 
Nach einer blutigen Woche ist es kein Wunder, dass
die israelische Öffentlichkeit über die anhaltende Tatenlosigkeit der
Regierung frustriert und enttäuscht ist:
"Nationale Einheit ist sicherlich wichtig,
aber sie muss das Mittel sein, nicht das Ziel. Im Namen der Einheit
glitt der Staat in eine unerträgliche Sicherheitslage und eine schwere
Wirtschaftskrise ab. Im Namen der Einheit neutralisieren sich die
Minister gegenseitig. Die Regierung Sharons läßt sich in einem Wort
zusammenfassen: Versagen. Aber den Preis für dieses Versagen zahlen wir
alle". M'ariw 24-06-02
Fünf vor Zwölf?
Schalom Sharon!
"Unser Heil wird nicht von der Regierung kommen. Sie
ist gelähmt. Sharon, der Frieden und Sicherheit versprach, wagt jetzt
nichts mehr zu versprechen. Er steht an der Spitze einer großen,
gefügigen Regierung, doch er benimmt sich wie ein Wasserträger, dem zwei
volle Eimer von den Schultern herabbaumeln und der sich bemüht, die
Balance zwischen Rechts und Links nicht zu verlieren", schreibt Yaron
London in einem Leitartikel für Jedioth achronoth.
"Er bringt keine irgendwie geartete kreative Idee
zustande. Bitter und niedergeschlagen, wie er ist, kann er sich nicht
einmal zu einem der demagogischen Bravourstückchen aufraffen, die er
früher aus dem Ärmel schüttelte. Vor den 25 frischen Gräbern der
Israelis, die (vor acht Tagen) innerhalb von 24 Stunden ermordet wurden,
bleibt diesem mutigen Mann nur eine mutige Tat übrig: seine Niederlage
einzugestehen und seinen Hut zu nehmen".
Sima Kadmon (ebenfalls Jedioth) meint es sei "Fünf
vor zwölf für Sharon": "Trotz seines unglaublichen Erfolgs in den
Meinungsumfragen ziehen die Tricks und Manöver, die dem
Ministerpräsidenten Ansehen verschafft haben, jetzt nicht mehr:
"Im Hinblick auf die Sackgasse muss es jetzt
Entscheidungen treffen. Das Problem ist nur, dass er kein Programm hat,
weder ein politisches noch ein militärisches oder wirtschaftliches...
Das Problem Sharons ist, dass er keine Alternative vorbereitet hat.
Wenn man ihn fragen würde, was er tun würde, wenn ihm
alles gelungen wäre, wenn alles nach seinem Wunsch abgelaufen wäre -
würde er wahrscheinlich keine Antwort haben. Barak würde auf diese Frage
antworten, er wollte ein Friedensabkommen unterzeichnen. Netanjahu würde
sagen, er wollte die palästinensische Führung beseitigen. Sharon hat
jedoch kein Programm. Er sprach von einem palästinensischen Staat, ist
jedoch im letzten Moment davor zurückgeschreckt.
Und eine militärische Lösung? Man kann nur noch lachen,
oder weinen, wenn man daran denkt, dass er vor einem Jahr erklärt hat,
er habe eine Lösung für den Terror gefunden. Die Regierung berät über
den Sicherheitszaun. Von Anfang an wollte Sharon diesen Zaun nicht.
Wegen Drucks von Ben-Elieser wurde eine schnelle
Entscheidung getroffen. Es gibt genügend Leute, die alles dafür tun
werden, ihn von dieser Entscheidung wieder abzubringen. Die Siedler, die
Rechte, der Likud. Sharon kann diesem Druck nicht widerstehen. Er wird
Änderungen im ursprünglichen Plan vornehmen müssen. Der geplante Zaun
wird noch vor seiner Errichtung zusammenbrechen.
Was Sharon noch bleibt, sind die Umfragen. Das Problem
ist nur, dass die Ereignisse den Umfragen voraneilen. Wie es jetzt
aussieht, siegt Sharon vielleicht in den Umfragen, verliert jedoch in
der Realität".
Etwas irrationales tun!
Im Zuge allgemeiner Ratlosigkeit ruft
Uria Shavit in M'ariw zum irrationalen Handeln auf. Nach
dem nächsten Anschlag solle man den Scheich Jassin wie jeden anderen
Kriegsverbrecher vor Gericht stellen und hinrichten. Der einzige Weg,
den irrationalen Selbstmordterror zu stoppen, sei es, selbst etwas
Irrationales zu tun, einen Akt grundlegender Gerechtigkeit, ohne an das
Morgen zu denken. Ein solcher Akt würde der Weltöffentlichkeit
signalisieren, dass Israel sich erniedrigt fühlt, dass es erschöpft und
so empört über die Massaker in seinen Städten ist, dass es zu allem
bereit ist, was die Rachegelüste seines Volkes befriedigen kann und die
USA und die arabischen Staaten endlich zwingen wird, etwas gegen den
Selbstmordterror zu unternehmen.
Italo-Western
Nir Baram (M'ariw) empfindet das Leben in Israel
inzwischen als Italo-Western: "Sharon und Peres sind dafür
verantwortlich, dass wir die Todesroutine als selbstverständlich
akzeptieren und aufgehört haben, eine Alternative des Lebens zu suchen!"
Den drohenden Frieden instinktiv verhindern
Beni Michael (Jedioth) versucht es mit Satire. Er ist
der Meinung, dass die Politik der Sharon-Regierung besser mit
darwinistischen Überlebensinstinkten als mit psychologischen Analysen
erklärt werden sollte. Was als schier endlose Serie von Narrenstreichen
und Torheiten, Fehlentscheidungen und Desasterrezepten erscheint, ist
letztlich doch nur ein automatischer, intuitiver Überlebensreflex. Ziel
dieses Reflexes ist es sich den drohenden Frieden vom Leib zu halten und
den Krieg zu verlängern.
Leider hat diese Theorie keine praktische Nutzanwendung, denn hoffen kann
man nur in einem Staat, in dem auch eine ‘politische Ebene’ existiert.
In einem solchen Staat werden Politiker nicht nur auf den
darwinistischen Blödsinn hören, den ihnen die Militärs erzählen.
In einem Staat, in dem die ‘politische Ebene’ aber aus einem Duo alter
Generäle (und einem politischen Waschlappen, der ihnen diplomatische
Rückendeckung gibt) besteht, ist eine solche Chance äußerst gering.
haGalil onLine 26-06-2002 |