"Yigal Amir lebt, Rabin ist tot, Sharon wird sterben":
Ist das Demokratie?
Kommentar von Yoel Marcus, Ha'aretz, 04.03.2005
Übersetzung Daniela Marcus
Am gleichen Abend, an dem die große
Demonstration in Beirut stattfand, die die libanesische Regierung
stürzte, gab es auf der Straße nach Jerusalem einen riesigen
Verkehrsstau, weil rechts gerichtete Extremisten an der
Motza-Kreuzung Reifen verbrannten. Während sich der Duft der
Demokratisierung in dieser Region ausbreitet, ausgelöst durch den
Druck und die Predigten von US-Präsident Bush, sollte sich "die
einzige Demokratie im Nahen Osten" angesichts dessen, was man hier
zu Hause wahrnimmt, die Frage stellen: Ist das Demokratie?
Demokratie bietet keine Lizenz für Anarchie. Sie ist keine
Genehmigung, gewalttätige Aktionen gegen die Umsetzung von
Entscheidungen, die von den Institutionen des Staates getroffen
wurden, auszuführen. Und gewiss bietet sie nicht die Lizenz, das
Leben von gewählten Staatsoberhäuptern im Namen messianischer
Prophetie oder eines direkten göttlichen Befehls zu bedrohen.
Der Premierminister setzte seine Politik in die Praxis um und zwar
auf Grund seiner Fähigkeit, die notwendige Mehrheit für eine
Zustimmung vom Kabinett und von der Knesset zu bekommen. Es spielt
hier keine Rolle, wie seine Wahlslogans oder Wahlversprechen
lauteten. Als De Gaulle gewählt wurde, hatte er auch nicht
versprochen, Algerien aufzugeben und die Familien der Siedler, die
dort 132 Jahre lang gelebt hatten, zu evakuieren. Nixon versprach
nicht, das Tabu der Anerkennung der Volksrepublik China zu brechen,
diplomatische Beziehungen mit diesem Land aufzunehmen und Taiwan
seinem Schicksal zu überlassen. Begin versprach nicht, den gesamten
Sinai im Austausch für Frieden an Ägypten abzutreten. Shamir
versprach nicht, den internationalen Gipfel in Madrid zu besuchen,
der den Durchbruch zum Dialog mit den Palästinensern schuf. Rabin
machte niemals die kleinste Andeutung über die Oslo-Vereinbarungen.
Sharon war vermutlich der einzige, der jemals meinte, was er sagte.
"Frieden mit schmerzhaften Konzessionen" war mehr als ein Hinweis
auf das, was im Laufe der Zeit geschehen würde. Erst als die
Feiglins, die Rebellen, die Anführer der extremen Rechten, die
Siedler und gewisse Likud-Parteigrößen realisierten, was er meinte,
konfrontierten sie ihn mit einem politischen Vertrag.
Die Bedrohung für die Demokratie kommt nun von allen Seiten. Die
messianischen Eiferer, die keine Probleme haben, rote Linien zu
überqueren, sagen, sie werden die Regierung mit Gewalt und Tumulten
daran hindern, Regierungspläne auszuführen. Das Zentralkomitee des
Likud, inklusive Knessetabgeordneter und Minister, möchte Sharon
draußen haben. Gestern stimmte der Likud für ein Referendum. Selbst
wenn diese Gesetzesvorlage nicht von der Knesset verabschiedet wird,
hat sie Sharon verwandelt von einem Premierminister, der das
überwältigende Vertrauen der israelischen Mehrheit besitzt, in ein
Staatsoberhaupt, das die Hälfte seiner Partei verloren hat. Er wurde
zu einem General ohne Soldaten.
Die Haare der Minister standen zu Berge als sie den Berichten des
Inlandgeheimdienstes Shin Bet und der Polizei über die rabbinischen
Verordnungen lauschten. Diese Verordnungen erlauben das Schießen auf
drusische und beduinische Soldaten, sie genehmigen Handgemenge mit
der Armee und der Polizei und sie ermutigen Soldaten, den Befehl zu
verweigern. Last but not least gibt es eine Verordnung, die das
"Gesetz des Denunzianten" auf Sharon selbst anwendet. Von Dutzenden
von Aussagen, die der Leiter des Shin Bet und der Polizeipräsident
zitierten war diejenige, die einem den kältesten Schauer den Rücken
hinunter jagte, mit Sicherheit die folgende: "Yigal Amir lebt, Rabin
ist tot, Sharon wird sterben." Verstehen Sharons Minister nicht,
dass diejenigen, die die Legitimität eines demokratisch gewählten
Staatsoberhauptes leugnen, ihm eigenhändig ein Todesurteil
auferlegen?
Ein israelischer Innenminister, hart wie Stahl, sprach über die
Notwendigkeit "die Organisationen der extremen Rechten zu zerstören,
Notstandsgesetze in Kraft treten zu lassen und die extremen Rechten
unter Administrativhaft zu stellen". Das war nicht Ophir Pines im
Jahr 2005. Es war Ehud Barak im Jahr 1995, am Tag nach Rabins
Ermordung.
Wären die Dinge so gehandhabt worden, schreibt Danny Bloch,
Redakteur der nicht mehr existierenden Zeitung "Davar", hätte Yigal
Amir im Sommer 1995 in einer Zelle gesessen, Rabin wäre am Leben,
Carmi Gillon hätte sich in Ehren aus dem Shin Bet zurückgezogen,
Yigal Amir hätte Margalit Har Shefi oder Larissa Trimbobler
geheiratet und Ge'ula Amir wäre inzwischen Großmutter. Doch was soll
man tun? Niemand verstand damals, dass auch die Demokratie Krallen
benötigt, um sich selbst zu verteidigen, und heute verstehen sie es
immer noch nicht.
Die Machtlosigkeit der Regierung, Knessetresolutionen umzusetzen,
weil eine gewalttätige Minderheit bereit ist, jede rote Linie zu
übertreten, stellt die ultimative Drohung für die Demokratie dar.
Für die Regierung ist die Zeit gekommen, die Samthandschuhe
auszuziehen – bevor uns die Verrückten alle kalt machen.
hagalil.com
04-03-2005 |