Selbstwahrnehmung als Opfer:
Der falsche Weg nach Westen
Israel mauert sich derzeit
selbst ein. Das zeugt von einer fatalen Ghettomentalität. Nur wenn
wir dieses Denken überwinden, hat der Frieden im Nahen Osten eine
Chance
Von Dan Bar-On
Bald werden wir eine Mauer haben, die uns von
unserer Umgebung abschottet. Die Mauer wird Selbstmordanschläge
verhindern und uns das ersehnte Gefühl der Sicherheit geben. Sie
wird auch für hunderttausende Palästinenser das Leben unerträglich
machen. Aber wer macht sich darüber Sorgen, wenn wir uns sicher
fühlen können?
Nachdem all das geschehen sein wird - der Traum
des durchschnittlichen israelischen Juden -, könnte es vielleicht
die richtige Zeit sein, ein wenig in uns zu blicken: Wer sind wir
und wer wollen wir sein? Weil wir es bisher nicht geschafft haben,
für uns die notwendigen stabilen Grenzen aufzubauen, scheint es ohne
den Bau der Mauer um uns kaum eine Chance zu geben, dass diese
Fragen die notwendige Aufmerksamkeit bekommen. Aber weil die Mauer
gebaut werden wird - zu einem astronomischen Preis in einer Phase
der wirtschaftlichen Krise -, wird vielleicht die Zeit kommen, in
der wir über uns selbst nachdenken können: Woher kamen wir und wohin
bewegen wir uns?
Unsere Vorfahren kamen hierher, weil sie Abstand
von der jüdischen Diaspora brauchten - körperlich und geistig.
Manchmal kamen sie aus Notwendigkeit, manchmal aus Glauben und
freier Entscheidung. Sie träumten davon, einen neuen Juden zu
erschaffen, im Gegensatz zum Juden der Diaspora, der für die
vergangenen Generationen charakteristisch war. Sie wollten eine
unabhängige Person, die ihren Lebensunterhalt unabhängig von einer
unterdrückenden Umwelt verdient und sich damit vom Juden des Ghettos
unterscheidet, der von einem Ort zum anderen wandert, vertrieben von
seinen Unterdrückern. Der Zionismus gedieh selbst unter den
liberaleren Juden, als an der Wende zum 20. Jahrhundert klar wurde,
dass man die Diaspora nicht hinter sich lassen kann, ohne die
Gastgeberländer körperlich zu verlassen. Die Dreyfus-Affäre und
später die Schoah zeigten das auf eine sehr grausame und
entscheidende Art.
Es scheint, dass Folgendes geschehen ist: Unsere
Eltern kamen hierher, trockneten die Sümpfe, bauten Kibbuze und
Städte, Schulen und Universitäten - ihre Sprache war Hebräisch. Sie
schufen einen Staat mit einer starken und modernen Armee, gut
entwickelter Landwirtschaft und Industrie, einem Justizsystem und
einer Kultur, auf die man stolz sein kann. Wenn all das passierte,
was ist dann falsch gelaufen? Warum kehren wir zur Ghettomentalität
zurück, vor der wir zu fliehen versuchten?
Liegt es nur daran, dass wir es versäumten
wahrzunehmen, dass hier bereits eine andere Gruppe Menschen lebte?
Menschen, die von der Art und Weise, wie wir sie dauerhaft ignoriert
haben, verletzt wurden, bis wir eine solche Stufe des blutigen
Konflikts erreicht hatten, dass wir jetzt eine Mauer bauen müssen,
die uns von ihnen trennt? Ich bezweifle, dass das alles allein die
Schuld der Araber und der Palästinenser ist. Mit ihnen, scheint es,
könnten wir andere Lösungen erreichen, als das Monster namens Mauer,
das unsere begrenzten Ressourcen auffressen wird.
Ich fürchte, das Problem liegt vielmehr in uns
selbst. Wir konnten die vergangenen hundert Jahre nicht besiegen und
uns nicht vom Diaspora-Denken befreien, das uns bis in den Nahen
Osten verfolgt hat. Bis zu einem bestimmten Grad schien es uns
gelungen zu sein, eine neue Art israelischer Jude zu schaffen: Den
"Sabra", so nannten wir ihn nach einer israelischen Stachelfrucht.
Nach außen strahlt er Stärke und Sicherheit aus, aber unter der
dünnen Schale kann man die Diaspora-Mentalität finden, die noch
immer ihren Anteil fordert.
Es ist der Jude, der immer verfolgt wird. Er lebt
in einem Teufelskreis, der immer wieder Situationen schafft, die
seine Selbstwahrnehmung als Opfer rechtfertigen. Das ewige Opfer
kann sich niemals selbst als Übeltäter sehen. Nur ihm wird Böses
angetan. Andere versuchen ihm zu schaden, und er muss immer auf der
Hut sein, nicht den Moment zu verpassen, in dem er sich selbst
retten kann.
Das Problem ist: Wir leben heute in einer Welt,
die dieses Diaspora-Denken zu rechtfertigen scheint. Nach dem 11.
September gewann in den USA fast eine ähnliche Stimmung die Oberhand
- und die Juden dort fanden Wege, diese Stimmung ebenso für "das
Wohlergehen Israels" auszubeuten. Wenn die Amerikaner könnten,
würden sie auch eine Mauer bauen, nachdem die Ozeane sie schon nicht
vor dem Bösen beschützen konnten.
Ebenso versuchen in Europa rechts gerichtete
Regierungen den wachsenden Strom an Immigranten aufzuhalten, der die
europäische Kultur bedroht. Selbst wenn die europäische Version der
Mauer weniger aggressiv ist als die amerikanische, versuchen beide
dem Niedergang des Westens zu begegnen. Ihn nämlich sieht man am
Horizont mit all den Ängsten und dem Schmerz, die dieses Wissen mit
sich bringt. Man kann versuchen, diesen Prozess durch Gewalt zu
verzögern (so machen es die USA) oder durch Dialog mit dem "Anderen"
(die europäische Version). Den Prozess aufhalten kann man aber nicht
- selbst nicht durch die Globalisierung, die die Kontrolle des
Westens über die Welt fortsetzen würde.
Dennoch passt die Mauer gut in den globalen
Prozess. Das Problem ist, dass wir in einem Nahen Osten leben, der
weniger aufgeklärt ist als Europa oder die USA. Unsere Mauer mag
nicht ihren ursprünglichen Zweck erfüllen, Sicherheit für uns zu
schaffen. Vielmehr könnte sie uns psychologisch von der
Notwendigkeit entfernen, mutig für unseren Platz in dieser
schwierigen Region zu kämpfen. Die Mauer könnte der Grundstein für
den Bau eines neuen, riesigen Ghettos werden - auch für uns, nicht
nur für die Palästinenser. Von hier aus kann man sich nur in eine
Richtung bewegen: nach Westen zum Meer. Es wäre gut, wenn wir damit
aufhören könnten und jetzt nachdenken, ob es wirklich das ist, was
wir wollen, bevor es zu spät ist.
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27-02-2004 |