Vom guten und schlechten Gebrauch der Geschichte
WIDER BANALISIERUNG UND SAKRALISIERUNG
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DIE Debatte über den Holocaust und die Erinnerung ist schon lange
auch eine Debatte darüber, welche gesellschaftlichen Zusammenhänge und
Prozesse durch das Wachhalten der Erinnerung befördert bzw. blockiert
werden, wem das Erinnern nützen oder schaden könnte. Erst jüngst hat
sich die Frage der falschen Freunde durch die Publikation der Bücher von
Finkelstein und Novick neu entzündet.
Immer steht bei der Erinnerung neben der Wahrheit auch
die Wirkung im Mittelpunkt, das heißt etwa der Kontext oder die Person
des Redenden. Wie aber kann man die Geschichte des Nationalsozialismus
und der Judenvernichtung ebenso wie die anderen Völkermorde dieses
Jahrhunderts als Erfahrung im Hier und Heute nutzen, wenn man darum
weiß, wie verführerisch allzu simple Parallelen sind - etwa der
Vergleich von Milosevic mit Hitler.
Von TZVETAN TODOROV *
* Forschungsdirektor am CNRS in Paris. Autor
zahlreicher Bücher, zuletzt erschien "Mémoire du mal, tentation du bien.
Enquète sur le siècle", Paris (Laffont).
Wie sollen wir uns die Vergangenheit zu Diensten machen? Öffentliches
und privates Leben unterliegen in dieser Frage nicht denselben Regeln.
Im Privatleben nämlich ist das Verhältnis zwischen den Worten und der
Welt an die Beziehung zwischen zwei Menschen geknüpft - dem, der redet,
und dem, der zuhört. Wenn ich eine Wahrheit kenne, von der ich denke,
dass sie meinen Freund schmerzt, äußere ich sie nicht, und wenn ich auf
eine Enthüllung stoße, die meinen Seelenfrieden stört, weigere ich mich,
sie zur Kenntnis zu nehmen.
Im öffentlichen Leben dagegen ist das anders: Hier gilt es, jede
Wahrheit zu äußern. Wenn ich eine Information erhalte, soll ich mich
nicht zuerst fragen: Aus welchem Grund verbreitet X diese Information?
Und wem nützt sie? - sondern ich soll fragen: Ist sie wahr? Goebbels
beschuldigte das sowjetische Regime, für die Massaker in Katyn
verantwortlich zu sein. Die Aussage wurde dadurch, dass der Naziminister
verabscheuungswürdig war, nicht einen Deut weniger wahr. Lange Zeit
wusste man auch von den Lagern in der Sowjetunion, doch die Nachricht
wurde unter dem Vorwand ignoriert, dass man die roten Arbeiter nicht um
ihre Hoffnungen bringen dürfe. Als sich eines Tages die Wahrheit dann
doch aufzwang, war die Arbeiterklasse um wesentlich größere Hoffnungen
gebracht. Das Recht, die Wahrheit zu erforschen und bekannt zu machen,
gehört in einer Demokratie zu den grundlegenden Bürgerrechten. Motiv und
Folgen dürfen erst in zweiter Linie analysiert werden, wenn man der
Wahrheit so nahe wie möglich gekommen ist.
Individuen wie Gruppen müssen ihre Vergangenheit kennen, denn von ihr
hängt ihre Identität selbst ab, ohne sich darin zu erschöpfen. Ein
Mensch, der an Alzheimer erkrankt und sein Gedächtnis verliert, verliert
seine Identität, ist nicht länger er selbst. Auch jedes Volk braucht ein
gemeinsames Gedächtnis. Eine Gruppe kann sich nur als solche erkennen,
wenn sie auf ein identitätsstiftendes Ensemble aus Leistungen und Leiden
zurückgreifen kann. Aber auch wenn der Rückbezug auf die Vergangenheit
unvermeidlich ist, folgt daraus nicht, dass er immer gut ist.
Das Gedächtnis ist wie die Sprache ein Instrument; es ist an und für
sich neutral und kann sowohl für ein edles Bemühen als auch für
schwärzeste Ziele dienstbar gemacht werden. Die "Pflicht, sich zu
erinnern", ist moralisch nicht gerechtfertigt, wenn die Erinnerung an
die Vergangenheit hauptsächlich mein Rache- oder Revanchebedürfnis
stillt, wenn ich mir auf diese Weise schlicht Privilegien sichern oder
meine Untätigkeit im Heute rechtfertigen will. Man kann niemand einen
Vorwurf daraus machen, dass er die Vergangenheit instrumentalisiert.
Nicht nur weil es alle tun, sondern auch weil es nur legitim ist, dass
die Vergangenheit dem Heute dient. Doch nicht jeder Gebrauch des
Gedächtnisses ist gut, manchmal ist es eher ein Missbrauch. Aber woran
erkennt man das?
Scylla und Charybdis der Gedächtnisarbeit heißen "Sakralisierung" und
"Banalisierung". Sakralisierung ist nicht gleichzusetzen mit dem
Herausarbeiten der Besonderheit eines Ereignisses. Will man die
Besonderheit herausarbeiten, muss man es zu anderen Ereignissen ins
Verhältnis setzen (um seine historische Singularität zu benennen); die
Sakralisierung hingegen fordert, dass man das Ereignis isoliert, in
einem eigenen Raum aufbewahrt, damit ihm nichts nahe kommen kann.
Auch das Sakrale kann durchaus im Privatleben eines Menschen Platz
haben. Wenn ich etwa ein Kind verloren habe, möchte ich in keiner Weise,
dass diese für mich einzigartige Erfahrung mit der Trauer eines anderen
Menschen um einen anderen Toten gleichgesetzt wird. Dies ist in der
öffentlichen Debatte anders. Hier verhindert die Sakralisierung
nachgerade, aus dem Einzelfall eine generelle Lehre zu ziehen,
Vergangenheit und Zukunft in Beziehung zu setzen. Die Sakralisierung
verhindert also, dass diejenigen, die nicht zu der betroffenen Gruppe
gehören, von der Erfahrung profitieren können. Aber für gewöhnlich,
bemerkte einst melancholisch Marcel Proust, profitiere man von keiner
Lektion, weil es einem nicht gelinge, zum Generellen vorzudringen, und
weil man sich immer vorstelle, dass die eigene Erfahrung einzigartig sei
und es keine Entsprechungen in der Vergangenheit gebe.
Die entgegengesetzte Gefahr, die der Banalisierung, besteht nun
darin, die Vergangenheit auf die Gegenwart zu übertragen, die eine
simpel und einfach mit der anderen gleichzusetzen - was im Effekt
bedeutet, dass man beide verkennt. Die jüngsten Kriege in Jugoslawien
illustrieren diese Variante. So wurde der Konflikt zwischen den
verschiedenen Ethnien entgegen allem Augenschein mit dem Zweiten
Weltkrieg gleichgesetzt - mit Slobodan Milosevic in der Rolle Hitlers.
Im Fernsehen sieht man ausgemergelte Gesichter bosnischer Muslime hinter
Stacheldraht: "Das sieht aus wie zur Zeit des Holocaust", sagt sofort
ein Berater des Weißen Hauses, der vielleicht nur diesen einen Vergleich
aus der Vergangenheit kennt.
1995 erklärt der US-amerikanische Sondervermittler für Jugoslawien,
Richard Holbrooke, dass er bereit sei, seine moralische Überzeugung
hintanzustellen und mit den Machthabern in Jugoslawien zu verhandeln,
auch wenn er sie für Verbrecher halte. Zum eigenen Trost vergleicht er
sich mit Raoul Wallenberg, der, um verfolgte Juden vor dem sicheren Tod
zu retten, sogar mit den Nazi-Schlächtern verhandelte. Doch Holbrooke
übersieht bei seiner historischen Parallele, dass er als Redner die
stärkste Militärmacht der Welt repräsentiert, während Wallenberg, der im
von Nazis besetzten Budapest Legationsrat der Schwedischen Botschaft
war, sein Leben aufs Spiel setzte, das er im Übrigen letztlich durch
eine tragische Ironie der Geschichte in den Kerkern eines anderen
totalitären Staats, der Sowjetunion, verlor.
Madeleine Albright, die 1997 US-Außenministerin wurde und deren
Familie während des Zweiten Weltkrieges aus der Tschechoslowakei
geflohen war, sieht die gegenwärtigen Ereignisse durch das Prisma ihrer
Kindheitserinnerungen: Die Bosnienkriege erinnern sie an den
Nationalsozialismus, die Haltung der westlichen Regierungen fast schon
an die Haltung der Engländer und Franzosen in München 1938. In ihrer
Rede "Bosnien im Licht des Holocaust", die sie 1994 - damals noch als
amerikanische UN-Botschafterin - im Washingtoner Holocaust-Museum hielt,
erklärte sie: "Die Führung der bosnischen Serben sucht für das Problem
der auf ihrem Territorium lebenden nichtserbischen Bevölkerung eine
Endlösung, sei es durch Vernichtung, sei es durch Vertreibung."
Man gewinnt den Eindruck, jeder wolle heute am liebsten von sich
sagen können, er habe einen neuen Holocaust verhindert. Dabei wirft der
Holocaust-Vergleich überhaupt kein neues Licht auf die Ereignisse in
Bosnien, vielmehr macht er jeden blind, der versucht, die Ereignisse zu
analysieren. Kein Wunder, dass Clinton sich desselben fragwürdigen
Vergleichs bediente, um die Militärintervention zu rechtfertigen. "Was
wäre geschehen, wenn wir rechtzeitig auf Churchill gehört und Hitler
früher bekämpft hätten? Wie viele Menschenleben, auch amerikanische,
hätten gerettet werden können?", fragte er am 23. März 1999. Gewiss wäre
es besser gewesen, früher gegen Hitler zu intervenieren. Aber wie
könnten die potenziellen Überlebenden des Zweiten Weltkriegs die
Bombardierung in Jugoslawien rechtfertigen? Kann jemand ernsthaft
vertreten, Milosevic sei eine ebenso große Gefahr für Europa und die
Welt wie Hitler im Jahr 1938? Man kann nicht einfach zur Begründung
irgendeiner Handlung die Vergangenheit heraufbeschwören.
Wie aber entgeht man diesen beiden spiegelbildlichen Bedrohungen, der
Sakralisierung und der Banalisierung? Hier muss die Arbeit des Erinnerns
ansetzen, und zwar so, dass man nicht unter Berufung auf eine wie auch
immer geartete Kontingenz oder Ähnlichkeit von einem besonderen Fall auf
den nächsten schließt, sondern vom Besonderen auf das Universelle: auf
das Prinzip der Gerechtigkeit, auf eine moralische Regel, auf ein
politisches Ideal - Rückschlüsse also, welche sich mit Hilfe rationaler
Argumente überprüfen und kritisieren lassen. Auf diese Weise wird die
Vergangenheit weder bis zum Überdruss wiedergekäut noch in universellen
Analogien strapaziert, sondern in ihrer Beispielhaftigkeit gelesen. Die
Lehre, die man daraus zieht, muss ihre Legitimation aus sich selbst
schöpfen, nicht daraus, dass sie von einer Erinnerung herrührt, die mir
heilig ist; der Gebrauch des Gedächtnisses ist dann gut, wenn er einer
gerechten Sache dient, nicht wenn er lediglich meine Interessen fördert.
Ausgangsbasis der Gerechtigkeit ist die Forderung nach Gleichheit -
und diese kennt kein Vorgehen nach der Regel "zweierlei Maß". Das ist
einer der Gründe, weshalb die Intervention der Nato im Kosovo keine
Legitimität hatte: Nie, weder in der Vergangenheit noch in der
Gegenwart, hat die Nato in vergleichbaren Situationen eine
Interventionsabsicht bekundet. Dem Gleichheitsgrundsatz folgend ist auch
die Weigerung Kostunicas, den Internationalen Strafgerichtshof als
unparteiisch anzuerkennen, und die Weigerung Baraks, eine internationale
Untersuchungskommission über die "Fehler" der israelischen Armee
zuzulassen, auf einer gleichen Ebene anzusiedeln: Entweder man
verurteilt beide, oder man heißt sie beide gut . . .
Wenn man sich für das Prinzip der Restitution als Ausgleich für
vergangene Ungerechtigkeiten entscheidet, dann müssen die gleichen
Zeiträume für alle gelten, für polnische Juden, denen 1939, wie für
arabische Palästinenser, denen 1948 Unrecht widerfahren ist. Die Frage
des Zeitraums ist schwierig: Bis zu welchem Datum soll man zurückgehen?
Soll man die Nachfahren der als Sklaven verkauften Schwarzen
entschädigen? Und die der Indianer, denen nach der "Eroberung des
Westens" ihr Land enteignet wurde? Erst jüngst hat übrigens die
US-Regierung Amerikanern japanischer Herkunft eine Summe von 1,8
Milliarden Dollar bezahlt, als Entschädigung für die Internierung
während des Zweiten Weltkriegs.
Zum modernen Gerechtigkeitsverständnis gehört auch, anzuerkennen,
dass es ein Menschenrecht auf Würde gibt, weshalb kein Rückbezug auf
irgendeine Vergangenheit jemals Folter rechtfertigen kann, da diese eine
Leugnung der Würde darstellt. Das gilt für die Behandlung der Algerier
durch die Franzosen in den Fünfzigerjahren ebenso wie für die Behandlung
der Palästinenser in Israel seit Ende der Achtzigerjahre. Die gleiche
schmerzliche Vergangenheit - das Leiden der Juden - kann zu völlig
verschiedenen Schlussfolgerungen führen: Unter Berufung auf diese
Vergangenheit hat der israelische Richter Mosche Landau(1) 1987 die
Anwendung von Folter gegen "Feinde" legalisiert, der israelische
Professor Jeschajahu Leibowitz dagegen bekämpfte unter Berufung auf
dieselbe Vergangenheit die Legalisierung der Folter mit allen Kräften.
Daraus lernen wir: Wir sollten nach ethischen und rechtlichen Prinzipien
urteilen, nicht mittels Verweises auf vergangene Ereignisse.
Der große Maler Zoran Music verbrachte das letzte Jahr des Zweiten
Weltkriegs in Dachau. Nach der Zeit in dieser Todesfabrik fühlt er sich
unfähig, das Gesehene darzustellen. Seine Erfahrung ist einzig, er kann
sie nicht mitteilen. Doch dann, in den Fünfzigerjahren, gibt es erneut
Kriege (in Korea, in Algerien) und wieder die Grausamkeiten, die
Menschen einander antun können. Angesichts dieser so verschiedenen und
doch so ähnlichen Gegenwart entschließt sich Music zu einer neuen Serie
von Bildern: Sie zeigt Leichen aus dem Lager und heißt "Wir sind nicht
die Letzten". Durch diese keineswegs banalisierende Verknüpfung von
Gegenwart und Vergangenheit gelang es dem Maler, ein erschütterndes Werk
zu schaffen, das wahr und gerecht zugleich ist.
dt. Marie Luise Knott
Fußnote:
(1) Richter Mosche Landau (geb. 1913 in
Danzig) war 1961 Vorsitzender im Eichmann-Prozess. Er war Mitglied des
Obersten Gerichtshofs in Israel, dessen Vorsitz er von 1980 bis 1982
innehatte. Als er in Pension ging, gründete er die Landau-Kommission,
die 1987 den "gemäßigten physischen Druck" auf palästinensische
Gefangene legalisierte.
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