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Judentum und Israel
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Jüdische Weisheit
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Wie einst die Zeloten:
Nicht eine Sekunde!

Der Kampf gegen Arafat, der israelische Fundamentalismus und der Hang zur Selbstzerstörung

Von Richard Chaim Schneider
Süddeutsche Zeitung, 18.09.2003

Viele Beobachter, selbst solche, die Israel mit Sympathie begegnen, schütteln den Kopf angesichts der Ankündigung, man wolle Arafat ausweisen oder gar töten. Wie dumm muss eine Regierung sein, die nicht begreift, welche Gegenreaktion solche Aussagen auslösen?

Entscheidungen wie diese lassen darauf schließen, dass in der israelischen Politik, um nicht zu sagen in der israelischen Gesellschaft, ein Hang zum kollektiven Selbstmord zu finden ist. Immer noch wird Israel als einzige Demokratie des Nahen Ostens bezeichnet, doch diese ist in Gefahr unterzugehen. Nicht, weil der Zionismus eine gescheiterte Ideologie ist, sondern weil er sich in den vergangenen Jahrzehnten von seinen säkularen Wurzeln entfernt hat und von religiösen und nationalistischen Gruppen okkupiert wurde.

So mancher israelischer Intellektuelle denkt darüber nach, ob ein jüdischer Staat auch ein demokratischer Staat sein kann. Doch solche Denker mag man im eigenen Land überhaupt nicht. Sie gelten als Verräter oder als Verrückte, die man in ihrer akademischen Karriere beschneidet wie den Philosophiedozenten Moshe Shneer, der wohl nie einen Lehrstuhl an der Universität Tel Aviv oder Jerusalem bekommen wird.

Die Mehrheit der aufgeklärten Israelis hält den Fanatismus nationalreligiöser Gruppen und Parteien für ein Missverständnis. Diese Fundamentalisten verrieten die Ideale des Judentums, sagen sie. Doch sie irren, wie Moshe Shneer und andere immer wieder betonen. Der jüdische Liberalismus, wie ihn die Haskala, die jüdische Aufklärung, propagierte, ist gerade mal dreihundert Jahre alt. Die Wurzeln des jüdischen Fundamentalismus hingegen liegen in der Zeit des babylonischen Exils.

Als der persische König den Juden erlaubte, nach Zion zurückzukehren, machte sich nur ein Teil auf den beschwerlichen Rückweg. Unter denen, die sich, geführt von dem Gelehrten Esra, erneut im Gelobten Land niederließen, entwickelte sich bald eine, wie wir es heute nennen würden, "rassistische" Gesellschaft. In jener Zeit entstand der Begriff "sera hakodesch", der heilige Samen, als Metapher für die jüdische Ethnie. Esra verlangte, alle Juden müssten sich von ihren nichtjüdischen Ehepartnern trennen, die sie im babylonischen Exil geheiratet hatten, ja sogar von ihren nichtjüdischen Kindern. In der Realität setzte sich Esra nicht durch, doch der Gedanke einer strikten "Mauer" zwischen Juden und Nichtjuden war geboren.

Esras Absolutismus setzte sich auf vielerlei Weise im jüdischen Denken fort. In einem Nebentext zum Talmud wird die Frage diskutiert, ob man nach einem Einsturz eines Gebäudes in dessen Ruinen nach Überlebenden graben und sich somit in Lebensgefahr begeben soll. Die Antwort lautet: Wenn wir nicht wissen, ob sich unter den Trümmern ein Jude befindet, dann graben wir, wenn wir wissen, dass sich unter den Trümmern kein Jude befindet, dann graben wir nicht.

Aus heutiger Sicht reagieren wir empört über solche rabbinischen Entscheidungen, doch dies unterstellt, heutige Maßstäbe an eine längst vergangene Zeit anzusetzen – solche Maßnahmen waren für die Erhaltung der spirituellen Identität einer kleinen Gruppe in einer feindlichen Umwelt überlebensnotwendig.

Das Problem liegt in der Gegenwart. Denn im modernen Israel haben nationalreligiöse Parteien und orthodoxe Rabbiner solches Denken unbefragt übernommen. Und können in ihrem Starrsinn auch noch darauf setzen, dass sie auf der Seite des göttlichen Gesetzes stehen – dank Nehemia verpflichtete sich die jüdische Elite im Jahre 444 vor Christus vertraglich erneut, nur dem göttlichen Gesetz zu folgen. Auch das hatte damals Sinn, immerhin ging es darum, den Monotheismus und die Ethik der Thora vor Götzendienst und Ausschweifungen der Umwelt zu bewahren.

Doch welche Konsequenzen hat dieser Vertrag? Rabbi Akiba, die wichtigste rabbinische Gestalt des Talmuds, erklärte, dass die Rabbinen das Wort Gottes fortsetzen. Er meinte damit neben den fünf Büchern Moses die so genannte mündliche Überlieferung, die später im Talmud schriftlich niedergelegt wurde. Daraus folgt, dass die Rabbinen mit ihren Entscheidungen nicht ein eigenes, menschliches und also fehlbares Urteil fällen, sondern stets die Worte Gottes wiedergeben und somit zu "Boten der Thora" werden.

Wie einst die Zeloten

Für die Rechtssprechung des heutigen Israel ist diese Überzeugung fatal. Als der Oberste Gerichtshof vor einigen Jahren Arie Deri, damals Innenminister und Vorsitzender der sefardisch-orthodoxen Schas-Partei, zu drei Jahren Gefängnis wegen Unterschlagung verurteilte, besaß der Staat zwar die Machtmittel, Deri ins Gefängnis zu bringen – doch dessen religiöse Gefolgschaft akzeptierte das Urteil keineswegs. Rabbi Ovadia Joseph, religiöser Mentor der Schas und einer der wichtigsten Rabbiner Israels, nannte Deri "Daatid Daath Thora", einen Verkünder der Botschaft der Thora. Auf diese Weise wird die Autorität der weltlichen Judikative langfristig untergraben.

Daneben gibt es eine zweite Tendenz in der jüdischen Geschichte, die für das moderne Israel gefährlich ist: Im dritten Jahrhundert nach Christus wurde das Studium der Thora zur einzig richtigen Beschäftigung für einen Juden erhoben. Wieder war es Rabbi Akiba, der diese Idee vorantrieb. Er, der in der jüdischen Tradition fast so verehrt wird wie Moses, hatte als realer Mensch etwas zutiefst unmenschliches. So verließ er am Morgen nach der Trauung seine Frau, um sich zwölf Jahre dem Thorastudium zu widmen. Als die Römer das Studium der heiligen Texte verboten, setzte er sich mitten auf einen Platz und lernte. Auf die Frage, ob er keine Angst habe, erwiderte er nur grob: "Es gibt nur eine Form jüdischer Existenz und das ist die des Thorastudiums. Nicht eine Sekunde darf ich das Studium unterbrechen!" Rabbi Akiba wurde schließlich von den Römern für seine geistigen und politischen Überzeugungen (er hatte den Bar Kochba-Aufstand unterstützt) "belohnt": Sie verbrannten ihn. Und nach der Legende war er glücklich, zum Märtyrer zu werden. Die Bewunderung für sein Märtyrertum gehört zur der Erziehung der "Bnei Akiba", einer nationalreligiösen Jugendorganisation, deren ideologische Folgen in der Siedlerbewegung zu finden sind.

In Rabbi Akibas Weltanschauung steht die absolute Einhaltung der Glaubensregeln vor den Anforderungen des täglichen Lebens. Die Notwendigkeiten, die eine andere Zeit und andere Umstände erfordern, werden von jenen in Israel, die sich diesem falsch verstandenem Ideal verschrieben haben, schlicht abgelehnt. Denn die Wahrheit liegt in den heiligen Texten, also in der Vergangenheit, nicht in der Gegenwart und schon gar nicht in der Zukunft.

Rabbi Shimon Bar Yochai, ein weiterer großer Rabbiner, hatte sich zwölf Jahre zur Meditation in eine Höhle zurückgezogen. Als er die Höhle verließ und einen jüdischen Bauern sah, der sein Land umpflügte, war er so entsetzt, dass er sich erneut auf Jahre in die Höhle zurückzog, weil sich das jüdische Volk solch irdischen Dingen widmete. Auch Rabbi Bar Yochai wird heute sehr verehrt. Doch war es nicht der frühe Zionismus, der die Bebauung der eigenen Scholle zum Ideal erhoben und sich gegen eben diese Tendenz in der jüdischen Tradition wandte?

Das Denken eines Rabbi Akiba, eines Rabbi Shimon Bar Yochai hatte in ihrer Zeit durchaus seine Berechtigung. Anders hätte sich das Judentum wohl kaum in 2000 Jahren Diaspora erhalten. Doch nun hat das jüdische Volk wieder einen Staat. Also fordern Moshe Shneer und andere, Israel sollte sich eine post-rabbinische Kultur geben, die alle undemokratischen Tendenzen verbannt: das Märtyrertum, die Abkehr vom Physischen zugunsten des Metaphysischen und schließlich auch die Tradition des politischen Mordes. Einige Rabbiner verteidigten 1995 den Mörder Jitzchak Rabins, weil er sich angeblich an zwei Gesetze gehalten habe, die die Ermordung sogar eines Juden erlauben, wenn er sein Volk in Gefahr bringt. Über eine solche Argumentation waren damals viele Israelis empört.

Der politische Mord gehört inzwischen als Option zur israelischen Realität. Extremistische jüdische Gruppen drohen selbst Ariel Scharon offen mit Mord, falls er sich für die Rückgabe der besetzten Gebiete aussprechen sollte. Und dessen Regierung greift selbst zu immer drastischeren Mitteln, wie die geplante Ausweisung oder gar Ermordung Arafats zeigen. Es scheint niemanden in der Regierung zu stören, dass Israel damit sukzessive kollektiven Selbstmord begeht – wie einst die Zeloten. Diese waren bereit, für Gott zu sterben. In Zeiten jüdischer Staatenlosigkeit mag das nobel und heroisch sein, einem modernen Staat ist solch eine Option nicht gegeben.

Der Antagonismus zwischen einem demokratischen Staat und einer "absoluten Wahrheit" ist zum beinahe unlösbaren Problem Israels geworden. Will der Zionismus überleben, muss er sich von den ewigen Wahrheiten des Judentums befreien. Es gibt Leute wie Moshe Shneer, die diese Botschaft im eigenen Land verbreiten. Doch ihre Worte verhallen im Explosionslärm der palästinensischen Selbstmordattentäter.

Traktat Jom-Hakipurim:
Die Heiligkeit von Stätten und von Menschenleben
Es ist schon sehr erschreckend, wenn man heutzutage hört, dass es unter den orthodoxen Juden in Israel Gruppierungen gibt, die mit großem Eifer den Wiederaufbau des Tempels propagieren und zu betreiben versuchen...

hagalil.com 18-09-2003

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