
EINE VERZWEIFELTE FLASCHENPOST AUS
ISRAEL
No Exit
Die Selbstmordattentäter haben ein
"Gleichgewicht des Schreckens" zwischen Israel und dem palästinensischen
Widerstand hergestellt. Aber diese Balance hat den Krieg zum Alltag
gemacht, statt ihn zu verhindern, weil die Konfliktparteien keine
gefestigten, rational kalkulierenden Staaten sind. Die
Selbstmordkommandos haben den Widerstand "privatisiert", auf Kosten
palästinensischer Machtstrukturen, die einen Kompromiss umsetzen
könnten. Auch die Regierung Scharon will Arafat und seine
Autonomiebehörde demontieren. Dass sie einen "Frieden gegen Land" nicht
haben will, beweist die Zerstörung der zivilen Infrastruktur bei den
"Strafaktionen" gegen die Palästinenser. Wenn die seit 1967 betriebene
Siedlungspolitik die israelische Gesellschaft in Geiselhaft nimmt, gibt
es keinen Ausweg aus dem tödlichen Kreislauf von Terror, Okkupation und
Repression.
Von AMOS ELON *
* Israelischer Schriftsteller. Im Herbst erscheint
"German Jews Before Hitler: A History of the Assimilation". Wir drucken
"No Exit" mit freundlicher Genehmigung von The New York Review of
Books (Mai 2002).
ALLER Zerstörungsbereitschaft zum Trotz hat Ariel
Scharon seinen Krieg bereits verloren, doch das macht Jassir Arafat
mitnichten zum Sieger. Dieser mag die Gewalt gelegentlich verurteilt
haben, doch ist an der immer aggressiveren Rhetorik beider Männer
abzulesen, dass sich beide dieser Tatsache bewusst sein müssen. Seit
seinem ersten Amtstag verfolgt Scharon die Strategie, das Oslo-Abkommen
endgültig zunichte zu machen und das palästinensische Autonomiegebiet
auf ein paar isolierte, von israelischen Militärlagern eingekreiste
Enklaven zu begrenzen, die etwa 50 (oder gar nur 30) Prozent des
besetzten Westjordanlandes ausmachen oder sich womöglich auch nur auf
den Gaza-Streifen beschränken sollen. Die möglichen Zugeständnisse, die
im Januar 2001 im ägyptischen Taba hinsichtlich des Grenzverlaufs, der
Flüchtlingsfrage und des Status von Jerusalem erörtert wurden, haben
beide Seiten inzwischen wieder zurückgenommen. Doch es waren ohnehin nur
"informelle" Konzessionen, die noch einer offiziellen Absegnung bedurft
hätten - undenkbar seit der Regierungsübernahme durch Scharon.
Heute besteht Arafat darauf, dass sich Israel auf die
Grenzen von 1967 zurückziehen und ein Rückkehrrecht für die Flüchtlinge
anerkennen müsse. Im Februar und März schien er sogar ein noch
ehrgeizigeres Ziel anzustreben: Möglicherweise hat er ernsthaft
geglaubt, die Moral und die nationale Einheit der Israelis könnten durch
eine Kombination von Terror und internationalem Druck gebrochen werden.
Im März rief Arafat - die Szene lief über das israelische Fernsehen -,
man brauche "tausend Schahids, tausend Schahids"
- das arabische Wort für Selbstmordattentäter. Arafat und Scharon
sprechen sich gegenseitig ab, legitime Unterhändler zu sein. Die letzten
eineinhalb Jahre haben eines gezeigt: Trotz der überwältigenden
militärischen Überlegenheit Israels konnte keine der beiden Seiten die
Bedingungen eines endgültigen Abkommens oder auch nur einer vorläufigen
Regelung diktieren, die eine Atempause für weitere Verhandlungen
geschaffen hätte.
Die Selbstmordattentäter haben dafür gesorgt, dass
sich erstmals seit dem Sechstagekrieg von 1967 eine Art "Gleichgewicht
des Schreckens" zwischen beiden Seiten eingependelt hat. Dabei handelt
es sich nicht etwa um ein dauerhaftes Gleichgewicht zwischen zwei
stabilen, verantwortlich kalkulierenden und besonnen handelnden Mächten.
Die wachsende Zahl von Schahids
zeigt vielmehr an, dass der Unabhängigkeitskrieg der Palästinenser
gleichsam "privatisiert" wird. Die Folge ist eine unkontrollierte
Zersetzung der Machtstrukturen, was nur noch mehr Entsetzen und
Blutvergießen erwarten lässt. Israel hat es nicht mehr mit zwei, drei
terroristischen Organisationen zu tun, die es bekämpfen und vielleicht
ausschalten kann. Es hat einen neuen und diffusen Feind: eine weit
verbreitete und schwer zu bekämpfende Stimmung unter den Palästinensern
- eine Empörung, eine Wut und eine Verbitterung, die fast ein ganzes
Volk erfasst haben.
Der Schahid hat es leichter als der klassische
Guerillakämpfer. Um seinen Auftrag erfolgreich durchzuführen, ist er
nicht auf einen sicheren Rückzug angewiesen. Und während nur ein oder
zwei Fanatiker einen Schahid-Kandidaten finden und ausbilden
können, braucht es tausende von Soldaten und Polizisten, um diesen Einen
aufzuspüren, bevor er sich selbst umbringt. Der Schahid wird
häufig als wahnsinniger muslimischer Fundamentalist gesehen, der
unbedingt ins Paradies kommen will, wo siebzig schneeweiße Jungfrauen
auf ihn warten. Aber das ist allzu simpel oder zuweilen schlicht falsch.
Tatsächlich wurde die Verantwortung für einige Schahid-Attentate
von den Al-Aksa-Märtyrerbrigaden übernommen, einer mit Arafats Fatah
verbandelten Organisation, die keine islamistische Bewegung ist. Ian
Buruma hat darauf verwiesen, dass der religiöse Fanatismus eher
politischen als kulturellen Wurzeln entspringt.(1 )Schahids sind
häufig junge Männer zwischen 12 und 25, viele sind in einem der elenden
Flüchtlingslager am Rande der palästinensischen Städte aufgewachsen. Ihr
Antrieb ist offenbar vor allem - wie bei den meisten Intifada-Kämpfern -
verletzter Stolz und nackte Wut: ein verzweifeltes Gefühl der Ohnmacht,
das vielfach auf persönliche Erfahrungen und auf den Verlust eines
Verwandten zurückgeht. Vielleicht wurde ein Cousin erschossen, der
Steine auf ein vorüberfahrendes Auto geworfen hatte, vielleicht wurden
Vater oder Mutter an einem Checkpoint von einem israelischen Soldaten
gedemütigt, vielleicht hat er einen Onkel, dessen Land zugunsten einer
israelischen Siedlung enteignet wurde oder der in einem israelischen
Gefängnis auf mysteriöse Weise ums Leben gekommen ist. In diese Richtung
weisen eindeutig mehrere empirische Studien über Jugendliche, die an der
ersten und der zweiten Intifada teilgenommen haben, verfasst von Dr.
Mohammad Hadj Yihia, Dozent an der Hebrew University in Jerusalem.
() Es ist zu befürchten, dass es aufgrund der
verbreiteten Erbitterung, die so viele Schahids produziert, noch
eine Generation länger dauert, bis eine politische Lösung gefunden wird.
Insgesamt hat sich die palästinensische Gesellschaft erstaunlich gefügig
gezeigt. Als die Israelis 1967 das Westjordanland besetzten, fiel kaum
ein Schuss; auf Widerstand stießen die vorrückenden israelischen
Soldaten nur bei den jordanischen Truppen. Wenn man sich an diese Zeit
erinnert, beginnt man zu begreifen, wie sich die 35 Jahre israelischer
Besatzung - einer niederträchtigen, arroganten, mehr und mehr Land
konfiszierenden und vor allem zutiefst demütigenden Okkupation - auf die
palästinensische Gesellschaft ausgewirkt haben. 1967 wurden die Israelis
in den meisten palästinensischen Städten nicht etwa mit Zeichen von Wut,
sondern mit "Welcome, welcome" begrüßt, oder auch mit "Have a cup of
coffee". Kleine Jungen rannten hinter den Panzern her und riefen
"Schalom, Schalom".
Ich kannte einen Palästinenser, der die israelischen
Soldaten während der ersten Besatzungswochen so freundlich fand, dass er
bereit gewesen wäre, in die israelische Armee einzutreten. Es hat fast
zwanzig Jahre gedauert, bis 1982 in der palästinensischen Gesellschaft
die erste Intifada ausbrach. Die Hauptwaffe, die dabei zum Einsatz kam,
waren Steine - geworfen von kleinen Jungen, die nun nicht mehr "Schalom"
riefen.
Gewiss hatten die Palästinenser schlechte politische
Führer, die "keine Chance ausließen, eine Gelegenheit zu verpassen", wie
es der frühere israelische Außenminister Abba Eban formulierte. Aber
auch Ariel Scharon ist kein außerirdisches Wesen. Auch Israel hat
etliche Gelegenheiten ungenutzt verstreichen lassen, als ein Frieden mit
den Palästinensern des Westjordanlandes noch möglich war, zum Beispiel
1967 und 1968, noch vor dem spektakulären Aufstieg der PLO(2). Aber auch
mit Jordanien hätte man Anfang der Siebzigerjahre Frieden schließen
können. Damals gab es noch nicht so viele Siedler, die sich gegen alle
Zugeständnisse sperren konnten, die palästinensische Frage wäre also
vielleicht wieder zu einem jordanischen Problem geworden wie vor 1967.
Versucht man, die Ereignisse der letzten Jahre aus der Perspektive der
normalen Palästinenser wahrzunehmen, sieht das etwa so aus: Im Zeitalter
der weltweiten Entkolonisierung mussten sie sich 35 Jahre lang von
bewaffneten, gewalttätigen, Jarmulke tragenden Siedlern herumstoßen
lassen, und jetzt schreien sie: "Es reicht!"
DIE Selbstmordattentäter finden offenbar bei
vielen Menschen in den arabischen Nachbarländern Unterstützung. Eine
Fatwa, die unlängst von Scheik Mohammed Said Tantawi, dem Oberhaupt der
Kairoer Al-Azar-Universität und führenden sunnitischen Theologen
erlassen wurde, erklärt die Schahids zu heiligen Verteidigern der
Ehre ihrer Völker. Die Familien verstorbener Selbstmordattentäter
bekommen Geld vom Irak und von Saudi-Arabien: Saddam Hussein zahlt jeder
Familie 25 000 Dollar. Die saudische Regierung finanziert ihnen eine
Pilgerreise nach Mekka. Inzwischen ist in erschreckend unzweifelhafter
Weise klar geworden, dass man die israelischen Siedlungsgebiete
unmöglich abriegeln kann, indem die Grenzen vermint werden und bewacht
wie vor 1967. Oder indem man Elektrozäune baut, wie an der
innerdeutschen Grenze zu Zeiten des Kalten Krieges. Als Folge der
intensiven, seit 1978 betriebenen Siedlungspolitik leben Israelis und
Palästinenser heute im Westjordanland und zumal im Gebiet von
Großjerusalem zu stark vermischt, als dass man eine saubere Trennung
vornehmen könnte. Viele der israelischen Siedlungen liegen tief in
palästinensischem Territorium.
Scharon hat es immer wieder abgelehnt, einen
"Sicherheitswall" etwa entlang der alten Grenze von 1967 zu errichten,
denn das würde die meisten Siedler ausschließen und die künftigen
Grenzen eines Palästinenserstaates präjudizieren. Zwar hat der ehemalige
Ministerpräsident Ehud Barak unlängst in der New York Times einen
Sicherheitszaun vorgeschlagen, der das eigentliche Israel, die
wichtigsten Siedlungsgebiete im Westjordanland wie auch "eine
Sicherheitszone entlang des Jordans" schützen würde. Doch einen solchen
etwa 2 000 Kilometer langen Zaun zu errichten würde Jahre dauern, und in
der Zwischenzeit könnten ein dutzend Fanatiker jeden politischen
Ausgleich blockieren. Über 400 000 Israelis leben heute jenseits der
alten Demarkationslinien (etwa die Hälfte davon in mehreren Enklaven im
besetzten Ostjerusalem). Das sind fast 10 Prozent der jüdischen
Bevölkerung Israels. Eine größere Zahl dieser Siedler zurückzuholen wäre
wahltaktisch gesehen in einem Land mit notorisch knappen Mehrheiten
extrem riskant, ja unmöglich. Bei den großzügigsten Zugeständnissen, die
Israels Regierung Anfang 2001 in Taba angeboten hat, wären immer noch
250 000 Menschen in Ostjerusalem und den entfernter liegenden Siedlungen
verblieben - alles potenziell gefährliche Irredentisten. Der Irrsinn der
verschiedenen (Arbeitspartei- oder Likud-)Regierungen, die derart
umfassende Siedlungsvorhaben im Westjordanland und in der Region
Großjerusalem gefördert haben, tritt heute klarer zutage als je zuvor.
Zwar machten die USA zunächst vorsichtige Einwände gegen diese
Siedlungen, aber dann verstummten sie und verlangten nur noch, die
endgültigen Grenzen müssten in Verhandlungen festgelegt werden.
Ursprünglich sollten die Siedlungen als faits accomplis dem Land
mehr Sicherheit verschaffen, doch in der Realität haben sie den Israelis
in allen Verhandlungen über einen dauerhaften Frieden die Hände
gebunden. Insgesamt haben sie Israel nur unsicherer gemacht. Scharon hat
wiederholt verkündet, er sei gegen den Abzug auch nur eines einzigen
Siedlers.
(…) Die Siedler stellen in Israel heute die
lautstärkste politische Lobby dar. Von ihren Interessen und persönlichen
Wünschen hängt es in hohem Maße ab, wo im Westjordanland und im
Gaza-Streifen israelische Truppen stationiert werden. Sie widersetzen
sich seit Jahren vehement jeder Friedensinitiative und blockieren jeden
möglichen Kompromiss. Kaum hatte es Jitzhak Rabin gewagt - als einziger
Ministerpräsident -, sich ernsthaft mit ihnen anzulegen, eröffneten sie
gegen ihn persönlich eine bösartige Kampagne. Schon wenige Tage später
wurde Rabin von einem ihrer glühendsten Anhänger ermordet. Die
militanten Gruppen, die mit dem Mord sympathisierten, fordern heute
lauthals, die "Oslo-Verbrecher" wegen Hochverrat anzuklagen. Gemeint
sind damit die beiden akademischen Berater Rabins, die das Oslo-Abkommen
aushandelten, sowie der ehemalige Justizminister Jossi Beilin, der ihre
Mission unterstützte.
In der Altstadt von Hebron ist heute ein komplettes
Panzergrenadierregiment erforderlich, um etwa dreihundert Siedler zu
beschützen, von denen die meisten Thora-Studenten sind, die sich hier in
den letzten 25 Jahren mit brachialen Methoden breit gemacht haben und
denen die Regierung nach vielen Schwierigkeiten Häuser zur Verfügung
stellte. Dieses wahnwitzig anmutende Trotzverhalten inmitten einer
zutiefst fundamentalistischen muslimischen Stadt wird bis heute mit dem
Alten Testament (Gen. 23, 4-18) gerechtfertigt. Und mit dem grotesken
Glaubenssatz, wonach Juden nicht gehindert werden dürfen, dort zu leben,
wo sie leben wollen, "nur weil sie Juden sind". In Netzarim, einer
isolierten Siedlung im Gaza-Streifen, die inmitten von riesigen
palästinensischen Flüchtlingslagern liegt, wurden vor kurzem 15
israelische Soldaten getötet und 34 verwundet, die zur Verteidigung von
40 Familien abgestellt waren.
Die groß angelegte "Strafexpedition", zu der
israelische Panzer und Panzerfahrzeuge im April in die palästinensischen
Städte und Flüchtlingslager einrückten - angeblich, um die
"Infrastruktur des Terrors" zu zerschlagen - wird wohl die vorhandene
Wut verstärken und letztlich zu noch mehr Schahid-Attacken
führen. Sie hinterließ hunderte von Toten und tausende von Verwundeten
und machte tausende obdachlos: Männer, Frauen und Kinder - vor allem
Kinder, potenzielle Schahids von morgen. Die israelischen
Angriffe haben allenthalben verwüstete Orte hinterlassen und gewaltige
materielle Schäden angerichtet, von Ramallah bis Bethlehem und Hebron.
Diese Aktionen sollten offensichtlich nicht nur die "Infrastruktur des
Terrors" zerschlagen, wie von Scharon behauptet, sondern den im Aufbau
begriffenen Palästinenserstaat. Perfiderweise wurden auch rein zivile
Einrichtungen wie das Landwirtschafts- und das Erziehungsministerium
oder das zentrale Statistische Amt zerstört. Nach Angaben der
israelischen Menschenrechtsorganisation B'tzelem praktizierten die
israelischen Soldaten an vielen Orten einen rücksichtslosen Vandalismus.
Es wurden Straßen, Wasserleitungen und Abwasserrohre beschädigt, Bäume
gefällt, Autos demoliert und Häuser niedergerissen. Die militärische
Disziplin scheint auf einen Tiefpunkt gesunken zu sein. An einigen Orten
versuchten Soldaten, Geldautomaten und automatische Kontoauszugsdrucker
aufzubrechen. Sie zerstörten ungestraft Uhren und Kunstwerke,
Möbelstücke und Fernseher, Waschmaschinen und Computer. Solche Fälle von
Vandalismus waren zu verbreitet, um sie als Ausnahmen entschuldigen zu
können. In Ramallah besetzten israelische Soldaten den palästinensischen
Fernsehsender und begannen Pornofilme auszustrahlen, die sie angeblich
in einer Schublade gefunden hatten. Kampfhubschrauber schossen mit
schweren Maschinengewehren und Raketenwerfern wahllos auf Wohn- und
Bürohäuser.
"Mit Sicherheit wurde damit", schrieb Serge Schmemann
in der New York Times vom 10. April, "die lebensnotwendige
Infrastruktur, die Basis jedes künftigen Palästinenserstaates zerstört:
Straßen, Schulen, Strommasten, Wasserleitungen, Telefonkabel." Die
Soldaten fanden Waffenlager mit Gewehren und Munition, primitive
Werkstätten, in denen Handgranaten und Granatwerfer fabriziert wurden,
wie auch Ledergürtel, die für Sprengstoffladungen gedacht waren. All
dies wurde berechtigterweise in die Luft gesprengt. Doch die wahre
"Infrastruktur des Terrors" liegt nicht in diesen Werkstätten der
Waffenbastler, sondern in den Gefühlen von jungen Männern und Frauen
ohne Arbeit und ohne ökonomische Perspektiven, deren Wut über die seit
vielen Jahren andauernden Verhältnisse immer stärker wird.
Früher durchliefen Jugendliche eine relativ lange
Ausbildungs- und Indoktrinationsphase, bevor sie sich in einer
überfüllten Disco oder in einem Restaurant in die Luft sprengten. Heute
machen sie sich viel schneller auf den Weg, nach ein, zwei Tagen. Wie
die palästinensische Tageszeitung al-Quds (Ostjerusalem)
berichtet hat, haben sich Hunderte palästinensischer Jugendlicher,
darunter viele junge Frauen, als freiwillige Schahids gemeldet.
Und in derselben Zeitung standen die Resultate einer Meinungsumfrage,
wonach 64 Prozent aller Palästinenser die Selbstmordattentate für eine
nützliche und legitime Waffe halten.
Die erste Intifada (1987-1990) kam für alle Israelis,
einschließlich Rabin, völlig überraschend und führte am Ende zum
Oslo-Abkommen von 1993. Die zweite Intifada begann vor gut eineinhalb
Jahren. Sie war keine Überraschung, wiewohl niemand vorausgesagt hatte,
welche Form sie dann - infolge der fatalen Spirale von Terror und
Repression - annehmen würde. Der unmittelbare Anlass für diese zweite
Intifada war Scharons provokativer Auftritt auf dem Tempelberg, aber die
wahren Gründe liegen viel tiefer. Schon Monate zuvor hatten israelische
Nachrichtendienste und unabhängige Beobachter gewarnt, die "einfachen"
Palästinenser seien mit ihrer Geduld am Ende. Seit dem Oslo-Abkommen
hatte sich die Zahl der Siedler im Westjordanland verdoppelt. Von den
arbeitsfähigen Palästinensern waren schätzungsweise 60 Prozent ohne Job,
vor allem weil sie von den Arbeitsplätzen in Israel ausgeschlossen
waren. Der Alltag in den besetzten Gebieten wurde zum Alptraum. Die
kollektiven Strafaktionen und Ausgangsverbote, die Abriegelung ganzer
Städte und die Straßensperren versetzten mehr und mehr Menschen in
stumme Wut. Krankenwagen, die Schwangere ins Krankenhaus bringen
sollten, wurden stundenlang aufgehalten. Versorgungsgüter verrotteten in
gestoppten Lastwagen, Geschäfte mussten zumachen. Die Konfiskation von
Land zugunsten der Ausweitung israelischer Siedlungen ging endlos
weiter, uralte Olivenhaine wurden gefällt. Seit Scharon an der Macht
war, wurden 34 neue Siedlungen errichtet. Weitere Grundstücke wurden
enteignet, um die Straßen zu bauen, die palästinensische Städte und
Dörfer umgehen und für palästinensische Fahrzeuge gesperrt sind - nur
damit die Siedler nach Israel und wieder zurückfahren können, ohne auch
nur einen Palästinenser zu Gesicht zu bekommen.
VOR dem 11. September zog es die Regierung Bush
vor, Israelis und Palästinenser in ihrem eigenen Saft schmoren zu
lassen. Nach dem 11. September soll Präsident Bush der Scharon-Regierung
grünes Licht für die Zerschlagung des palästinensischen Terrors gegeben
haben, und zwar mit allen geeigneten Mitteln, nur die Person Arafat
dürfe nicht angetastet werden. Bush und Scharon hatten zwar dieselben
Ansichten, aber nicht dieselben langfristigen Interessen, denn Bush
musste auch darauf bedacht sein, das arabische Lager für seine geplante
Irak-Invasion bei der Stange zu halten. Es mag zutreffen, dass Arafat
die neue Intifada nicht direkt befohlen hat; seine Autonomiebehörde
hatte schließlich gerade 3 Milliarden Dollar allein in den
Tourismussektor investiert. Doch ganz sicher ist er, sobald die Intifada
ausgebrochen war, auf den Zug aufgesprungen. Seitdem hat er die
terroristischen Angriffe mal kritisiert, mal gutgeheißen. Das zeigt,
dass er sie als ein Mittel sieht, das der palästinensischen Sache dient
- ob er sie angeordnet hat oder nicht. Seine Beziehungen zu einigen
terroristischen Organisationen, etwa zu den Al-Aksa-Märtyrerbrigaden,
die er angeblich finanziert, oder zur Hamas dürften nicht einfach sein,
ja vielleicht ähnlich schwierig wie die Beziehungen des israelischen
Staatsgründers David Ben-Gurion zu den jüdischen Terrororganisationen,
die zwischen 1944 und 1948 die englische Mandatsmacht bekämpften, und
selbst zur offiziellen Haganah.(3)
Scharon glaubte fest, die neue Intifada mit
Gewehrkugeln und handgreiflicher Gewalt eindämmen zu können, also ohne
über ihre ursächlichen Bedingungen zu verhandeln. Sein politischer
Horizont ist offenbar noch derselbe wie 1982, als er die katastrophale
Libanon-Invasion inspiriert und gesteuert hat. Sein Mantra lautet, ein
Abkommen mit den Palästinensern sei nur zu erreichen, wenn man sie
zuerst "kräftig verprügelt" habe, wie er es im März formulierte. Wie
viele ehemalige Militärs denkt Scharon in rein quantitativen Kategorien.
In einem Interview erzählte er, auf seinem Nachttisch liege "A Savage
War of Peace", das Buch von Alistair Horne über Algerien. Und trotzdem
lautet sein Credo nach wie vor: Wo Zwang und Gewalt erfolglos bleiben,
führen schließlich nur noch mehr Zwang und Gewalt zum Erfolg.
Scharons Verhältnis zu Arafat ist vorwiegend emotional
und erratisch. Zuerst verlangte er von Arafat, er solle die Kämpfer der
Tansim (…) an die Kandare nehmen und die Fundamentalisten der Hamas
unterdrücken. Dann ließ Scharon die Gefängnisse und Gebäude von Arafats
Sicherheitskräften systematisch bombardieren und zerstören - also die
einzigen Instrumente, mit denen die palästinensische Regierung diese
Aufgabe hätte erledigen können. (…) An einem Tag erklärte er Arafat für
"irrelevant", am anderen behauptete er, Arafat stecke hinter allen
Terroraktionen. Außenminister Schimon Peres bedrängte Scharon, er solle
Arafat den Abzug aus seinem Hauptquartier in Ramallah gestatten. Doch
der Regierungschef hielt Arafat in seinen zwei Räumen im zerstörten
Hauptquartier eingesperrt und ließ ihm auch wiederholt den Strom
abstellen und sein Mobiltelefon stören, während vor dem Gebäude
israelische Panzer Tag und Nacht ihre Motoren dröhnen ließen.
Obwohl Außenminister Peres und Scharons eigene
Geheimdienstexperten davon abrieten, ließ er nicht zu, dass Arafat zu
der Konferenz der Arabischen Liga nach Beirut fuhr, die dann den
saudischen Friedensplan befürwortete. "Wir demütigen ihn
unnötigerweise", soll Peres laut Ha'aretz zu Scharon gesagt
haben. Dasselbe sagte Peres zu US-Vizepräsident Richard Cheney, der
während seiner Nahostreise ein Treffen mit Arafat verweigerte, solange
dieser den Gewalttaten von Palästinensern nicht ein Ende setzte. Peres
versuchte vergebens, Cheney mit dem Argument umzustimmen: "Wir müssen
Arafat ermöglichen zu handeln. Wir müssen wieder vorankommen." Doch
Cheneys Antwort lautete (nach demselben Bericht, der sicher auf Scharons
Leute zurückgeht und Peres blamieren sollte): "Ich schätze den
Außenminister und seine Bemühungen. Aber in diesem Punkt bin ich nicht
seiner Meinung."
Arafat ist Scharons Nemesis, schon seit der Belagerung
von Beirut 1982. Vor kurzem erst hat Scharon es ausdrücklich bedauert,
dass er Arafat damals nicht getötet hat. Scharons Fixierung auf Arafat
hat dessen sinkendes Ansehen bei den Palästinensern wieder aufleben
lassen. Offen bleibt dabei allerdings, ob damit auch seine Macht
zugenommen hat, die verschiedenen palästinensischen Fraktionen zu
zügeln, die sich an extremistischer Militanz zu überbieten suchen. Bei
den anderen Arabern und unter Muslimen von Marokko bis zu den
Philippinen ist Arafat zu einem mythischen Helden geworden. Er ist
vielleicht der größte Überlebenskünstler der neueren Geschichte: Seit
fünfzig Jahren schafft er es auf unnachahmliche Weise, jede Niederlage
und jede Schwäche in einen strategischen Vorteil zu verwandeln. Und als
Führer der Palästinenser hat er noch immer keinen ernsthaften
Konkurrenten. Auf seinen Ruf nach "tausend Schahids, tausend
Schahids" folgten inzwischen die vernichtendsten Attacken, die den
Palästinensern in ihrer Geschichte je widerfahren sind.
In Jerusalem fühlte man sich im März und April wie
unter Belagerungszustand. Ich lebte hier auch 1948, während der langen
Belagerung der Stadt durch die Truppen der Arabischen Legion. Damals lag
die Universität auf dem Skopusberg, einem isolierten militärischen
Außenposten, der nur mit einem gepanzerten Fahrzeug zu erreichen war.
Monatelang war die Universität geschlossen, entlang der Grenze zwischen
jüdischen und arabischen Vierteln tobten erbitterte Häuserkämpfe. Es gab
kein Wasser, keinen Strom, und außer Bohnen, Reis und wilden Kräutern
kaum etwas zu essen, auf Wohnsiedlungen gingen Artilleriegeschosse
nieder, auf den Straßen wurden Passanten von Mörsergranaten getötet.
Aber damals herrschte nicht dieselbe Angst oder das Endzeitgefühl wie
heute auf den Straßen von Jerusalem. Im Gegenteil, nach der
Unabhängigkeitserklärung Israels herrschten Begeisterung, Stolz und die
Hoffnung, eine gute Zukunft vor sich zu haben. Und es gab
verantwortliche, rhetorisch überzeugende und glaubwürdige
Führungsfiguren, die dem belagerten Volk ein Gefühl der Hoffnung, eine
positive Perspektive zu geben vermochten.
Im April 2002 dagegen herrschte fast überall eine
düstere Stimmung. Die Altstadtviertel, wo sich einige der Schahids
an belebten öffentlichen Orten in die Luft gesprengt hatten, waren
weitgehend entvölkert. Die Geschäfte waren geschlossen. Es waren kaum
Leute zu sehen, und wenn, dann waren es meist schwer bewaffnete Armee-
und Polizeipatrouillen. Es fuhren kaum Autos. Hilfspolizeikräfte
stoppten voluminös gekleidete Fußgänger oder Autos, deren Fahrer auch
nur den kleinsten Verdacht erweckten. Immer wieder wurden die Ausweise
kontrolliert. In den anderen Stadtvierteln standen bewaffnete Wachposten
vor halb leeren Cafés. Einige Restaurants boten Essen nur zum Mitnehmen.
In einem Supermarkt wurde ich an der Tür aufgefordert, mich mit
erhobenen Händen und dem Gesicht zur Wand aufzustellen, während ein
Wachtposten an meinen Hosen herumfingerte und mit einem Metalldetektor
meinen Pullover absuchte. Die Busse waren halb leer, die Leute hielten
sie zu Recht für gefährlich. Die Läden schlossen vor Einbruch der
Dunkelheit, was zu dieser Jahreszeit etwa fünf Uhr bedeutet.
An der Wand der Nationalbibliothek kann man Graffiti
lesen wie "Tod den Arabern" oder "Ohne Araber keine Toten - ohne Linke
keine Toten". Jemand hat darunter geschrieben "Ohne Gott keine Toten".
Über eine Woche lang war ich einer von zwei oder drei Lesern, die im
Bibliothekslesesaal der Hebrew University auf ihre bestellten Bücher
warteten, zu normalen Zeiten werden hier täglich über 20 000 Studenten
bedient. Im Warteraum einer überfüllten Klinik hörte ich, wie eine
Krankenschwester mit drohender Stimme in ein Telefon sprach, das gesamte
Personal werde in Streik treten, wenn nicht binnen einer Stunde ein
Polizist an der Tür stehe, um alle Leute zu durchsuchen, die
hereinkommen wollen. "Wir wollen kein Kanonenfutter sein", schrie sie.
Die wartenden Patienten blickten sich an, bleich und verwirrt. Ich
schlug die Morgenausgabe der Ha'aretz auf und las einen Bericht
über die Stimmung in Jerusalem: "Die Menschen hasten durch die Straßen
und werfen immer wieder einen Blick über die Schulter", schrieb der
Reporter. Am Ende zitierte er den britischen Generalkonsul Bernard
Montgomery, der 1939 anlässlich der jüdisch-arabischen Unruhen
geschrieben hatte: "Der Jude tötet den Araber und der Araber tötet den
Juden. Derartiges geschieht im heutigen Palästina, und wahrscheinlich
wird es auch die nächsten fünfzig Jahre so sein."
Die Bereitschaft zu langen Abnutzungskriegen scheint
bei den Menschen heute nicht so groß zu sein wie vor dreißig oder
vierzig Jahren. Jeden Tag zeigt man im Fernsehen, wie die Opfer des
Terrors zu Grabe getragen werden. Von jedem mörderischen Anschlag gibt
es Liveberichte, die häufig nur wenige Minuten nach dem Anschlag
beginnen und sich über Stunden hinziehen, mit atemlosen Schilderungen
des Geschehens und Schätzungen über die Zahl der Opfer, die alle paar
Minuten korrigiert werden. In den Wohnzimmern tritt bei jeder Nachricht
über einen neuen Terrorangriff tödliche Stille ein; der Fernseher wird
eingeschaltet, Filme und Unterhaltungsprogramme werden unterbrochen, um
das Neueste zu zeigen: auf dem Bildschirm zerfetzte Leiber und
Interviews mit Augenzeugen, Polizeichefs, Politikern, Bürgermeistern,
Ärzten und Erste-Hilfe-Teams. Immer und immer wieder zeigen sie dir
dieselben Blutflecken auf dem Teppich, denselben in die Luft gesprengten
Bus, dieselben zerstörten Tische und Stühle, und immer wieder hört man
dieselben atemlos-verzweifelten Spekulationen über das Geschehen und
über das, was wahrscheinlich als nächstes geschehen wird.
VOR den militärischen Einfällen ins
Westjordanland hatte sich Scharon nur selten öffentlich geäußert. Er ist
kein guter Redner. Nach Terrorangriffen pflegte er lediglich zu sagen:
"Ich bin enttäuscht, aber nicht überrascht." Scharon spricht, wie Uzi
Benziman in Ha'aretz geschrieben hat, wie ein Mann, der sich auf
seine Verteidigung vor einem zweiten nationalen Untersuchungsausschuss
vorbereitet (nach dem ersten über die Ereignisse von Beirut 1982). In
Israel gibt es keine öfffentliche Figur, die - wie der New Yorker
Bürgermeister Rudolph Giuliani - beruhigend auf die Israelis eingewirkt,
ihnen Mut zugesprochen hätte. Nach dem schrecklichsten Massaker im April
in Jerusalem fand sich der Bürgermeister wie immer kurz danach am Ort
der Katastrophe ein und sprach vor einer ganzen Batterie von Mikrofonen
und Fernsehkameras. Ich sah zu, wie er mit erstarrtem Gesicht sagte:
"Ich hab's euch gesagt!" Und um jeden Zweifel auszuräumen, fügte er
hinzu: "Das ist nicht das letzte Mal. Es wird noch mehr passieren."
Das Fernsehen gibt auch allen möglichen Verrückten die
Gelegenheit, ihre Meinung zum Besten zu geben. So fordert ein rechter
Politiker, man müsse allen israelischen Arabern das Wahlrecht entziehen
und alle Palästinenser aus den besetzten Gebieten ausweisen. Scharon
selbst verurteilt solche Vorschläge nie, er bezeichnet sie lediglich als
"nicht durchführbar". Ein rechter Knesset-Abgeordneter namens Benny Elon
fordert, alle "Linken" ins Gefängnis zu stecken. Exgeneral Effi Eitam,
ein fanatischer Siedler, der sich zu einem religiösen Fanatiker
gewandelt hat, will den israelischen Arabern ebenfalls das Wahlrecht
entziehen, schließlich sei Israel zum alleinigen Herrscher über das Land
"bestimmt". Er proklamiert als sein großes persönliches Ziel, sich zum
würdigen Nachfolger von Moses und König David aufzuschwingen. Inzwischen
ist er seinem Ziel ein bisschen näher gekommen: Er trat als Minister in
die Regierung Scharon ein und gehört dem inneren Sicherheitskabinett an.
Die Qualität des Führungspersonals ist bei den
Israelis wie bei den Palästinensern auf einem Tiefpunkt angelangt. Noch
vor eineinhalb Jahren sprachen prominente Palästinenser durchaus
kritisch über Arafat: wegen seiner Haltung in den Friedensverhandlungen,
wegen seiner unfähigen Verwaltung, wegen der Korruption in seiner
Regierung. Doch solche Kritik ist verstummt, weil er als Gefangener
Scharons zum unangreifbaren Gott geworden ist. Aber auch in Israel gibt
es keine ernsthafte politische Opposition gegen Scharon. Die
erstaunliche Mittelmäßigkeit der israelischen Politiker, der Mangel an
eindrucksvollen Führungsfiguren in den letzten zehn Jahren, mag als
äußerliches Phänomen das normale Resultat einer vom Fernsehen
dominierten Politik sein, doch es gibt auch tiefere Gründe, die im
politischen System selbst liegen. Und die Versuche, die verzerrende
Wirkung des Wahlsystems zu korrigieren, etwa durch einen gesonderten
Wahlgang für die Wahl des Ministerpräsidenten, haben alles nur noch
schlimmer gemacht.
DAS Wahlvolk ist verständlicherweise verwirrt.
Vier Fünftel der jüdischen Bevölkerung stehen nach den jüngsten
Meinungsumfragen hinter Scharons Strafexpeditionen ins Westjordanland
mit all ihren Schrecken. Aber zugleich befürworten drei Fünftel den
saudischen Vorschlag, zu einem Frieden zu kommen, falls sich Israel auf
die Grenzen von 1967 zurückzieht. Scharon wird kaum kritisiert,
lediglich Netanjahu und die äußerste Rechte werfen ihm vor, nicht hart
genug zu sein, während die äußerste Linke und ein halbes Dutzend
liberaler Zeitungskolumnisten ihn als zu hart kritisieren. Der bekannte
Satiriker B. Michael hat in der Zeitung Jediot Aharonot vom 12.
April folgenden Aufruf veröffentlicht:
Hilfe! (Leser, die am Meer wohnen, werden
aufgefordert, diesen Zettel auszuschneiden, ins Englische zu übersetzen,
sauber zusammenzufalten, ihn in eine verkorkte Flasche zu stecken, diese
ins Meer zu werfen - und dann auf das Beste zu hoffen.) An alle guten
Menschen, die diesen Zettel finden: Diese Nachricht erreicht Sie von
Männern, Frauen und Kindern, die auf einem isolierten Landstrich im
Nahen Osten gestrandet sind. Wir sind rechtschaffene Menschen, aber
infolge eines schweren Wahlunfalls auf Gedeih und Verderb einer Gruppe
besonders dummer politischer Führer ausgeliefert, die überwiegend
Generäle, Obristen, Klerikale und andere Schurken sind.
Diese schlechten Menschen glauben allen Ernstes,
Gott selbst habe sie angewiesen, einen endlosen Kampf um ein paar
wertlose Fetzen Grund und Boden und ein paar heilige Totempfähle zu
führen. Sie zwingen uns, ihre Kriegsspiele mitzumachen, sie zu
finanzieren und manchmal auch eine aktive Rolle zu übernehmen.
Wenn Sie diesen Zettel finden, bringen sie ihn
bitte zu unseren Führern. Dies ist unser letztes Kommunikationsmittel.
Die Fernsehkanäle und Radiosender, die wir bis vor kurzem hätten
benutzen können, sind unter die Kontrolle der Regierung und ihrer
Handlanger gefallen … Nahrungsmittel und Wasser haben wir noch, aber
unser Vorrat an gesundem Menschenverstand ist bis auf wenige Tropfen
aufgebraucht.
Volksfront für die Befreiung der normalen Menschen
(PFLNP)
Arafat und Scharon verfolgen beide eine politische
Linie des geringsten inneren Widerstands. Die "nationale Koalition"
Scharons reicht von den verrücktesten Randgruppen der Rechten bis zu
Schimon Peres und anderen Vertretern der Arbeitspartei auf der
gemäßigten Linken. Von Peres ist die Äußerung verbürgt, er wäre nicht in
die Koalition eingetreten, wenn er gewusst hätte, wo Scharon das Land
hinführt. Heute bleibt er nach eigenen Aussagen nur in der Regierung "um
das Schlimmste zu verhindern". Scharon gibt sich größte Mühe, ihn im
Kabinett zu halten, und will damit vor allem die Amerikaner beruhigen.
Peres hat Scharon in einigen Situationen im Zaum gehalten. So hat er ihn
von dem Plan abgebracht, Arafat zu verhaften - ein Zugeständnis, für das
Scharon von der Rechten heftig kritisiert wurde. Die jüngste Erweiterung
des Kabinetts um General Eitam und einen zweiten Hardliner namens David
Levy reduziert die bescheidenen Machtmittel, die Schimon Peres und der
Arbeitspartei innerhalb der Regierung verblieben sein mögen.
Vor diesem trostlosen Hintergrund tauchte plötzlich
aus dem Nichts eine Protestbewegung von aktiven Offizieren und
Reservisten auf, die sich Seruv ("Verweigerung") nennt. Die Gruppe
erregte eine Zeit lang beträchtliches Aufsehen, aber die Presse hatte
ihr Interesse bald wieder verloren. Die verweigernden Reservisten
erklärten öffentlich, sie würden keinen Wehrdienst "jenseits der Grenzen
von 1967 leisten, nur um ein ganzes Volk zu beherrschen, zu vertreiben,
auszuhungern und zu erniedrigen". Da aber lediglich zwei oder drei
Knesset-Abgeordnete - und nur wenige Journalisten - bereit waren, sich
ihrer Sache anzuschließen, blieb ihre Aktion ohne unmittelbare
politische Wirkung. Und selbst die alternden Führungsleute der
Peace-Now-Bewegung und der linken Oppositionspartei Meretz konnten sich
nach quälenden Diskussionen nicht dazu durchringen, sich für die neue
Bewegung stark zu machen.
Peace Now war ursprünglich einmal eine Bewegung von
Reserveoffizieren, die sich ebenfalls als politische "Tauben"
verstanden. (…) Jetzt äußerten die Peace-Now-Führer über Seruv: "Wir
haben Verständnis und Sympathie für ihre Gefühle, aber wir rufen nicht
zur Verweigerung aus Gewissensgründen auf." Das Kalkül dieser Politik
entspringt der Sorge, Peace Now könnte in der israelischen Armee an
Rückhalt einbüßen, wenn man sich hinter Seruv stellte. Das ist eine
eigenartige Position für eine außerparlamentarische Protestbewegung, von
der man annehmen sollte, dass ihre Politik nicht auf Meinungsumfragen,
sondern auf moralischen Prinzipien basiert. Dabei fordert Peace Now sehr
wohl die "Räumung besetzter Gebiete", zur Not auch als einseitige
israelische Vorleistung. Vor zwanzig Jahren war die Bewegung noch
imstande, bis zu 400 000 Israelis auf die Beine zu bringen. Dieses Jahr
kamen zu ihrer größten Demonstration nur 20 000 Menschen. Die linke
Meretz-Partei begründete ihre Distanz zu Seruv mit der Aussage, sie
halte die Weigerung, in den besetzten Gebieten Militärdienst zu leisten,
für "undemokratisch".
Ein Vertreter von Seruv hat mir erläutert, wie
schockiert er über den engstirnigen Formalismus dieser Kritik und über
den "Opportunismus" der Peace-Now-Leute sei: "Sie weigern sich zu sehen,
dass wir, wenn die Dinge so weiterlaufen, hier bald keine Demokratie
mehr haben werden. Die staatlichen und privaten Fernsehkanäle sind
bereits mundtot gemacht. Und die Presse wird zunehmend konformistisch."
Seruv begann im Februar 2002, als 200 Reservisten, zumeist Offiziere und
Unteroffiziere, ihre Namen ins Internet stellten. Bis Mitte April waren
es 411 geworden. Um einen Skandal zu vermeiden, verzichtete die Armee
zunächst darauf, sie zum Reservedienst anzufordern. Anfang April wies
Scharon die Armee an, die Verweigerer ("Refusniks")
zu einem freundlichen Gespräch vorzuladen. Inzwischen sind einige
dutzend Refusniks im Gefängnis, wo sie bis zu achtundzwanzig Tage
einsitzen. Und zwar aufgrund von Disziplinarstrafen, die ihre
vorgesetzten Offiziere verhängt haben. Wenn sie sich weiterhin weigern,
jenseits der grünen Linie (also jenseits der völkerrechtlichen Grenzen
Israels) zu dienen, könnten sie im nächsten Schritt vor ein
Militärgericht gestellt oder sogar strafrechtlich verfolgt werden. Noch
ist nicht klar, ob die Armee es riskieren wird, sie in einem
öffentlichen Gerichtsverfahren anzuklagen, über das israelische und
ausländische Zeitungen berichten und bei dem sie einen Rechtsbeistand
haben würden. Es besteht für die Armeeführung kein Handlungsbedarf, denn
angesichts des ständig verschärften Gewaltniveaus haben sich angeblich
für jeden ins Gefängnis geschickten Refusnik etwa hundert noch
nicht eingezogene Reservisten zum aktiven Dienst gemeldet.
DIE Friedensmission von US-Außenminister Colin
Powell im April hat kaum ein erkennbares Ergebnis gebracht. (…)
Palästinensische und israelische Kommentatoren sind einhellig der
Meinung, Powells politisches Mandat sei zu vage formuliert gewesen.
Deshalb war es keine Überraschung, dass die Situation nach Abschluss
seiner Mission schlechter war als zum Zeitpunkt seines Eintreffens in
der Region. (…)
Auch aus dem Vorschlag Scharons, eine
Nahost-Friedenskonferenz - ähnlich der Madrider Konferenz nach dem
Golfkrieg - abzuhalten, wird nichts werden, wenn Arafat daran nicht
teilnehmen darf. Dasselbe gilt für die Forderungen Arafats nach einer
internationalen Truppe als Puffer zwischen Palästinensern und Israelis.
Nach wie vor stehen israelische Panzer rings um die wichtigsten
palästinensischen Städte, um jederzeit wieder einrücken zu können. Und
palästinensische Kämpfer sollen dabei sein, sich für einen
Untergrundkampf zu reorganisieren. Der erbitterte Streit über die Frage,
was sich bei den Kämpfen im Flüchtlingslager Dschenin abgespielt hat,
musste die Atmosphäre nur noch weiter vergiften. Angesichts der völlig
starren Haltung praktisch aller Konfliktbeteiligten ist für die Zukunft
im Grunde nur eine Prognose sicher: Das Blutvergießen wird weitergehen.
aus dem Engl. von Niels Kadritzke
Fußnoten:
(1) Siehe "The Blood Lust of Identity", New York Review vom
11. April 2002.
(2) Nach dem israelischen Sieg im Sechstagekrieg im Sommer 1967 haben
Dan Bavly (später Vizechef des Geheimdienstes Mossad) und David Kimche
(später Staatssekretär im Außenministerium) diese Möglichkeit mit
prominenten Palästinensern in den besetzten Gebieten diskutiert. In
ihrem Bericht schrieben sie, dass ein Separatfrieden zwischen Israel und
den Palästinensern des Westjordanlandes durchaus möglich sei, dieser
Bericht wurde dem israelischen Kabinett offenbar nie vorgelegt. Aber
Bemühungen in dieser Richtung wären damals, in der Hybris der ersten
Monate nach dem israelischen Sieg, wohl auch abgelehnt worden.
(3) Die Haganah war die bewaffnete Untergrundverteidigungskraft der
zionistischen Bewegung vor der Staatsgründung Israels.
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haGalil onLine 20-06-2002 |