Antisemitische Welle:
Haben Israel und die Juden das Recht zu existieren?
Auszüge aus einem Artikel von Bradley Burston,
Ha'aretz, 12.11.2003
Übersetzung Daniela Marcus
Die Regierung Ariel Scharons wurde in letzter
Zeit oft beschuldigt, darauf hinzuarbeiten, eine Zwei-Staaten-Lösung
im israelisch-palästinensischen Konflikt zu vermeiden und die
Möglichkeit eines unabhängigen palästinensischen Staates neben dem
jüdischen Staat effektiv zu blockieren.
Wenn man die letzten Umfragen betrachtet, kann man
zu dem Schluss kommen, dass eine bedeutende Anzahl von Europäern
eine andere "Ein-Staat-Lösung" im Kopf haben, nämlich das Ende des
unabhängigen Staates Israel.
Während sich Anzeichen für antisemitische
Ansichten überall in Europa mehren, beginnen sich Israelis zu
fragen, ob die ausländische Kritik an der Politik der israelischen
Regierung einen nicht mehr rückgängig zu machenden Schritt über eine
Grenze getan hat, nämlich über die Grenze zu bösartigem Hass auf
Juden und zur ernsthaften Debatte über das Existenzrecht des
jüdischen Staates.
Der letzte Katalysator für diese Diskussion –und
große Angst- waren Äußerungen des bekannten griechischen Komponisten
Mikis Theodorakis, Verfasser der Titelmusik des 1964 gedrehten Films
"Zorba, der Grieche" und der gefeierten "Ballade von Mauthausen" zur
Erinnerung an die Opfer der Nazi-Konzentrationslager.
In seinen Bemerkungen, die letzten Mittwoch zu
riesigen, roten Überschriften in israelischen Zeitungen inspirierten
("Zorba, der Antisemit", schrie Yedioth Acharonoth förmlich),
erklärte Theodorakis: "Heute können wir sagen, dass diese kleine
Nation die Wurzel allen Übels, und nicht des Guten, ist. Das heißt,
dass zu viel Selbstgefälligkeit und zu viel Starrköpfigkeit böse
sind."
"Wir sind zwei Nationen, die in der Welt keine
Brüder haben, wir (Griechen) und die Juden, doch sie –die Juden-
sind fanatisch und gewaltsam", sagte Theodorakis letzte Woche bei
einer Pressekonferenz.
Er verspottete auch die biblischen Patriarchen
Abraham und Jakob, indem er behauptete, die Griechen seien aufgrund
der reichen Geschichte und Mythologie nicht aggressiv geworden wie
Abraham und Jakob. "Sie (die Juden) hatten nur Abraham und Jakob,
Schatten.... Wir hatten hier den großartigen Perikles".
Diese Aussagen waren für die Israelis, die
aufgrund antijüdischer Anzeichen und bösartiger antiisraelischer
Ansichten in anderen Gebieten Europas bereits ganz benommen sind,
die neusten in einer schockierenden Folge.
"Wenn ein kreativer Künstler wie Mikis
Theodorakis, der überall in der Welt einflussreich und geachtet ist,
und der mit dem Kampf gegen Faschismus und Rassismus identifiziert
wird, solche schwerwiegenden Äußerungen von sich gibt, wird
hierdurch neben all den Signalen, die in letzter Zeit bereits
eingeschaltet wurden, ein besonderes Alarmsignal betätigt", sagte
Avner Shalev, Direktor von Yad Vashem, Israels nationalem Denkmal
für die Schoah.
Gegen Ende des letzten Monats zeigten die
Ergebnisse einer Meinungsumfrage der EU, die bis zu den Medien
durchgesickert waren, dass EU-Bürger glauben, unter den Nationen der
Welt sei Israel die größte Gefahr für den Weltfrieden.
In dieser Umfrage antworteten 59% der EU-Bürger
mit "Ja", als sie gefragt wurden, ob Israel "eine Bedrohung für den
Weltfrieden darstellt". Israel wurde von EU-Bürgern weitaus häufiger
genannt als jedes andere Land, es übertraf selbst Nordkorea und den
Iran.
Die gegenwärtige Flut an antisemitischen und
antiisraelischen Äußerungen wurde von einem Mitglied der deutschen
CDU-Partei losgelöst, das während einer Rede anlässlich des Tages
der Deutschen Einheit am 3. Oktober die Juden mit den Nazis
verglich.
Martin Hohmann, Mitglied des Bundestags, sagte,
wenn die Deutschen ein Tätervolk seien, so könnte das gleiche auch
über die Juden gesagt werden. Als "Beleg" nannte er die Rolle der
Juden während der Russischen Revolution im Jahr 1917, die die
bolschewistischen Kommunisten an die Macht brachte.
Als Brigadegeneral Reinhard Günzel, Leiter der KSK
(i. e. die Eliteeinheit "Kommando Spezialkräfte"), in einem Brief an
Hohmann sein Kompliment für dessen "exzellente Rede" ausdrückte, von
der er sagte, sie drücke etwas aus, was "in diesem Land nur selten
gelesen oder gehört werde", wurde er sofort entlassen.
Auch der malaysische Ministerpräsident Mahathir
Mohamad goss Öl ins Feuer, als er während des Oktobergipfels der
islamischen Nationen sagte: "Die Europäer töteten von 12 Millionen
Juden 6 Millionen. Doch heute regieren die Juden die Welt."
Mohamads Bemerkungen wurden im Westen stark
verurteilt, doch in Teilen der islamischen Welt wurden sie mit
Verständnis und Beifall aufgenommen. Israelis waren über die
europäische Kritik an Mohamads Rede nur wenig zufrieden, denn der
französische Präsident Jacques Chirac erstrebte und erreichte eine
deutliche Abschwächung der europäischen Kritik.
Die israelische Sensibilität bezüglich dieses
Themas erreichte diese Woche mit der Veröffentlichung einer zweiten
europäischen Umfrage, die am Montag in der angesehenen italienischen
Tageszeitung "Corriere della Sera" erschien, den Siedepunkt.
Mehr als ein Sechstel der befragten Italiener
sagten, ihrer Meinung nach sei es das Beste, wenn Israel aufhören
würde zu existieren. Und 22% der Befragten sagten, italienische
Juden seien "keine richtigen Italiener".
Shalev sagte, der Zeitpunkt von Theodorakis'
geäußerten Bemerkungen sei kein Zufall gewesen. "Wo war Theodorakis
bis jetzt, und warum hat er seine erstaunliche 'Entdeckung' bis
jetzt geheim gehalten? Diese Veränderung liegt an der Atmosphäre,
die in Europa geschaffen wird", sagte Shalev gegenüber dem
Armeeradio.
Die steigende Flut von antisemitischen Ansichten
fördert die Legitimität von Meinungen, die bisher unter den Ängsten
vor der Rückkehr zu den Ansichten, die den Weg für die Schoah
geebnet haben, verborgen waren, fuhr Shalev fort.
"Solche Bemerkungen wurden zuvor nicht geäußert,
weil sie bisher nicht legitim waren. Nun werden sie plötzlich
legitim, und das ist es, was so erschreckend ist", argumentierte
Shalev.
"Diese Risse, die auf der Oberfläche Europas
zurückbleiben, machen es diesen "Enthüllungen" möglich, hervor zu
kommen, und sie werden sehr gefährlich, weil sie tatsächlich sagen,
dass unsere Existenz nicht legitim ist. Dies führt zum nächsten
Schritt, und es wird immer jemanden geben, der ihn gehen werden."
Für viele Israelis ist der nächste Schritt in der
Frage verkörpert, ob Israel ein Recht hat zu existieren. Dies ist
ein Thema, das, wie Offizielle bemerken, äußerst selten in Bezug auf
andere Nationen der Welt erhoben wird.
In einer Art Testfall hat Israel letzte Woche
einen seit langem bestehenden Präzedenzfall aufgehoben und bei der
UN-Vollversammlung eine Resolution eingebracht, von der angenommen
wird, dass sie seit 1976 die erste Resolution seitens Israel ist.
Im Wortlaut des Resolutionsentwurfs spiegelt sich
eine Verfügung wider, die letztes Jahr von der überragenden Mehrheit
der UN-Vollversammlung verabschiedet wurde und die zum Schutz
palästinensischer Kinder vor israelischer Gewalt aufgerufen hatte.
Die israelische Version drängt darauf, dass
israelische Kinder vor palästinensischem Terror geschützt werden.
Der israelische UN-Sprecher Ariel Milo sagte, die Abstimmung über
den Entwurf wird zeigen, ob die Vollversammlung "denkt, dass das
Leben israelischer Kinder weniger wichtig ist als das
palästinensischer Kinder".
Der israelische Schritt verblüffte und verärgerte
palästinensische Offizielle, für die die Vollversammlung seit
Jahrzehnten eine Bühne zwar nur symbolischer, jedoch zuverlässiger
Siege gewesen ist.
"Dies reflektiert einen vollständigen Mangel an
Sensibilität gegenüber dem Leiden palästinensischer Kinder", sagte
der palästinensische UN-Beobachter Nasser al-Kidwa und fügte hinzu,
dass Israel "in jedem Paragraphen eine absolut inakzeptable
politische Essenz" eingefügt hat. Es wird erwartet, dass die
Resolution am kommenden Mittwoch oder Donnerstag in einem UN-Komitee
diskutiert wird....
hagalil.com
19-11-2003 |