
Mein Wochenbuch
David Grossman, Libération 21.10.01, in Auszügen
"Samstag.
Schutzraum aufräumen.
Der Samstag ist eine wunderbare Gelegenheit, unseren Schutzraum
aufzuräumen. Wir versuchen, das Gerümpel fortzuschaffen, das sich seit
dem letzten Mal, an dem wir einen Krieg befürchteten (vor einem Jahr mit
Beginn dieser Intifada), hier aufgetürmt hat.
Meine Tochter stellt die Liste der Freundinnen auf, die sie zu ihrem
Geburtstag einladen will. Wichtige Frage: soll sie Tali einladen, welche
sie selbst zu ihrem Geburtstag nicht eingeladen hat? Wir erörtern das
Problem mit dem angemessenen Ernst, um einen Schein von Routine zu
gewähren. Zugleich schwebt in der Luft die Frage: wo werden wir nächsten
Monat sein?
Wir wissen, daß unser Leben nicht mehr das sein wird, was es vor dem
11.September gewesen ist. Der Zusammensturz der Twin Towers in New York
hat einen tiefen Riss in die vergangene Wirklichkeit geschlagen (...)
Sonntag
Schreiben eine Frau
... Ich schreibe derzeit eine Geschichte zwischen einem Mann und einer
Frau... Beinah Mitternacht. Es ist rührend und ermutigend, dank einer
Erzählung, der Dunkelheit zu entkommen, welche über meine Existenz in
dieser katastrophischen Region lastet.
Montag
Erschreckende Metapher
Wieder lese ich in der europäischen Presse Feindseligkeit gegenüber
Israel, die sogar soweit geht, daß es für die letzten Ereignisse
schuldig gesprochen wird. Mit welcher Begeisterung einige sich Israel
als Sündenbock bedienen. Als wäre dieses Land die einzige, einfache
Ursache, welche den Terrorismus und den Hass, die heute der Westen
erfährt, "rechtfertigt". Israel wurde nicht aufgefordert, sich der
Anti-Terror Koalition anzuschließen, im Unterschied zu Syrien und Iran
(!).
Diese Umstände und weitere (die Durban Konferenz und deren Haltung zu
Israel, die islamische rassistische Propaganda gegen Israel) erschüttern
die Selbstwahrnehmung der Israelis: die Mehrheit glaubte, dass sie mehr
oder weniger der Tragik der jüdischen Situation entkommen wäre;
plötzlich fühlen sie, wie diese Tragik sich ihnen aufdrängt. Plötzlich
fühlen sie, wie entfernt sie von dem "gelobten Land" sind, wie
verbreitet noch die Stereotypen gegen "den Juden" und der Antisemitismus
sind, der allzu oft die Maske eines extremistischen Anti-Israelismus
nimmt (der selbstredend "legitim" wäre).
Meine Kritik an die Führung meines Landes ist gewaltig, dennoch, im
Laufe der letzten Wochen fühle ich, dass die Abneigung gegen mein Land
in einigen Medien nicht allein die Haltung der Sharon Regierung zu
Grunde hat. Jeder fühlt es in sich, tief, gewissermaßen unter der Haut;
eine Art Schauer durchzieht mich bis zu den Tiefen meines
zurückliegendsten Gedächtnisses, zu den Zeiten, zu denen der Jude nicht
als Mensch, aus Fleisch und Blut, sondern als Metapher betrachtet wurde.
"Sie behaupten
also, sagte gestern abend ein BBC Journalist zu seinem arabischen
Gesprächspartner, "Israel ist die Ursache für das Unglück, das
die Welt vergiftet. Liebe Zuschauer, guten Abend."
(...) Mittwoch
haHavrutah
Um 7 Uhr 30 meldet das Radio das Attentat gegen Rehawam Zeevi... Ich
war nie mit seiner Politik einverstanden, aber diese terroristische Tat
ist entsetzlich und ohne Rechfertigung. Das denke ich auch, wenn Israel
palästinensische Politiker umbringt.
(...) Dennoch habe ich gestern einen Augenblick geringfügiger, intimer
Gnade erfahren, wie jeden Dienstag habe ich meine havruta
versammelt. Mit einer Freundin und einem Freund studiere ich die Bibel,
den Talmud und auch Kafka oder Agnon. Die havruta ist eine
typische alte jüdische "Institution": ein Kreis zum gemeinsames Studium
und zur intellektueller Spekulation mittels Debatte wenn nicht gar
Kontroverse. (...) Ich, der "Laizist" unter den drei, unterhalte mit
ihnen einen zehnjährigen, alten, reichhaltigen, bewegenden und
anregenden Dialog. Ich schließe mich damit einer jahrtausendalten Kette
von jüdischen Denkern und Schöpfern an (...) Trotz dem Gefühl von
Hilflosigkeit und Not, das uns erdrückt, spüre ich plötzlich, dass ich
zu einem Ort gehöre, Teil von etwas bin.
Donnerstag
Alles ist zerstört. Zahal dringt in Ramallah ein. Sechs Palästinenser
tot, darunter ein zehnjähriges Kind und ein Fatah-Führer, verantwortlich
für den Tod mehrerer Israelis. Ein israelischer Bürger erschossen (...)
Ich rufe einen derjenigen, mit denen ich in solchen Augenblicken meine
Hilflosigkeit teilen kanan: Ahmad Harb, palästinensischer Schriftsteller
in Ramallah. Mein Freund.
Er beschreibt mir die Schüsse, die er hört. Erzählt mir vom Optimismus,
der bis vorgestern unter den Palästinensern herrschte, vor Zeevis
Ermordung. "Du siehst, wie die Extremisten auf beiden Seiten
miteinander kollaborieren und wie erfolgreich sie sind", sagt er.(...)
Ich frage meinen Freund, ob ich etwas für ihn tun kann. Er lacht: "Wir
wollen uns nur bewegen. In Bewegung sein. Aus der Stadt rausgehen
und wieder zurückkommen."
Freitag
Die Woche geht zu Ende. Die Ereignisse sind derart schwerwiegend
gewesen, dass mir nicht gelang über anderes, was mir wichtig und teuer
ist, zu schreiben: über meinen Sohn, der ein surrealistisches Stück für
das Schultheater schreibt, über das Fußballspiel, das wir gemeinsam im
Fernsehen zwischen Manchester United und Deportivo La Coruna verfolgt
haben, über meine Tochter, die ein wissenschaftliches Essai über ihren
Papagei vorbereitet, über meinen ältesten Sohn, der seinen Militärdienst
macht, um den ich unentwegt zittere; und auch über unser
fünfundzwanzigjähriges Hochzeitsjubiläum, das diese Woche war und wir
mit großer Besorgnis gefeiert haben: werden wir den verwundbaren und
anfälligen Rahmen unserer Familie in den nächsten Jahren bewahren
können?
Kostbare, private Augenblicke, welche Angst und Gewalt fortgefegt
haben. Soviel schöpferische, intellektuelle, phantasievolle Kraft, die
sich dem Töten und Zerstören widmet (oder dem Schutz vor Mord oder
Zerstörung)."
haGalil onLine
21-10-2001 |