
Das Singen am Kumsitz:
Das Irrationale ist die Summe aller Ängste
Von Tamar Rotem, Ha’aretz, 22.09.2002,
www.haaretzdaily.com
Anscheinend gibt es eine Verbindung zwischen
der Welle des Terrors, die Israel seit zwei Jahren überschwemmt, und
der plötzlichen Beliebtheit von Singabenden in Rockclubs. Dadurch,
dass Drohungen die elementare Sicherheit treffen, erwacht die
latente, beinahe mystische Angst, die seit Generationen in der
jüdischen Seele steckt und die besagt, dass "die Goyim (Heiden)
darauf aus sind uns zu schnappen". Von dieser Angst ist es ein
relativ kurzer Sprung zur Fahne, um die man sich versammelt und zur
zuckersüßen Nostalgie des gemeinsamen Liedersingens am Lagerfeuer.
Dr. Danny Brom, Psychologe und Leiter des
Jerusalemer Zentrums für Behandlung von Psychotraumas, glaubt, dass
die Analogie eines traumatisierten Einzelnen dazu beitragen kann,
viele Charakteristiken der heutigen israelischen Gesellschaft zu
erklären. "Abgesehen von einem allgemeinen Gefühl der Depression hat
die Situation einen Einfluss auf die Einstellung in der
Öffentlichkeit, auf das, was auf den Straßen geschieht und auf die
Gewalt an Schulen", sagt er. "Menschen, die in Gefahr sind,
versetzen sich in einen Zustand der Bereitschaft zu überleben und
sich selbst zu verteidigen. Unter solchen Umständen kontrolliert der
Teil des Gehirns, der für einfache Gedankengänge zuständig ist, das
Verhalten. Der Zugang zu den höher entwickelten, rationalen Teilen
des Gehirns wird weniger benutzt."
Das Irrationale kann den einzelnen dazu bringen,
sich der Religion oder dem Mystizismus zuzuwenden. So kann erklärt
werden, warum große Teile der Bevölkerung nationalistische oder
militaristische Einstellungen annehmen und so kann auch die bei
vielen deutlich wahrnehmbare Rückkehr zur Religion oder die enorme
Popularität des Spiritualismus in all seinen Aspekten erklärt
werden. Nach Broms Worten kann eine psychologische Analyse von
jemandem, der mit einem Trauma konfrontiert worden ist, einen
Schlüssel liefern zu dem, was es heißt ein Israeli zu sein, und zwar
in all seiner Komplexität. Wie bei einer Person, deren Nerven blank
liegen, sind Israelis bis an die Grenzen der Unverschämtheit
ungeduldig, beim Autofahren hupen sie ständig und sie geraten
schnell in Auseinandersetzungen. Wenn sie allerdings einer
wirklichen Gefahr ausgesetzt sind, zeigen Israelis erstaunliche
Fähigkeiten, die zum Überleben notwendig sind. "Während des
Golfkrieges zum Beispiel mobilisierten sich die Israelis gegenseitig
auf eine Art und Weise, die man in Europa nicht finden kann."
Ein Mensch, der sich im Stadium eines Traumas
befindet, ist ständig auf der Hut vor möglichen Gefahren. Alles, was
in diesem Stadium der Gefahr unwichtig ist, wird nicht beachtet.
"Auf der Hut zu sein ist ein effektiver Mechanismus, um überleben zu
können", sagt Brom. "Doch wenn dieser Mechanismus ständig aktiviert
ist, kann er zu einer posttraumatischen Belastungsstörung werden.
Wenn eine ganze Gesellschaft die Welt durch das Prisma "Wer tat mir
was, wer verletzte mich" sieht, ist dies eine sehr ungesunde
Situation. Es bringt die Gesellschaft nicht weiter."
Genervt, jedoch funktionierend
Prof. Sahava Solomon von der Universität Tel Aviv,
eine Epidemiologin und führende Forscherin im Bereich von
Trauma-Studien, zieht es vor, von der "Psychologie einer
Gesellschaft, die unter ständiger Bedrohung lebt" –wie sie es nennt-
zu sprechen. Doch sie behauptet, es sei eine Übertreibung, wenn man
statuiere, die gesamte israelische Gesellschaft lebe in einem
Stadium des Traumas. Solomon, die früher in der Armee als Leiterin
die Abteilung des Gefechtstraumas unter sich hatte, ist sogar der
Meinung, dass die Israelis "relativ gut mit der Situation umgehen".
Ihre Behauptung beruht auf einer kürzlich von ihr
durchgeführten Studie, die sie zur Untersuchung von PTSD
(post-traumatic stress disorder / posttraumatische
Belastungsstörung) in der israelischen Gesellschaft vorgenommen
hatte. In einer Umfrage, die sie mit Dr. Avi Bleich und Mark Gelkop
von der Universität Tel Aviv durchführte und die noch nicht
veröffentlicht wurde, fand man heraus, dass nur 9 % der Israelis die
genannten Symptome wie ständig schlimme Erinnerungen, erhöhte
Alarmbereitschaft, allgemeine Verzweiflung und wachsendes nicht
funktionstüchtiges Verhalten zeigten. Im Vergleich dazu leiden 10
bis 20 % der New Yorker ein Jahr nach dem Anschlag auf die
Zwillingstürme unter PTSD-Symptomen, sagt Professor Solomon.
Solomons Fragebögen wurden in der zweiten
Aprilhälfte an 513 Personen versandt, zu einem Zeitpunkt, als es
eine besonders heimtückische Welle von Selbstmordanschlägen gegeben
hatte. Etwa 63 % der Befragten sagten, dass sie nicht Zeuge oder
Opfer von Anschlägen gewesen seien. Etwa 22 % sagten, sie würden
ihnen nahestehende Personen kennen, die verletzt worden seien. 15 %
sagten, sie würden Personen kennen, die in einen Anschlag
involviert, jedoch nicht verletzt worden seien. 13 % berichteten,
sie würden in Erwägung ziehen, eine der Hotlines zu benutzen, die
emotionale Hilfe anbieten.
Solomon gibt zu, dass sie überrascht war, weil nur
9 % der Bevölkerung Symptome genannt haben. Sie hatte mit höheren
Resultaten gerechnet. Ihre Erklärung hierfür lautet: "Die Bedrohung
hält an und wir werden oft an unsere biologische Verwundbarkeit
erinnert, und zwar in solchem Ausmaß, dass das allgemeine Gefühl
dahin geht, dass die Welt an sich kein sicherer Platz ist. Die
Lebenslinien verkürzen sich. Es ist nicht gewährleistet, dass wir
ein hohes Alter erreichen."
Die Geschichten über mehrere Opfer in einer
Familie und die Berichte über Terrorangriffe, bei denen Kinder das
Ziel waren oder verletzt wurden, bringen den Großteil der
Bevölkerung aus der Fassung. "Angriffe auf Kinder unterminieren
unseren Glauben an die Gerechtigkeit und Ordnung in dieser Welt und
an einen sicheren Platz für diejenigen, die nicht gesündigt haben.
Unter solchen Umständen beginnt der Glaube "Mich wird es nicht
treffen" zu bröckeln."
Etwa 60 % der in Solomons Untersuchung Befragten
berichtete jedoch über Gefühle der Depression und der Traurigkeit.
Es mag sein, dass die Frage auf die Antwort, ob sich Israels
Gesellschaft in einem Trauma befindet, von der Semantik und der
Definition abhängt. Die meisten Menschen funktionieren und fahren
mit der Routine ihres Lebens fort. Doch können die vielen
verschiedenen Ausdrucksformen einer Depression, existenzielle
Verzweiflung oder das, was normalerweise "nationale Moral" genannt
wird, quantifiziert werden?
Etwa 67 % derjenigen, die auf die Umfrage der
Universität Tel Aviv geantwortet haben, sagten, dass sie
optimistisch seien, was ihre persönliche Zukunft anginge. Doch etwa
die Hälfte waren nicht optimistisch bei der Frage nach der Zukunft
des Staates. Es ist möglich, dass die Angst über die Zukunft des
Staates mit einem tieferen, profunderen Trauma zusammenhängt, dem
der Shoah. "Es gibt nicht viele Nationen in der heutigen Welt, die
ein Trauma wie das der Shoah erfahren haben, bei dem so viele
Menschen einer Nation vernichtet wurden", sagt Professor Dan Bar-On
von der Ben-Gurion-Universität. "Jeder einzelne der jüdischen
Gesellschaft ist davon beeinflusst."
Bar-On, Psychologe und früherer Dekan der Fakultät
für Verhaltensforschung an der Universität, befindet sich derzeit in
einem Sabbatjahr in den USA. Er nennt die Shoah als Hauptquelle für
das Trauma der israelischen Gesellschaft. Während der Kampfperioden,
wie z. B. während der 1967er und 1973er Kriege, während des
Golfkrieges oder der gegenwärtigen Intifada, erwachten latente
Angstgefühle in der traumatisierten Gesellschaft, sagt er. "Es gibt
ein greifbares Gefühl von "Schau, sie wollen uns vernichten, uns ins
Meer werfen". Auch das Recht auf Rückkehr, das die Palästinenser in
der gegenwärtigen politischen Realität fordern, hat damit zu tun."
Wie Brom so schließt auch Bar-On von einer
einzelnen traumatisierten Person auf die ganze Gesellschaft. Der
Status eines psychologischen Traumas, sagt er, ist charakterisiert
von erstarrten, geschlossenen Gedankenprozessen und verzerrten
Ansichten der Realität. "Während des Golfkrieges haben
Shoah-Überlebende ihre Lebensmittelvorräte aufgestockt und ihre
Häuser in Bunker verwandelt. Eine traumatisierte Gesellschaft –und
dies ist besonders offenkundig in Israel- versucht immer die Fehler
der Vergangenheit wieder gut zu machen, auf die Gefahr frühzeitig zu
reagieren, sie zu beseitigen. Das Resultat kann sein, dass der
Krieg, den man befürchtet hat, tatsächlich ausbricht."
Bar-On sagt, dass die Psychologie des Opfers
vielleicht die auffälligste Verzerrung der Wirklichkeit in einer
traumatisierten Gesellschaft ist. "Die Einstellung, dass wir die
Opfer sind und dass "wir verdienen zu bekommen, wonach wir gefragt
haben, weil wir Opfer geworden sind" ist sowohl in der israelischen
wie in der palästinensischen Gesellschaft dominant. Sie ist nicht
vollkommen unrealistisch. Doch das Problem dabei ist, dass die
Fähigkeit, selbstkritisch zu sein, ernsthaft beschädigt ist."
Er sagt, die großen Worte der Amerikaner, die sie
heutzutage über den Krieg äußern, sind Beweis dafür, dass sie genau
an dem Punkt ihrer Reaktion auf das Trauma des 11. September sind.
"Die Ausschau nach den "Bösen" in der Welt, um den nächsten Angriff
zu verhindern, könnte sie dahin führen, dass sie selbst genau die
gleichen bösen Taten tun."
Eine Welt, die sich rückwärts dreht
Als jemand, der sich auf das Konfliktmanagement
auf nationaler Ebene spezialisiert hat, sagt Bar-On, dass vergangene
Traumata die größten Hindernisse im Innersten der Konflikte zwischen
Gesellschaften sind, dass sie zur gleichen Zeit jedoch auch den
Schlüssel zur Lösung von Konflikten beinhalten. Nach Untersuchungen
der Traumata von Shoah-Opfern und der zweiten und dritten Generation
von Überlebenden wie auch der zweiten und dritten Generation nach
dem "Dritten Reich" auf deutscher Seite, glaubt er, dass der Weg zu
echter, dauerhafter Versöhnung über die gemeinsame Erkennung der
Traumata auf beiden Seiten führt.
In den letzten Jahren hat er sowohl mit Gruppen
von Israelis und Palästinensern wie auch mit Gruppen von Juden und
Deutschen der dritten Generation gearbeitet und versucht, einen
Dialog herzustellen. Kürzlich begann er auch die Arbeit mit einer
Gruppe von Katholiken und Protestanten aus Nordirland.
Jede Nation hält ihre Traumata durch
Erinnerungstage und nationale Trauertage fest, sagt Bar-On. Nicht
nur die Erinnerungstage, sondern die meisten israelischen Feiertage
kennzeichnen Traumata, die dem jüdischen Volk widerfahren sind.
Solche Tage, sagt er, werden meistens von den
Führern benutzt, um die kollektive Erinnerung mit ihrem latenten
Gefühl von Patriotismus und dem Wunsch nach Vergeltung zu stärken.
So benutzte z. B. der serbische Führer Slobodan Milosevic
historische Erinnerungen an die moslemische Eroberung des Kosovo im
14. Jahrhundert, um die Flammen des nationalistischen Hasses
anzufachen. "Die Gefühle waren so stark, dass nicht einmal die
Tatsache, dass es 46 % Mischehen in Bosnien und Serbien gab, das
Abtauchen in das Blutbad verhindern konnte."
Bosnien hat noch keinen Prozess der Versöhnung und
des Friedensschaffens begonnen, da die Zerstörungs- und Gewalttaten
dort sehr schlimm waren. Doch andere Fälle aus der Vergangenheit
beweisen, dass vernünftiges Denken der Führer die vergangenen
Traumata auslöschen kann. Dies geschah z. B. zwischen Frankreich und
Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg oder zwischen Deutschland und
Polen nachdem der eiserne Vorhang gefallen war. "Es brauchte eine
Menge Arbeit und mehr als nur ein paar Friedensgespräche", sagt
Bar-On. "Und sie versuchten alles, einschließlich gegenseitiger
Besuche und Analysen von Schulbüchern, um alle Spuren des Hasses zu
beseitigen. Sie verstanden, dass sie ein gemeinsames Interesse daran
hatten. Als Gesellschaften machten sie große Schritte nach vorn."
Neulich in Nordirland markierte Derry die
katholische Belagerung der Protestanten, sagt er. Seit Jahren wurde
dieser Tag durch Hetze und Gewalt getrübt. Menschen zogen spezielle
Trachten an, bereiteten besondere Mahlzeiten zu und hielten Paraden
ab. Gewalttätige Krawalle brachen zwischen Katholiken und
Protestanten aus. Dieses Mal geschah es zum ersten Mal, dass sich
die Führer beider Seiten vor den Ereignissen trafen und über die Art
und Weise, wie man Gewalt verhindern könnte, einer Meinung waren. Es
funktionierte, sagt Bar-On.
"Es ist leicht, nationale Ängste in einer
traumatisierten Gesellschaft zu manipulieren", sagt er. Bezüglich
des Konfliktes im Nahen Osten ist er nicht optimistisch. "Wir sind
Teil einer ganzen Welt, in der sich soziale und ökonomische Prozesse
zurück anstatt vorwärts bewegen, motiviert durch die Angst vor dem
Terror. Doch wenn man der Angst erlaubt den Weg zu zeigen, wird sie
zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Das ist die Natur der
Angst", sagt Bar-On.
hagalil.com
07-10-02 |