Zu Gast am Bucerius Institut Haifa:
Im Heiligen, unheiligen Land
Am Pier von New York redet ein alter, zerlumpter Jude
auf den Kapitän eines nach Israel fahrenden Schiffes ein:
"Herr Kapitän, haben Sie ein Mitleid mit einem sterbenden
Juden! Nehmen Sie mich um Gotteslohn mit nach Israel,
damit ich begraben sein kann im Lande meiner Väter!"
Der Kapitän erbarmt sich und nimmt den Bittsteller mit.
Aber bei der Ausfahrt aus Haifa steht derselbe Mann wieder am Pier
und fleht, der Kapitän möchte ihn doch wieder nach New York
zurückbringen.
"Wissen Sie", erklärt er, "mein Leiden hat sich gebessert.
In Israel sterben - ja. Aber leben?!"
Von Wolfgang Frindte
Ende 2003 wurde eine Umfrage der Europäischen Union
unter 7500 Bürgerinnen und Bürger der 15 Mitgliedstaaten
veröffentlicht. Die große Mehrheit der EU Bürger (59 %) und sogar 65
% der deutschen Bundesbürger glauben, dass Israel - vor Iran,
Nordkorea oder ähnlichen Staaten - die größte Bedrohung für den
Weltfrieden darstellt. Die Veröffentlichung der Befunde schockierte
die Öffentlichkeit und führte zu ausgeprägten
Meinungsverschiedenheiten zwischen der Führungsspitze der EU und der
israelischen Regierung.
Wenig später kam die EU-Führung erneut in Verlegenheit: Das
"Europäische Zentrum zur Beobachtung von Rassismus und
Fremdenfeindlichkeit" (EUMC) in Wien hatte im Februar 2002 eine
Untersuchung über den Antisemitismus in Europa in Auftrag
gegeben. Das EUMC hatte die Veröffentlichung der Studie bis dato
zurückgehalten und dies mit methodischen Bedenken begründet. Anfang
Dezember wurde die Studie dann unautorisiert im Internet
veröffentlicht. Die Umfrage hatte ergeben, dass hinter
antisemitischen Straftaten in Europa in großem Maße islamische und
pro-palästinensische Gruppen stehen. Hinter diesen Straftaten
stünden aber nicht nur antisemitische Vorurteile, sondern vor allem
anti-israelische Einstellungen, die nicht zuletzt mit den
gegenwärtigen Entwicklungen des Palästinensisch-Israelischen
Konflikts verbunden seien. Kritik an Israel sei überdies in einem
breiten politischen Spektrum anzutreffen und zeige sich im
"klassischen" Antisemitismus der Rechten ebenso bis wie in der
anti-jüdisch/anti-israelischer Kritik der Linken und der
Globalisierungsgegner bis hin zu den anti-israelischen Muslimen, die
ihre Wut an Juden ausließen.
Vor diesem Hintergrund erhielt ich Ende 2003 eine Einladung vom
Bucerius Institute, an der Universität in Haifa mehrere Vorträge
über neuere Entwicklungen der Fremdenfeindlichkeit und des
Antisemitismus in Deutschland zu halten. Auch wegen der Möglichkeit,
auf diese Weise die israelischen und palästinensischen Partner zu
treffen, mit denen ich gerade ein trilaterales Forschungsprojekt
vorbereite, habe ich die Einladung gern angenommen. Überdies ist
Israel im März ein grünes, blühendes und wunderschönes Land.
Das Bucerius Institute, das meine Reise unterstützte,
wird von der gleichnamigen deutschen Stiftung gefördert. Gerd
Bucerius, der Gründer und erste Herausgeber der Wochenzeitung "DIE
ZEIT" rief 1971 die gemeinnützige Stiftung ins Leben. Auch die
Friedrich-Schiller Universität profitiert von der Förderpolitik der
Stiftung, zum Beispiel durch die im Jahre 2001 eingerichtete
Professur für Ziviles Recht (Prof. Dr. Michael Jänich). Das
ebenfalls Jahre 2001 gegründete Bucerius Institute an der
Universität Haifa bemüht sich, durch intensiven
Wissenschaftleraustausch zwischen deutschen und israelischen
Doktoranden, Habilitanden und Professoren Brücken zwischen
Deutschland und Israel zu bauen. Vorlesungsreihen - zum Beispiel zu
Migrations- und Integrationsfragen, zu Hannah Arendt und dem Problem
des Europäischen Anti-Amerikanismus - sowie Gastvorträge, Workshops
und Tagungen sollen Einblicke in die politische und
gesellschaftliche Wirklichkeit der Bundesrepublik vermitteln.
Geleitet wird das Bucerius Institute von Dr. Yfaat Weiss, eine
profunde Kennerin der deutsch-israelischen Beziehungen.
Mein nunmehr dreizehnter Aufenthalt in Israel ist der
bisher eindrucksvollste und widersprüchlichste zugleich. Ich kam
eine Woche vor Purim in Israel an. Die Vorbereitungen auf das
karnevalähnliche Fest waren unübersehbar. Purim geht auf das
biblische Buch Esther zurück. Dort wird erzählt, wie Königin Esther
die Juden in Persien vor der Vernichtung durch den bösen Priester
Haman bewahrte. Das Fest lehrt, dass diejenigen, die Hass
verbreiten, schließlich vernichtet werden.
Vom Flughafen in Lot fuhr ich, wie immer, wenn ich in
Israel ankomme, zunächst nach Jerusalem. Und da sah ich die neue
Mauer. In der Nähe von Beit Lakiyeh und Beit Daky, im Nordwesten
Jerusalems, eigentlich dort, wo ausländische Touristen aus
Sicherheitsgründen nicht sein sollten, waren die Arbeiten an dem
"separation fence" in vollem Gange. Ein Zaun, an einigen Stellen
acht Meter hoch und gespickt mit elektronischen Sensoren, soll
Israel von den palästinensischen Gebieten trennen. Zum Teil
schneidet die neue Grenzanlage tief in palästinensisches Gebiet.
Laut einer am 1. März durchgeführten repräsentativen Umfrage
unterstützen 84% aller israelischer Juden den Bau des Grenzzauns, so
wie er von der Regierung geplant ist; 13 % sind generell gegen den
Zaun. 70 Prozent glauben (unabhängig von ihren politischen
Einstellungen oder Parteipräferenzen), dass der Zaun ein effektives
Mittel ist, um die palästinensischen Terroranschläge einzuschränken.
Als ich abends nach meinem Ausflug in Haifa ankam und
meine alten Freunde zur Sabbatfeier traf, diskutierten wir bis spät
in die Nacht über Sinn und Zweck des Grenzzauns. Der Deutsche, der
nach Israel gekommen war, um über Fremdenfeindlichkeit und
Antisemitismus in Deutschland zu sprechen, avancierte zum
mauererfahrenen Experten. Was sollte ich, der vor allem die Bilder
vom Fall der Berliner Mauer im Kopf hat, sagen? Sich vorzustellen,
dass es in Israel einmal ein Ereignis wie eben dieses am 9.11.1989
in Deutschland geben wird, ist kaum möglich. Juden und Araber, die
sich wie Brüder und Schwestern (wenn auch später in mannigfache
Familienzwistigkeiten verstrickt) glücklich in die Arme nehmen, weil
ein Grenzzaun fällt und zwei Länder vereinigt werden, gehört im
Nahen Osten weder zu den wünschbaren noch denkbaren Optionen.
Martin Fiedler, der mit der Frau unseres
Bundespräsidenten am Kings College in London studierte und während
des Sechstagekrieg 1967 nach Israel kam, hält den jetzigen Plan für
den Bau des Grenzzauns für unabdingbar. Nur so könne dem Terror
Einhalt geboten werden. Miriam Rieck, Martins Schwiegermutter, und
meine mütterliche Freundin, ist eine strikte Gegnerin des
Grenzzauns. Sie wurde 1929 in Essen geboren, musste 1936 mit ihren
Eltern und Geschwistern Deutschland verlassen und arbeitet heute am
Ray D. Wolfe Centre
for Study of Psychological Stress zu psychologischen Folgen
des Holocaust. Martins Sohn, Miriams Enkel, der gerade seinen
Wehrdienst beendet hat, hält von all den politischen Erwägungen gar
nichts. Er studiert gemeinsam mit israelischen Arabern am Technikum
der Universität Haifa (eine Universität mit 14 000 Studierenden und
20 Arabern). Die Probleme zwischen Israel und Palästina seien vor
allem von den Extremisten auf beiden Seiten verursacht und ständig
angeheizt worden. Friede müsse jeden Tag im Kleinen neu erarbeitet
werden. So sei das nun einmal im Orient.
Die Unterschiedlichkeit der Auffassungen und
Meinungen, die die Israelis zur politischen Lage in ihrem Land
äußern, ist keine, an der sich alt und jung, oder gar linke und
rechte Politikpositionen scheiden lassen. Ein plausibles Kriterium
für diese Meinungsverschiedenheiten, denen ich auch in den
wissenschaftlichen Diskussionen begegnet bin, lässt sich kaum
finden. Meir Michaelis, geboren in Berlin, pensionierter Professor
für Geschichte und bekannt durch zahlreiche Bücher und Artikel über
Antisemitismus und Shoa (1), antwortete, als ich ihn nach den
Gründen für die besagte Meinungsvielfalt fragte, mit folgendem Witz:
"Was ist der Unterschied zwischen Gott und den Juden? Gott weiß
alles und die Juden wissen alles besser".
Natürlich traf ich auch auf sehr unterschiedliche und
kontroverse Meinungen, als ich meine Forschungsergebnisse über
Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus den wissenschaftlichen
Kollegen und Kolleginnen vorstellte. Daniel Bar-Tal, Professor für
Sozialpsychologie und seit Jahren in Forschung, Lehre und Praxis in
der Friedensforschung tätig, meinte, er sehe heutzutage keinen
Unterschied zwischen antisemitischen Ressentiments und beliebigen
anderen Vorurteilen. Der Zusammenhang zwischen Antisemitismus und
Anti-Israelischen Einstellungen, den wir in Jena nachweisen konnten,
sei kein realer, sondern ein auch von Politikern konstruierter.
Kritik an der gegenwärtigen Staatspolitik in Israel sei notwendig
und müsse auch von Nicht-Israelis geäußert werden können. Benjamin
Beit Hallahmi, Professor am Department of Psychology an der
Universität Haifa, hingegen sah in unseren Befunden einen Hinweis
darauf, dass der israelisch-palästinensische Konflikt quasi ein
neues Feld für antisemitische Ersatzhandlungen eröffnet habe. Man
müsse durchaus von Antisemitismus sprechen, wenn z.B. "die Israelis"
bzw. "die Juden" mit "den Nazis" gleichgesetzt würden.
Und Meir Miachaelis betonte, dass der Antisemitismus
in Deutschland ein Problem der Deutschen und nichts eines der Juden
sei. Wenn Hohmann und vor ihm Möllemann Parallelen zwischen Israel
und Nazi-Deutschland zu ziehen versuchten bzw. die Juden als
Tätervolk bezeichneten, so sei das ein Zeichen dafür, dass es in
Deutschland wieder möglich sei, giftige politische Lügen zu
verbreiten. Meir Michaelis verabschiedete mich mit dem jiddischen
Satz: Zay gezunt und a gliklekhe rayze!
Meine palästinensischen Kollegen aus Gaza traf ich
nicht. Sie lehnten ein Treffen mit der Begründung ab, die Zeit für
ein gemeinsames Projekt zwischen Deutschland, Israel und Palästina
sei noch nicht gekommen.
Wolfgang Frindte
Fellow at the Bucerius Institute
Haifa University
http://bucerius.haifa.ac.il/
Anmerkung:
(1) Z.B.: Michaelis, Meir (1978). Mussolini and the Jews:
German-Italian relations and the Jewish question in Italy. Oxford:
Clarendon Press.
hagalil.com
11-03-2004 |