Scharons Abzugspläne in historischer
Perspektive:
Zwei zionistische Wege
In der Geschichte
des Zionismus waren die arabischen Einwohner in Palästina nicht
vorgesehen, wie schon die alte Parole "Ein Land ohne Volk für ein
Volk ohne Land" dokumentierte. Keiner der zionistischen Wege - weder
der pragmatische noch der revisionistische - weist derzeit einen
politischen Ausweg angesichts der Tatsache, dass zwischen dem
Mittelmeer und dem Jordan in absehbarer Zeit die Palästinenser die
demografische Mehrheit stellen werden. Doch innerhalb Israels hat
dieser "Kampf zweier Linien" seine Brisanz nie verloren, wie auch
die jüngste Krise innerhalb der Scharon-Regierung zeigt.
Von Baruch Kimmerling
Israelischer Sozialwissenschaftler, Zuletzt erschien: "Politizid.
Ariel Sharons Krieg gegen das palästinensische Volk", München
(Diederichs) 2003.
Scharons politische Probleme
begannen vor eineinhalb Jahren, als sich in Israel eine Bewegung für
den Bau einer Trennmauer formierte, um zukünftig
Selbstmordattentäter vom israelischen Territorium fern halten zu
können. Die Siedler sowie ein Großteil der radikalen Rechten
opponierten gegen diesen Plan, ebenso die Mehrheit des Kabinetts,
der Likud-Fraktion in der Knesset sowie des Zentralkomitees der
Regierungspartei. Mit einer Abtrennung werde, so argumentierten sie,
faktisch eine Grenze geschaffen und viele Siedler würden sich
künftig außerhalb Israels wiederfinden. Zudem wäre dies das Ende der
Ideologie von "Großisrael".
Die Motive der Mauerbefürworter hingegegen sind weniger
ideologischer Natur; sie haben in erster Linie Angst, da es dem
Militär in der Vergangenheit nicht gelungen ist, die
Selbstmordattentate zu verhindern. Doch Scharon erkannte schnell die
Vorteile der Trennung und des "disengagements" (wie man das Programm
auch nennt) und entwickelte einen detaillierten Plan, um das
Mauerprojekt in seine langfristige Strategie - die politische
Vernichtung des palästinensischen Volkes - zu integrieren. Da er die
Opposition in den eigenen Reihen kannte, wagte er einen Schachzug,
der in der politischen Kultur des Landes ohne Vorbild dasteht: ein
Referendum unter allen Likud-Mitgliedern. Scharon war sich
einigermaßen sicher, dass er die Abstimmung gewinnen werde, doch das
erwies sich als Irrtum: Am 2. Mai lehnten 60 Prozent der
abstimmenden Parteimitglieder seinen Plan ab. Trotz dieses
gravierenden Rückschlags ist mit einem Rücktritt Scharons in
nächster Zeit kaum zu rechnen.
Die tief greifenden Differenzen zwischen Scharon und seinen
Kernwählern haben einen Hintergrund. In der Geschichte des Staates
Israel gab es seit Anbeginn zwei rivalisierende zionistische
Strömungen: auf der einen Seite die eher pragmatischen
"Labour-Zionisten", auf der anderen die "revisionistische Strömung",
die das Ziel eines Staates "Großisrael" verfolgten. Wobei die
Revisionisten offen ließen, wie dieses Ziel zu erreichen sei, was
mit den dort lebenden Arabern zu geschehen habe und wie die Menschen
in den übrigen arabischen Ländern darauf reagieren würden.
Die revisionistische Grundannahme lautete, das jüdische Volk habe
ein unbestreitbares historisches und moralisches Recht auf das Land
der Väter (inklusive des heutigen Jordanien) und müsse seine
historischen Rechte auf eigene Faust durchsetzen. Obwohl diese
messianische Bewegung mit ihren höchst diesseitigen Zielen keinen
realistischen Bezug zu den politischen und sozialen Verhältnissen zu
haben schien, fand sie in den letzten Jahrzehnten ihre natürlichen
Verbündeten in der nationalreligiösen Partei und später auch unter
den orthodoxen Religiösen.
Die Labour-Zionisten dagegen hatten traditionell eine völlig andere
Vorstellung vom Aufbau ihres Staates. Sie setzten auf die Strategie
der Schaffung von vollendeten Tatsachen und versuchten, die
vorhandene lokale und internationale Machtbalance zwischen Juden und
Arabern in ihre jeweiligen politischen Pläne zu integrieren. Ihre
Taktik lief in der Vergangenheit darauf hinaus, sich möglichst viel
Territorium mit möglichst wenigen arabischen Einwohnern durch Kauf -
später auch durch Gewalt - anzueignen.
Für die Labour-Zionisten gibt es keine feststehenden, heiligen
Grenzen, vielmehr war der Umfang des jüdisch kontrollierten
Territoriums stets abhängig von einer komplexen Abgleichung
politischer und sozialdemografischer Überlegungen und der Fähigkeit,
das erlangte Territorium zu verteidigen. Diese pragmatische und
subtile Methode der Kolonisierung Palästinas war ein wichtiger Grund
für den beispiellosen Erfolg des zionistischen Projekts.
Auch wenn die Unterscheidung nach wir vor gültig ist, haben sich in
den letzten vierzig Jahren die Grenzen zwischen den beiden
grundlegenden zionistischen Lehrmeinungen nach und nach verwischt -
was sich auch darin zeigt, dass Ariel Scharon, der faktisch dem
Lager des Labour-Zionismus nahe steht, die Führung des
revisionistischen Lagers übernehmen konnte.
Seit dem Krieg von 1967 befinden sich die israelische Gesellschaft
und ihr Staat in einer Existenzkrise. Überdeckt wurde diese zu
Anfang von einem ökonomischen Boom und zunehmender sozialer
Mobilität, denn durch die Öffnung der Grenzen zum Westjordanland und
zum Gaza-Streifen wurde der israelische Arbeitsmarkt mit billigen
Arbeitskräften überschwemmt, die israelischen Produkte fanden einen
neuen (den palästinensischen) Absatzmarkt, und die besetzten Gebiete
wurden kolonisiert.
Der dadurch erzeugte Wohlstand basierte jedoch darauf, dass die
Palästinenser im Westjordanland und im Gaza-Streifen die kolonialen
Bedingungen akzeptierten, dass sie also die völlige Integration in
die israelische Wirtschaft bei gleichzeitigem Ausschluss aus der
israelischen Politik hinnahmen. Die Palästinenser hatten weder das
Recht auf Selbstbestimmung noch auf aktive Wahrnehmung der eigenen
ethnischen und nationalen Identität oder auf ihre eigenen
kollektiven Symbole.
Im Grunde gewöhnten sich beide Gesellschaften an diese
Machtverhältnisse, die mit der Zeit eine wechselseitige Abhängigkeit
produzierten. Die meisten Israelis und Palästinenser, die in dieser
asymmetrischen Situation aufgewachsen sind, empfinden sie heute als
natürlich und können sich kaum eine andere Art von Beziehung
vorstellen.
In der ersten Intifada, die am 9. Dezember 1987 begann, zeigten sich
bereits Risse, doch bis zur Zweiten Intifada im Jahr 2000 blieben
die wirtschaftlichen Beziehungen im Wesentlichen unangetastet. Die
Oslo-Verträge waren in erster Linie eine Reaktion auf die 1987 zum
Ausdruck gekommenen politischen Erwartungen, eine palästinensische
Autonomie zu erlangen.
Nach dem Krieg von 1967 stand die israelische Gesellschaft vor dem
alten Dilemma: Man wollte das historische Stammland des jüdischen
Volkes im Westjordanland annektieren, nicht jedoch dessen arabische
Bewohner. Denn bei einer formellen Annexion hätte es in Israel keine
jüdische Bevölkerungsmehrheit mehr gegeben. Selbst wenn man den
Palästinensern nicht die vollen Staatsbürgerrechte gewährt hätte,
wäre der Staat nach einer Annexion kein jüdischer Staat geblieben.
Mit diesem Widerspruch war die Dauerkrise vorprogrammiert. Denn
Staat und Gesellschaft waren außerstande, die anstehenden
politischen Entscheidungen zu treffen, um den nationalen Konflikt zu
lösen, aber auch um die innenpolitischen Probleme zu bewältigen: in
der Wirtschaftspolitik, im Erziehungswesen, in der Sozialpolitik, im
Verhältnis von Staat und Religion sowie in Sachen Demokratisierung
und Entmilitarisierung der Gesellschaft. Mit der Zeit wurde die
Krise immer deutlicher, die Interessen differenzierten sich nach
politischen Parteien aus.
Als 1977 der rechte, nationalistische Wahlzusammenschluss (als
Nachfolgepartei der Revisionisten) an die Macht kam, erwartete man,
die neue Regierung Begin werde unverzüglich das Westjordanland und
den Gaza-Streifen annektieren, da für die revisionistische Strömung
diese Gebiete schon immer zu "Eretz Israel" gehörten. Das war auch
die Hauptaussage des Parteiprogramms gewesen, und die zentrale
Forderung, mit der Ariel Scharon 1973 - bald nach seinem Ausscheiden
aus der Armee - kleinere und mittlere Parteien der Rechten und der
Mitte zur Unterstützung von Begin vereinte. Doch entgegen diesen
Erwartungen annektierte die Regierung Begin im Dezember 1981 nur die
ehedem zu Syrien gehörenden Golanhöhen.
Der Grund für die Zurückhaltung war die rasch anwachsende arabische
Bevölkerung in den besetzten Gebieten. Selbst wenn man der
annektierten Bevölkerung keine vollen staatsbürgerlichen Rechte,
kein Wahlrecht und keinen Anspruch auf Sozialleistungen einräumte,
hätten diese Palästinenser zusammen mit den arabischen Bürgern
Israel zu einem binationalen Gebilde gemacht. Heute leben in dem
Territorium zwischen Mittelmeerküste und Jordan - trotz der
Rekordzuwanderung von über einer Million Menschen aus der früheren
Sowjetunion (die nicht alle jüdischer Abstammung sind) - etwa 5
Millionen Juden (bzw. Nichtaraber) und 4,5 Millionen Palästinenser
(mit oder ohne israelische Staatsbürgerschaft). Wenn man die
demografischen Zahlen von heute hochrechnet, kommt man für das Jahr
2020 innerhalb der Grenzen des historischen Palästina auf eine
Gesamtbevölkerung von 15,1 Millionen Menschen, von denen 6,5
Millionen Juden sein werden.
Die politische Kultur der jüdischen Israelis ist durch zwei
verschiedene, historisch bedingte Ängste geprägt. Zum einen durch
die Angst vor der physischen Vernichtung des Staates, die von vielen
israelischen Politikern und Intellektuellen immer wieder benutzt,
missbraucht und emotional ausgebeutet wird. Und zum anderen durch
die Angst vor dem Verlust der demografischen Mehrheit, worin man den
Anfang vom Ende des jüdischen Staates sieht. So ist das Land
beherrscht von zwei patriotischen Geboten: Das erste patriotische
Gebot, das heilige Land der Väter in Besitz zu nehmen, steht im
Gegensatz zum zweiten, wonach das Land stets eine massive jüdische
Mehrheit haben müsse. Die Mehrheit der israelischen Wähler stimmte
bei den letzten Wahlen für Scharon, weil sie hoffte, seine Regierung
böte die "richtige Lösung" für den beschriebenen existenziellen
Widerspruch und könne - nach den gescheiterten
Camp-David-Verhandlungen der Regierung Barak - den
israelisch-palästinensischen Konflikt beenden.
Scharon hatte freilich seine eigenen Vorstellungen von der "Lösung"
des Palästinenserproblems. Sein Konzept stammt aus dem
Unabhängigkeitskrieg von 1948 und trägt den Namen Politizid. Gemeint
ist damit eine Kombination von militärisch-politischen,
diplomatischen und psychologischen Maßnahmen mit dem Endziel, das
palästinensische Volk als ein unabhängiges und legitimes
gesellschaftliches, politisches und ökonomisches Gebilde
auszulöschen. Dieser Prozess kann ethnische Säuberungen
einschließen, das heißt die allmähliche teilweise oder vollständige
Entfernung der Palästinenser aus dem Territorium, das als Eretz
Israel bzw. als das historische Palästina gilt. Jitzhak Rabin und
das so genannte Friedenslager hatten versuchten, dieses Problem
dadurch zu lösen, dass sie auf den größten Teil der besetzten
Gebiete mitsamt ihrer Bevölkerung verzichten wollten. Wegen dieser
erklärten Politik wurde Rabin ermordet, und bei den darauf folgenden
Wahlen entschied sich die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung Israels
gegen Rabins Lösung, die als eine Absage an das klassische Konzept
des Labour-Zionismus verstanden wurde. Als Scharon an die Macht kam,
entschied er sich mehr oder weniger explizit für eine Abkehr von dem
so genannten Oslo-Prozess.
Die erste Phase des Politizids war das militärische Vorgehen, das am
29. März 2002 mit der "Operation Defense Shield" begann. Es hatte
nicht nur zum Ziel, sämtliche organisierten Sicherheitskräfte der
Palästinenser zu zerschlagen, sondern vor allem auch die inneren
Grundstrukturen der Palästinensischen Autonomiebehörde zu
vernichten. Zugleich und zum selben Zweck unternahmen die Israelis
auch systematische Angriffe auf die Infrastruktur wie auf die
meisten nationalen und öffentlichen Institutionen der Palästinenser.
Dabei zerstörten sie mit dem Statistischen Büro auch die wichtigste
Datenbasis der Autonomiebehörde.
Aber die häufigen Vorstöße ins Kerngebiet des Westjordanlands sowie
die Belagerungen von Städten, Dörfern und Flüchtlingslagern - wie
auch die außergerichtlichen Hinrichtungen von militärischen und
politischen Führungsfiguren aller palästinensischen Gruppierungen -
verfolgen ein weiteres Ziel: Israel will den Palästinensern nicht
nur seine militärische Macht demonstrieren, sondern auch vor Augen
führen, dass niemand sie am Einsatz ihrer Machtmittel hindert. Den
Palästinensern soll damit klar gemacht werden, dass sie jedem noch
so willkürlichen Aggressionsakt der Israelis ohnmächtig und ohne
ernsthafte Verteidigungschance ausgeliefert sind. Die arabischen
Staaten und die internationale Gemeinschaft gaben nur rhetorische
Bekenntnisse zur Verteidigung der palästinensischen Sache ab - vor
allem, um die Proteststimmen im eigenen Lande zum Schweigen zu
bringen.
Da die Bush-Regierung in Washington - die den christlichen
Fundamentalisten nahe steht - die Regierung Scharon unter ihre
Fittiche genommen hat, wird Israel heute mehr denn je als Filiale
der USA im Nahen Osten wahrgenommen. In dieser Rolle genießt es
jedenfalls vorläufig die fast bedingungslose politische und
militärische Unterstützung durch die einzige Hypermacht der Welt.
Diese erste, militärische Phase des Politizids an den Palästinensern
verschaffte Scharon unter vielen israelischen Juden eine enorme
Popularität. Nach dieser Phase begann die politische Phase des
Projekts, die unter dem Titel "disengagement" läuft. Der israelische
Regierungschef ist ein Pragmatiker. Er weiß, dass die
völkerrechtlichen Normen weder ethnische Säuberungen in großem
Maßstab gestatten noch die Umwandlung des Königreichs Jordanien in
einen palästinensischen Staat, wie es seine früheren Pläne
vorgesehen hatten. Deshalb hat er die Errichtung der Mauer
veranlasst und vor kurzem die Auflösung aller jüdischen Siedlungen
im Gaza-Streifen und vier isolierter kleinerer Siedlungen im
Westjordanland angekündigt. Als Gegenleistung für den Abzug von 7
500 israelischen Siedlern aus dem Gaza-Streifen forderte Scharon von
Präsident Bush und seiner eigenen Likud-Partei, die Erhaltung der
wichtigsten jüdischen Siedlungskomplexe im Westjordanland abzusegnen
und damit den Verbleib von etwa 95 000 Siedlern zu sichern.
Scharon macht aus seinen Absichten keinen Hehl: Die Umsetzung der
"Roadmap" soll es ermöglichen, die im Westjordanland entstehenden
palästinensischen Territorien durch ein System von Mauern und Zäunen
von Israel und den jüdischen Siedlungsblöcken zu trennen. Seine
"Vision" nimmt klare Konturen an: Der palästinensische "Staat" wird
aus vier oder fünf Enklaven rund um die Städte Gaza, Dschenin,
Nablus und Hebron bestehen, ein zusammenhängendes Territorium wird
es nicht geben. Der Plan, diese palästinensischen Enklaven durch
Tunnel und Brücken zu verbinden, bedeutet natürlich, dass die
Israelis in den meisten übrigen Gebieten des Westjordanlands massiv
präsent bleiben werden. Ähnlich im Gaza-Streifen, wo Israel sich
auch nach dem jüngsten "disengagement"-Plan die Kontrolle über den
Zugang zu dem Territorium zu Lande wie in der Luft und zur See
vorbehält. Im Vergleich mit diesem Konzept nehmen sich die früher
von Südafrika geschaffenen Bantustans im Rückblick wie Bastionen der
Freiheit, der Souveränität und der Selbstbestimmung aus.
All dies zielt darauf, die Hoffnungen der Palästinenser zu
zerstören, ihren Widerstand zu brechen, sie zu isolieren und so weit
zu bringen, dass sie sich jeder von Israel vorgeschlagenen Regelung
unterwerfen - um am Ende massenhaft "aus freien Stücken" ihr Land zu
verlassen.
Scharons Plan ist mit dem pragmatischen Ansatz des Labour-Zionismus
vereinbar, nicht aber mit den revisionistischen und
religiös-messianischen Träumen von einem exklusiv jüdischen
Großisrael. So erklärt sich die Niederlage bei dem genannten
Likud-Referendum. Nach den jüngsten Meinungsumfragen ist eine
Mehrheit der Israelis für den Scharon-Plan. Und auch im Ausland
glauben viele, er könnte einen Durchbruch für die Lösung des
Palästinakonflikts bringen.
deutsch von Niels Kadritzke
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13-06-2004 |