Antworten der wunderlichen Hudna:
Auf dünnem Eis
Kommentar von Yoel Marcus, Ha'aretz, 08.08.2003
Übersetzung Daniela Marcus
Die nationale Stimmung ändert sich mit
Schallgeschwindigkeit oder vielleicht sogar mit
Lichtgeschwindigkeit. An einem Tag klagt jeder darüber, wie schlimm
die Dinge stehen – über die Armut, die Arbeitslosigkeit, die allein
erziehenden Mütter, den Mangel an persönlicher Sicherheit und vieles
mehr. Und dann, über Nacht, wandelt sich diese Niedergeschlagenheit
in eine großartige Partystimmung.
Erst gestern hat man über die tiefgreifende
Rezession gesprochen. Heute spricht man über deren Genesung und über
einen Stillstand in der Wirtschaftskrise. Orte des Zeitvertreibs
sind zum Bersten voll, Hotels werden von Touristen überschwemmt, in
Einkaufszentren und Läden wimmelt es von Kunden. Beinahe eine
Million Israelis werden Ende August ins Ausland reisen. Und es wird
berichtet, dass der Flughafen Ben Gurion bei Tel Aviv an einem
einzigen Tag 240 proppenvolle startende und landende
Passagierflugzeuge zählt.
Also, was ist nun mit der Arbeitslosigkeit und mit
der Armut? Was ist mit den Lohnkürzungen? Selbst die Zeitung
Ha'aretz, die die Konkurrenz beim Thema Finanzwirtschaft haushoch
schlägt, gab in dieser Woche in einer Überschrift auf der Titelseite
zu: "Sogar die Wirtschaftswissenschaftler sind verwirrt".
Die Antwort auf diese Fragen sollte man nicht im
wunderlichen menschlichen Verstand suchen, sondern in der
wunderlichen Hudna. Diese zeitweilige Feuerpause, der Terrorgruppen
in den Territorien für eine Periode von drei Monaten zugestimmt
haben, hat die Farbe auf unsere Wangen zurückgebracht. Kein
ökonomisches Gesundungsprogramm hätte das für den Markt tun können,
was diese kleine Hudna bewerkstelligt hat.
Doch die relative Ruhe, die durch die
Vereinbarungen von Akaba erreicht wurde, ist zerbrechlich. Und die
nationale Stimmung, die derzeit himmelhoch jauchzend ist, bewegt
sich auf sehr dünnem Eis.
Dafür gibt es eine Menge Gründe. Am Anfang der
Liste steht Abu Mazens (Mahmoud Abbas) mangelnde Bereitschaft, sein
Versprechen zu halten, die Terrororganisationen auch mit Gewalt zu
entwaffnen. Man erinnert sich, dass dieses Versprechen der Kern des
Fahrplans war. Am 4. Juni gab Abu Mazen in Akaba George W. Bush ein
Versprechen und erklärte öffentlich, "alle Anstrengungen zu
investieren und jede Möglichkeit zu nutzen, um der bewaffneten
Intifada ein Ende zu setzen und die Gewalt und den Terror absolut
und kompromisslos zu beenden". Irgendwie ist diese Verpflichtung auf
dem Weg von Abu Mazens erstem offiziellen Besuch im Weißen Haus
verloren gegangen.
In Washington haben Abu Mazen und (Sicherheitschef
Mohammad) Dahlan absolut klar gemacht, dass sie nicht die Absicht
haben, mit Hamas oder dem Islamischem Dschihad aneinander zu
geraten, da sie dies in einen Bürgerkrieg ziehen könnte. "Wir machen
es auf unsere Art", sagten sie.
Doch von unserem Standpunkt aus gesehen sind die
Terrorzellen immer noch lebendig und gesund, selbst wenn der
Waffenstillstand mit Hamas und Islamischem Dschihad um weitere drei
Monate verlängert werden sollte. Die Terrororganisationen decken
sich mit Kassam-Raketen ein, die das Zentrum Israels erreichen
können und sie testen mehr tödliche Methoden für Angriffe, bereit,
die Gewalt im Handumdrehen zu erneuern. Ich bin mir nicht sicher, ob
es nicht sogar in Abu Mazens Interesse ist, dieses Damoklesschwert
über Israels Kopf schweben zu haben.
Sharon hat hundert Prozent Recht, wenn er ein
hartes Vorgehen gegen den Terror als Vorbedingung für weitere
Schritte im Fahrplan verlangt. Er hat Recht, wenn er nicht über den
veränderten Ton der US-Regierung erfreut ist, die bereit ist, mit
der Hudna zu leben solange keine Bomben explodieren. Solche
amerikanischen "Preisnachlasse" stärken Arafat und die Hamas,
schwächen Abu Mazen und könnten am Ende zu einer brutalen und
blutigen militärischen Konfrontation zwischen Israel und den
Palästinensern führen.
Sharon liegt falsch, wenn er nicht zu mehr
großzügigen Gesten und "Leckerbissen" für die Palästinenser bereit
ist und wenn er keinen Plan präsentiert, der ihnen zeigt, dass es
Licht am Ende des Tunnels gibt. Die Schwierigkeit liegt darin, dass
Sharon ein Experte bezüglich der Taktik, jedoch nicht bezüglich der
Strategie ist. Er hat kein geordnetes politisches Programm, um den
Konflikt basierend auf einem Rückzug zu den Grenzen von 1967 (vor
dem Sechstagekrieg) zu beenden, mit leichten Änderungen, die die USA
und der Rest der Welt bereit wären zu unterstützen. Als jemand, der
im Moshav Kfar Malal geboren und aufgewachsen ist, entspricht
Sharons grundsätzliches Vorgehen bei der Lösung von Problemen dem
Handeln eines Bauern: pflügen, säen und warten.
Bezüglich der Fehler und der Kurzsichtigkeit passt
Churchills einstige geistreiche Bemerkung über die Amerikaner auch
für Israel und für die Palästinenser: "Sie machen immer das richtige
– nachdem sie alle Alternativen ausgeschöpft haben."
Sagten wir etwas von dünnem Eis? Zu dieser
Einschätzung möchte ich eine kleine Empfehlung hinzufügen: Seid
nicht zu voreilig mit der Entlassung von Sicherheitspersonal!
hagalil.com
08-08-2003 |