
Sie brauchen Nerven
Vor sechs Jahren ermordete ein jüdischer Fanatiker
Jitzchak Rabin. Seither stockt der Friedensprozess. Und Israels
Gesellschaft ist so tief gespalten wie nie zuvor. Immer stärker gerät
sie in den Strudel der Gewalt - außen wie innen.
Charles A. Landsmann, PNN 03-11-01
Tel Aviv. Der nächste politische Mord
kommt bestimmt. Eher früher als später. Und auch er wird nicht der
letzte sein. Israel droht eine Furcht erregende Welle der Gewalt - nicht
nur von palästinensischer Seite, sondern von der eigenen radikalen
Rechten. Dies glaubt jedenfalls laut Umfragen eine deutliche Mehrheit
der Israelis. Und nicht nur das: Eine stark wachsende Zahl unter den
Bürgern befürwortet Gewalt gegen gemäßigte Politiker, falls diese
Siedlungen räumen lassen wollen.
Anderseits jedoch ist immer noch eine deutliche Mehrheit entschlossen,
mit den Palästinensern zu verhandeln und bereit, ihnen einen eigenen
Staat zuzugestehen. Noch nie war die israelische Gesellschaft so
gespalten, so verunsichert und in Widersprüche verwickelt wie jetzt,
nach 13 Monaten der Al-Aksa-Intifada: fast tägliche Anschläge in Israel
und Liquidierungen vor Terroristen in den Autonomiegebieten, der
Machtwechsel zurück zur Rechten, die erste Ermordung eines Ministers
durch Palästinenser, die Zersplitterung der Linken und ein gewaltiger
Rechtsrutsch der öffentlichen Meinung.
Israel war noch nie ein Land der sanften Töne, gepflegter Umgangsformen
oder vornehmer Zurückhaltung. Die politische Landschaft konnte nie in
Pastellfarben gemalt werden. Doch jetzt steht der jüdische Staat im
Banne der Gewalt, der rhetorischen der Politiker, der militärischen der
Armee und der ganz alltäglichen in der Gesellschaft. Es wird
rücksichtsloser Auto gefahren als bisher. Es gibt mehr Tote und
Verletzte auf den Straßen. Die Polizei registriert mehr Gewalt in den
Familien - mehr Morde an Ehepartnern, mehr Misshandlungen von Kindern
und eine Zunahme von Vergewaltigungen.
Dass dies etwas mit der Politik zu tun hat, wissen nicht nur
Psychologen, sondern ahnen auch die Politiker - zumindest wenn sie sich
in der Opposition befinden. Oppositionschef Yossi Sarid warnt seit
Jahrzehnten vor den verheerenden Rückwirkungen der Besatzungspolitik auf
Israels Gesellschaft und Staat. Seit über 34 Jahren hält Israel
palästinensische und syrische Gebiete besetzt. Der damit provozierte
gewaltsame Widerstand der Palästinenser und die eigenen
Vergeltungsschläge fachen die Gewalt immer wieder neu an.
Die Ermordung von Jitzchak Rabin vor sechs Jahren am 5. November 1995
durch den religiös-nationalistischen Extremisten Jigal Amir schien
zunächst einmal eine Trendwende in Bezug auf Gewalt einzuleiten. Die
Gesellschaft hielt inne und begann, über sich selbst nachzudenken. Doch
davon ist nichts geblieben. Stärker denn je ist das Leben von Gewalt
geprägt - jederzeit und überall im Lande spürbar. Dem mörderischen
Fanatismus der Islamisten auf palästinensischer Seite steht eine teils
abgestumpfte und apathische, teils aufgehetzte öffentliche Meinung in
Israel gegenüber. Gleichzeitig vollzieht sich eine rasant zunehmende
Gewaltbereitschaft auf Seiten jüdischer Bürger. Die Palästinenser werden
in der Darstellung der Medien zunehmend dehumanisiert. Ihre Opfer -
sofern sie nicht prominent sind und auf der Liquidierungsliste stehen -
tragen in den Medien keine Namen. Trauer wird ihnen nicht zugetraut. Und
dennoch: Trotz des unverhüllten Hasses ist immer noch eine Mehrheit - im
Gegensatz zur rechten Mehrheit in der Regierung - gewillt, mit ihnen zu
verhandeln und ihnen auch Zugeständnisse zu machen, natürlich möglichst
kleine.
"Wir wollen Verhandlungen, wir wollen Liquidierungen!" - so lautete die
exakte Überschrift über der Veröffentlichung einer repräsentativen
Meinungsumfrage im Massenblatt "Yedioth Ahronoth" nach der Ermordung von
Tourismusminister Zeewi. 62 Prozent waren für Liquidierungen führender
Palästinenser. 60 Prozent aber auch für die Räumung aller Siedlungen im
Gazastreifen sowie für einen Staat Palästina.
So widersprüchlich diese Ergebnisse, so erschreckend die Resultate einer
im Radio veröffentlichen Umfrage aus Anlass des Jahrestages der
Ermordung Rabins. 60 Prozent, also fast zwei Drittel der Bevölkerung,
glauben, dass der Rabin-Mord nur einen Anfang darstellte und ihm weitere
politische Morde durch jüdische Extremisten folgen werden. Nicht weniger
als 430 000 Israelis, zwölf Prozent der Bevölkerung, treten für eine
Begnadigung des Rabin Mörders Yigal Amir ein. Am stärksten drückt sich
der Rechtsruck der Gesellschaft in den Antworten zur Siedlungsräumung
aus: 30 Prozent der jüdischen Bevölkerung ist bereit, an gewaltsamen
Aktionen teilzunehmen, wenn es gilt, die Rückgabe von Siedlungen zu
verhindern.
haGalil onLine
04-11-2001 |