Auge um Auge
Wie Nahost-Kommentatoren mit einem biblischen Zitat umgehen
Von Richard
Chaim Schneider
Süddeutsche Zeitung, 13.4.02
Wenn Journalisten und Politikern
zum Thema Nahost nichts mehr einfällt, dann werden sie gerne biblisch
und zitieren aus einer Passage des Buches Exodus, Kapitel 21, Vers
23/24: "Auge um Auge, Zahn um Zahn". Eine ideale Beschreibung der
Situation in Israel, meinen sie, weshalb diese Formel gerne für
Artikelüberschriften oder ganze Titelseiten verwendet wird. Denn sie ist
knapp und angeblich treffend: Die Israelis seien nämlich ebenso
rachsüchtig wie ihr alttestamentarischer Gott, meinen jene Bibelkenner.
Das jüdische Prinzip "Rache" stünde also der christlichen
"Nächstenliebe" diametral gegenüber – im Grunde gäbe es darüber hinaus
nichts dazu zu sagen. Auf diese Weise werden 2000 Jahre christlicher
Antijudaismus in einem Zitat aufgefangen, und niemand fragt danach, ob
dessen populäre Interpretation überhaupt richtig ist.
In Wahrheit besagt diese Passage
etwas völlig anderes. Der volle Wortlaut liest sich so: "Tritt aber ein
Unglücksfall ein, so setze: Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn,
Hand um Hand, Fuß um Fuß, Brandmal um Brandmal, Wunde um Wunde, Strieme
um Strieme." (Übersetzung von Naftali Herz Tur-Sinai). Dieser Vers ist
eine große Errungenschaft des Judentums. Er betont die
Verhältnismäßigkeit der Forderungen des Geschädigten und den
Schadensersatz. War es zu biblischen Zeiten üblich, buchstäblich (!)
zwei Augen und mehr für ein Auge zu fordern, zwei Zähne und mehr für
einen Zahn, so macht die jüdische Ethik damit Schluss. In der jüdischen
Rechtsprechung wurde dies stets berücksichtigt. Von frühesten Zeiten an
wurde der Schadensersatz finanziell abgegolten. Die Rabbiner nahmen die
Einschätzung des jeweiligen Verlustes vor und achteten penibel darauf,
dass derjenige, der den Schaden zugefügt hatte, nicht selber zum
Geschädigten wurde, indem er mehr geben musste als nötig.
Das alles wissen jene
Meinungsmacher natürlich nicht, die das Zitat als antijudaistische
Floskel ewig wiederholen und sich dabei auch noch für besonders
originell halten. Dieser unreflektierte Umgang mit einem uralten
Vorurteil erzählt sehr viel mehr über den Benutzer als über den Nahost-
Konflikt.
Tatsächlich könnte man froh sein, wenn im Nahen Osten das biblische
Vorbild des "Auge um Auge, Zahn um Zahn" gelten würde. Schadensersatz
und finanzieller Ausgleich würden die Probleme lösen – kein neues
Blutvergießen oder zusätzliche Verbrechen wären nötig und möglich. Der
Bibelvers könnte also durchaus ein Schlüssel auf dem Weg zu einem
Friedensvertrag sein. Dagegen hilft uns der Antijudaismus jener
deutscher Kommentatoren, die nicht einmal wissen, was sie tun, ganz
gewiss nicht weiter.
haGalil onLine 16-04-2002 |