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Jüdische Weisheit
Hymne - Israel
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Das Ritual der Gewalt
durchbrechen

Von David Grossman / 16.Mai 01, aus Libération
Briser le rituel de la violence

Das größte Übel, was die Israelis trifft, ist, daß sie sich gewöhnt haben. Daran gewöhnt, gleich nach dem Aufstehen, von einem neuen Anschlag, von Toten und Verletzten zu hören. An die Medienclichés gewöhnt haben. Sie sind derart gewöhnt, daß ihre Gefühle zuweilen nur noch Clichés sind, ähnlich den Schlagzeilen dieser oder jener Tageszeitung: "Verzweiflung und Wut" oder "Angst und Haß".

Ihre Situation scheint derart ausweglos, daß man zuweilen nicht wagt, anderes als diese Clichés zu denken, aus Furcht, man könnte bei sich noch gefährlichere Emotionen entdecken...

Die Mehrheit der Israelis glaubt nunmehr, der Friedensprozeß sei endgültig gestorben. Schlimmer noch, die meisten meinen, er sei von Beginn an nichts als vergebliche Illusion gewesen; sie verstehen nicht, wie die Linke und die Barak-Regierung sie hat "blenden" können, sie derart "täuschen" konnte, daß sie tatsächlich glaubten, die Palästinenser seien "Partner", die auf die Zerstörung Israels verzichtet hätten...

Israel ist in einer Art Apathie eingetaucht. Das Alltagsleben entfaltet sich dort in seiner typischen Mischung von Vitalität und Nervosität. Doch jeder, der hier seit immer lebt, weiß: alles ist von einer sonderbaren und deprimierenden Verwirrung durchtränkt. Erneut schließt sich Israel in seiner gefährlichsten Haltung ein: die des Opfers, des verfolgten Juden. Beinah jede Drohung, selbst seitens der Palästinenser, die keinerlei Aussicht haben, Israel zu besiegen, wird als existentielle Drohung wahrgenommen, die immer heftigere Repressalien rechtfertigt.

Der Krieg wütet beinah überall in Israel (beim Schreiben dieser Zeilen höre ich Schußwechsel, die aus Südjerusalem und Beit Jalah kommen). Dennoch scheint der Durchschnitts Israeli sich von dem, was ihn umgibt, loslösen zu können und auf sonderbarer Weise es beinah auszublenden. Jahrzehnte von Krieg und Ängsten haben ihn geprägt. Sobald er morgens ein Auge öffnet, ahnt der Bürger, daß heute hier oder dort ein Israeli angegriffen sein wird; er weiß, daß heute sein Leben auf die bitterste Weise eine Wende erfahren kann. Er wird jedoch darüber kaum weiter nachdenken. Er wird auch nicht daran denken, was die Palästinenser erfahren werden, (sowieso, meint der Israeli, ist alles ihre Schuld: wir haben ihnen alles angeboten und nun antworten sie mit Lynchen und Anschlägen...).

Er hat sich daran gewöhnt, einige Einkaufszentren nicht mehr zu besuchen, einige Straßen, wo Anschläge bereits stattgefunden haben, nicht mehr zu benutzen. Er wird darauf verzichten in den ihm so lieben Landschaften spazieren zu gehen. Er kauert sich ein wenig zusammen, mehr nicht. Er hat festgestellt, daß die Stadtzentren leer und traurig wirken. Daß auf den Straßen kaum Touristen sind, es hingegen gelegentlich mehr Soldaten und Polizisten als Bürger gibt. Abends, bei den Fernsehnachrichten, nach dem Bericht über die Beerdigungen des Tages, in Tel Aviv wie in Gaza, flüstert eine zarte Stimme in ihm: "Welches Glück, daß nicht mir das passiert ist!"

Vor genau drei Monaten, im Februar 2001, bei den Verhandlungen von Taba, war ein Abkommen in Reichweite. Heute wirkt diese Episode wie die kurzfristige und trügerische Besserung im Verlauf einer unheilbaren Krankheit. Die Palästinenser sagen, sie werden die Gewalt erst "bei definitiver Beendigung der Besetzung" aufkündigen. Israel seinerseits verkündet, es werde "vor der definitiven Beendigung der Gewalt" keine Verhandlungen einleiten. Jede Partei weiß, daß dieses Ultimatum – wenngleich es vom moralischen Standpunkt aus gerecht sein kann – unrealistisch ist. Außerdem bleiben beide Parteien, durch das Beharren auf ihre Forderungen, Gefangene eines Bannkreises von Gewalt: sowohl die Besetzung wird weiter stattfinden - und auch die Gewalt wird nicht enden (im Gegenteil!). Trotzdem, wie in einer Art Verblendung, versucht niemand , diesem Alptraum zu entkommen.

Gibt es keine Hoffnung mehr, kehren Israelis und Palästinenser zu ihren uralten Erfahrungen zurück: das Blut der einen und der anderen vergießen. Die Palästinenser erklären vor Mikrophonen und Kameras, ihnen sei unerheblich ob Unordnung die Welt beherrsche, "das Wesentliche (sei), daß die Israelis das erleiden, was wir erleiden." Die Israelis ihrerseits fordern von Sharon, daß er "immer mehr palästinensische Dörfer von der Karte löscht" und glauben wahrscheinlich, so würden die Palästinenser nachgeben und einen Kompromiß mit Israel annehmen.

Palästinensische Vertreter, die in der Vertraulichkeit ihrer Diskussionen mit Israelis Arafat und den Terrorismus der Selbstmordkommandos scharf kritisieren, schließen sich, sobald sie öffentlich reden, den Extremistischsten unter ihnen an. Die Stimme der israelischen Linke ist beinah verstummt; zahlreiche ihrer Mitglieder sind zur Rechten "übergelaufen", andere erfahren keinerlei Echo auf ihren Reden. Welchen Einfluß können Ideen und Wörter haben angesichts einer brutalen Wirklichkeit, die an unsere Existenz nagt und die die Hoffnung gleich einer Säure zersetzt? 

Anstelle eines "Friedens der Gerechten" geben sich beide Völker einer blutrünstigen Buchhaltung hin: du hast einen von mir getötet, ich töte einen von dir... Ohne sich dessen gewahr zu werden, regredieren Palästinenser und Israelis zu einem antiken Stammeskrieg zurück, Auge um Auge, Blut um Blut.

Dieses grausame Ritual weckt die Befürchtung, beide Völker könnten diese blutige Arithmetik der grundlegenden Lösung des Problems bevorzugen. Auf den zweiten Blick, ist diese Haltung verständlich (vor allem für die, die hier in der Region leben). Beckett schreibt in Warten auf Godot: "Sie entbinden rittlings auf einem Grab...". Und im Nahen Osten ist diese Beschreibung von erschreckender Wahrheit. Wir alle, Israelis und Palästinenser, sind für diesen Konflikt geboren, für viele hat sich unsere Identität in Begriffen von Feindseligkeit und Angst, Überleben und Tod herausgebildet. Israelis wie Palästinenser verfügen ohne diesen Konflikt und ohne den "Feind", dessen Vorhandensein zur Identität und Einheit jedes einzelnen unter uns notwendig (vielleicht lebensnotwendig) ist, über keine Identität.

Beim Hören der Reden von israelischen und palästinensischen Politiker erstarrt man vor Schrecken angesichts ihrer Freude, ihrer bösen Freude, wenn sich ihre düstersten Prophezeiungen verwirklichen, vor allem wenn sie auf das Konto der eigenen Unzulänglichkeiten zurückgehen.

Nicht minder entsetzlich ist die Begeisterung mit welcher, in Israel wie in Palästina, diese infernalischen Visionen übernommen werden.

Nun ist die Wahrheit überdeutlich: lehnt Israel die Aufnahme von Verhandlungen bevor der Terrorismus "definitiv ausgemerzt" ist, ab - wie Sharon es will, wird Israel nie Frieden erfahren und im Gegenteil die Fortsetzung diesen Terrors unterhalten. 
Lehnen die Palästinenser das Ende der Gewalt, "solange die Besetzung weitergeht" ab, dann werden sie nie den Frieden haben und die Besetzung wird fortgeführt werden.

Daher wird allein ein Wunder oder eine Katastrophe die Situation ändern. Für die, die an Ersteres nicht glauben und das Zweite befürchten, ist die einzige realistische Chance, Israel und die Palästinenser vor einem gegenseitigen Massaker zu retten, auf sie internationalen Druck auszuüben. Die Pflicht, bedeutsame Kompromisse zu schließen, fällt Israel zu - als dem Mächtigeren und Besatzer. 
Aber beide Seiten müssen ihre exaltierte Rhetorik aufgeben und die Gewalt reduzieren. Eine andere, schwächere Hoffnung ist, dass Israelis und Palästinenser bereit sind, einen öffentlichen Dialog neu aufzunehmen. Kein einfaches Unternehmen - und
auch hier ist die Intervention von Dritten nötig. 

Solche Kontakte aber wären von extremer Bedeutung, denn, über das Symbolische hinaus, würden sie beide Völker an das erinnern, was sie nicht zu hoffen oder zu bedauern wagen. Es wäre heute die einzige Option - gegen Hass und Verzweiflung.

David Grossman wurde 1954 in Jerusalem geboren und gehört zu den bedeutendsten Erzählern der israelischen Gegenwartsliteratur. Er schreibt für Erwachsene und Kinder. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Die meisten seiner Bücher sind im Hanser Verlag erschienen. Im Hanser Kinderbuch gibt es z.B. den Jugendroman "Zickzackkind" und das Vorlesebuch "Joram und der Zauberhut".

  • Der geteilte Israeli
    Über den Zwang, den Nachbarn nicht zu verstehen
    Ein Fünftel der Israelis sind Palästinenser. In den Augen der Juden sind diese Israelis Araber, in den Augen der Palästinenser Israelis - das Dilemma der arabischen Israelis könnte kaum größer sein. David Grossmans mutige Reportagen aus dem israelischen Alltag machen begreiflich, warum das Zusammenleben von Juden und Arabern in Israel so schwierig geworden ist und wo Chancen einer Annäherung liegen könnten.

  • Das Bibel Projekt
    Das zweite Buch Mose, genannt Exodus
    David Grossman, 1954 in Jerusalem geboren, ein dezidierter Verfechter einer friedlichen Lösung des Nahostkonflikts, gehört wegen seiner differenzierten politischen Haltung und ungewöhnlichen Erzählphantasie zu den herausragenden Schriftstellern der jüngeren Generation.

  • Eine offene Rechnung
    Regelmäßig besucht David den alten Herrn Rosental im Seniorenheim. Bei einem seiner Besuche wird Rosental von einem Mann namens Schwarz bedroht. Dieser will sich mit dem alten Herrn duellieren, weil der ihm angeblich ein Bild gestohlen hat.Gemeinsam mit dem Mädchen Ann versucht David, das Duell zwischen Schwarz und Rosental zu verhindern.Ich war zwölf Jahre alt, als sich diese Ereignisse zutrugen. Heute bin ich achtundzwanzig, und noch immer erinnere ich mich an mein Herzklopfen, als ich die näher kommenden Schritte des Kraftprotzes von der medizinischen Fakultät in Heidelberg hörte.
    Ich sagte schon, dass ich allein war, das heißt da unter dem Bett. Auf dem Bett nämlich saß Herr Rosental - Heinrich Rosental, siebzig Jahre alt, klein gewachsen und mit einer weißen Haarmähne. Aber unter dem Bett war ich sehr allein. Und ich erinnere mich, dass ich in diesen Sekunden der Einsamkeit und des Wartens noch dachte, dass meine Mutter vielleicht Recht hatte. Vielleicht war es wirklich nicht gut, dass ich keine Freunde hatte und immer allein oder in der Gesellschaft von allen möglichen seltsamen Freunden wie Rosental war. Meine Eltern waren etwas beunruhigt darüber, dass ich weder zu den Pfadfindern noch zu einer anderen Jugendgruppe ging und fast nie an den Klassenabenden teilnahm. Ich hingegen war nur wegen ihrer Sorgen besorgt, denn mit mir selber kam ich gut zurecht. Auch die Leute aus meiner Klasse hatten schon aufgehört, mich zu drängen, ich solle an ihren Aktivitäten teilnehmen -vielleicht, weil sie die Nase voll hatten, vielleicht auch nur, weil es ihnen egal war, ob ich kam oder nicht.
    Damit kam ich, wie man so sagt, zurecht. Aber wenn mein Vater am Abend ins Zimmer kam, sich neben mich aufs Bett setzte, mich betrachtete und nichts sagte -das hielt ich schlecht aus. Sogar noch schlechter als die lautstarken Kräche mit meiner Mutter, die mich anschrie und sagte, dass ich mich manchmal wie ein alter Mann verhielte, nicht wie ein Junge mit zwölf. Aber meine Mutter kannte Herrn Rosental nicht. In dessen Pass stand zwar, dass er im Jahre 1896 geboren war, aber er war energisch und lebhaft wie ein Zwanzigjähriger und behauptete, mit siebzig fange das richtige Leben erst an.
    Herrn Rosental lernte ich am Anfang des Schuljahres kennen. Unsere Lehrerin teilte uns in "Freiwillige Hilfsgruppen" ein, und unter den Aktivitäten, die sie vorschlug, gab es auch die Möglichkeit, sich um einen alten Menschen zu kümmern und ihm behilflich zu sein.
    Als meine Mutter hörte, dass ich mir aus der Fülle der Angebote an freiwilligen Hilfeleistungen ausgerechnet die "Adoption" eines alten Menschen ausgesucht hatte und ihm zweimal in der Woche Gesellschaft leisten sollte, sagte sie nur: "Und was?" Ihr, die ihr sie noch nicht kennt, müsst verstehen, dass dieses "Und was?" nur die Abkürzung des folgenden Satzes war: "Und was habt ihr gedacht? Statt dass er sich Freunde in seinem Alter sucht, statt dass er Fußball spielt und Sport treibt, statt dass er seine Bücher und sein blödes Kaninchen mal sein lässt, nein, statt alledem geht er hin und sucht sich einen Freund von siebzig Jahren. Und ich bin sicher, dass er das nur tut, um mich zu ärgern." Das ist die volle, ungekürzte und unveränderte Bedeutung dieses "Und was?" meiner Mutter. Ihr müsst zugeben, dass es viel sparsamer ist, einfach "Und was?" zu sagen, statt eine ganze Rede zu halten. Aber es half ihr nichts, ich schloss mich der Gruppe von drei weiteren Schülern an, und wir fuhren zum Altersheim, das man auch "Seniorenheim" nennt und das sich in Beit-Hakerem in Jerusalem befindet.
    Dazu möchte ich etwas sagen.
    Ich weiß, dass es Kinder und Jugendliche gibt, die alte Leute nicht leiden können. Die sagen, dass alte Leute manchmal unangenehm riechen, oder dass ihre Gesichter voller Falten sind, oder dass sie einem einfach auf die Nerven gehen, weil sie so langsam sind. Man kann das aber auch so sehen: Es gibt solche vernachlässigten alten Leute, aber doch nur deshalb, weil jemand sie vernachlässigt. Weil keiner für sie sorgt und sie liebt. Das ist ganz einfach, wie eine Grundregel in der Grammatik: Wenn man jemanden verlässt, ist er verlassen. So ist das.
    Diese Dinge habe ich mir nicht selbst ausgedacht; ich hörte sie viele Male von den Leuten im Altersheim, wenn ich bei ihnen saß und mit ihnen redete, während ich auf Rosental wartete.

  • Zickzackkind

av / haGalil onLine 17-05-2001

 

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