "Sie haben mir mein Leben gerettet",
sagt sie. Tränen laufen ihr aus den Augen, und wir wissen nicht, ob das
an der Heilsalbe liegt oder daran, weil sie trauert, dass sie uns fast
nicht sehen kann. Sie verspüre keinen Hass auf Palästinenser, auch nicht
auf die Attentäterin. Sie wolle nur "Frieden", sagt Gila Weiss. Warum,
fragt sie, "kann es nicht im ganzen Land so sein wie hier im
Krankenhaus?". Ein Foto möchte sie von sich nicht machen lassen: "Ich
habe mir einen Rest an Eitelkeit bewahrt."
"Keine Zeit zu trauern"–Doktor
David Krieger (Bild oben, rechts) ist Israeli, Doktor Abutir Tair
Palästinenser. Thaer Manasra (links) wurde von israelischen Soldaten
angeschossen, als er Bethlehems Geburtskirche verlassen wollte. Jetzt
liegt er mit Handschellen in einem Bett des Jerusalemer
Hadassah-Ein-Kerem-Hospitals.
haGalil onLine 04-05-2002 |