Die Vorhersagen zu den Feiertagen:
Der Fluch des Durchschnittsjahres
Kommentar von Yoel Marcus, Ha'aretz, 26.09.2003
Übersetzung Daniela Marcus
Zum jüdischen Neujahrsfest etwas festliches und
optimistisches zu schreiben ist nicht leicht. Erstens, weil den
Problemen die Feiertage egal sind. Und zweitens, weil eine Menge von
dem, was im vergangenen Jahrzehnt zu den Feiertagen geschrieben oder
gesendet wurde, schon bald wieder verwässert war.
Wir hatten bereits "das Jahr der Taube", "das Jahr
des Pfaus", "das Jahr des Navigators" (in Yitzchak Rabin's Worten
hieß es "Ich werde derjenige sein, der navigiert"), "das Jahr der
Seifenblase", "das Deri-Jahr" (Anmerkung: nach dem israelischen
Politiker Arieh Deri), "das Jahr des Unsinns" und dergleichen mehr.
In den vergangenen sieben Jahren hatten wir drei
Ministerpräsidenten mit einem Ego, das von hier bis in die obere
Stratosphäre reicht. Netanyahu, Barak und Scharon fragten niemals
jemanden, konsultierten niemals jemanden, waren ihre eigenen Berater
und Könige von Israel, die das Land von Versagen zu Versagen
führten. Und wir befinden uns noch immer im Auge des Sturms.
Es ist nachgewiesen, dass der verwirrte Israeli in
spezifischen Fragen nicht mit den Handlungen seiner führenden
Politiker zufrieden ist, diese jedoch bei Umfragen weiterhin
unterstützt. Bis der Breakpunkt erreicht ist. Dann stirbt der König.
Lang lebe der König. De Gaulle äußerte sich einmal wie folgt über
Ministerpräsidenten: "Sie sind wie Jungfrauen und Rosen; sie halten
sich, solange sie sich halten." Netanyahu und Barak fielen, und
Scharon läuft geradenwegs in die gleiche Richtung wie sie. Und dann
werden wir uns wie bei einem römischen Festmahl auf den selben
Plätzen wiederfinden: erst Netanyahu, dann Barak und schließlich
womöglich Peres und Scharon, gemeinsam 175 Jahre alt, zum großen
Finale.
Die Feiertage schließen auch eine Menge
Vorhersagen ein, die, im Rückblick betrachtet, niemals wahr zu
werden scheinen. Über zwanzig Jahre hinweg hieß es, der syrische
Präsident Assad könne täglich an einer schweren Krankheit sterben.
Über 40 Jahre hinweg wurden auf König Hussein von Jordanien
Attentate verübt. Uri Geller sagte in den 70er Jahren voraus, dass
der ägyptische Präsident Nasser noch lange leben und König Hussein
bald einem Attentat zum Opfer fallen werde. Präsident Nasser starb
acht Monate nach dieser Voraussage und König Hussein starb 26 Jahre
später in seinem Bett und sieht nun wahrscheinlich vom Himmel aus
zu, wie Uri Geller in seinem Palast die Zeiger der Uhr verbiegt. Im
Jahr 1976 sagte der militärische Geheimdienst von Israel voraus,
dass es im kommenden Jahrzehnt unmöglich sei, Frieden mit den
arabischen Nachbarn zu schließen. Doch ein Jahr später kam der
ägyptische Präsident Sadat hier an. Im Jahr 1977 prognostizierte der
damalige israelische Finanzminister Simcha Ehrlich, dass Israel die
Schweiz des Nahen Ostens werden würde. Doch innerhalb der zwei
folgenden Jahre stieg die Inflation auf 400 Prozent jährlich.
Der wirtschaftliche Kollaps ist eine der
beliebtesten Vorhersagen. In einer Kolumne, die an dieser Stelle im
Jahr 1994 zum Neujahrsfest geschrieben wurde, wurde gesagte, dass
die Wirtschaftslage Erinnerungen an die berühmte Kritik über
Mahler's Musik hervorriefe: Sie ist nicht so schrecklich, wie sie
sich anhört. Die öffentlichen Vermögenswerte betrugen damals 350
Milliarden Schekel (Anmerkung: 1 Euro beträgt zur Zeit ca. 5,09
NIS). Die neusten Zahlen der "Bank von Israel" sagen, dass der
öffentliche Vermögenswert mittlerweile bei 1 Trillion und 269
Milliarden Schekel liegt. Das ist das zweieinhalbfache des
Bruttosozialprodukts. Die gute Nachricht lautet also, dass selbst
bei der politischen Führung, die wir gehabt haben, die innere
Zerstörung weit geringer ist als sie zu sein scheint. Zwei Millionen
Menschen gehen zur Arbeit (Anmerkung: Die Bevölkerungszahl liegt bei
ca. 6.5 Millionen). Große Teile der High-Tech-Industrie haben
Beschäftigung und die Exportsumme liegt jährlich bei ca. 20
Milliarden Dollar. Die Museen, Musikfestivals, Kinos und Theater
sind gut besucht. Zwischen dem einen und dem nächsten Terrorangriff
geht das Leben weiter.
Es wird gesagt, dass jede Nation die Regierung
bekommt, die sie verdient. In unserem Fall stimmt das definitiv
nicht. Dreimal hat das Volk eine politische Führung bekommen, die es
nicht verdient hat. Das Problem ist nicht das Volk Israel, sondern
seine politische Führung. Dies ist zum großen Teil ein Rätsel. Die
Medien werden diese Woche voll von Interviews mit Ministerpräsident
Scharon sein. Sie werden ihn nicht dabei erwischen, dass er auf die
selbe Art einschläft wie er es getan hat, als Peres ihm die
Einheitsregierung für den Rückzug aus Gaza anbot. Doch er wird kein
bisschen davon enthüllen, wohin wir gehen werden. Scharon ist ein
glück- und hilfloser Ministerpräsident. Seine Abhängigkeit von
Amerika -mit Condoleezza Rice als der Königin von Israel, die alle
wirklichen Entscheidungen trifft- ist peinlich. Wo sind die Tage, da
Menachem Begin den US-amerikanischen Botschafter Sam Lewis mit den
Worten "Wir sind nicht euer Vasallenstaat" zurechtwies? Der Kollaps
der sogenannten "Roadmap", für den Arafat verantwortlich ist,
versetzte Scharon in eine -von seinem Standpunkt aus gesehene-
ideale Position: Er muss seinen Teil nicht beitragen und die
Territorien nicht verlassen. Doch mittlerweile fällt die israelische
Gesellschaft auseinander – wie der erschreckende Brief der 27
Piloten, die den Dienst verweigern, zeigt. Und wenn Scharon nicht
etwas in die Wege leitet oder einen politischen Prozess startet,
wird nicht nur der Terror wieder mit neuer Kraft aufgenommen werden,
sondern Israel könnte sich auch bei einer Auseinandersetzung mit dem
US-amerikanischen Präsidenten Bush auf dessen Weg zur Wahlniederlage
wiederfinden.
Das zu Ende gehende Jahr könnte somit als der
Fluch des "Durchschnittsjahres" in Erinnerung bleiben. Das heißt, es
war schlechter als das Jahr zuvor, jedoch besser als das kommende.
Frohes Fest!
hagalil.com
26-09-2003 |