Zur Nahost-Berichterstattung:
Von Schutzheiligen in Politik und Medien
Von Ulrich W. Sahm
Für Politiker wäre Don Quichote der beste
Schutzheiligen. Ihre Parteiprogramme sind wie ein Kampf gegen
Windmühlen. Gleichwohl muss den Politikern eingestanden werden,
manchmal die Welt tatsächlich verbessert zu haben, manchmal eher
verschlimmbessert, wenn man an die Kriege, die Massaker und die Not
denkt.
Für Journalisten ist natürlich Münchhausen, der
Lügenbaron, der ideale Schutzpatron. Denn bei genauem Hinschauen:
Hat der wirklich gelogen? Nein! Er hat ein Portrait seiner Zeit
gezeichnet, historisch korrekt. Seine Erlebnisse hat er überzeugend
beschrieben. Er hat auch nicht wirklich übertrieben. Münchhausen hat
lediglich die Wirklichkeit ein ganz klein wenig auf den Kopf
gestellt, ein ganz klein wenig aufgeblasen und ein ganz klein wenig
seine Fantasie blühen lassen. Der Ritt auf der Kanonenkugel wäre
längst in Vergessenheit geraten, wenn es nicht seit Josua und der
Hure von Jericho Spione gäbe. Sich an den Haaren selber aus dem
Sumpf ziehen ist längst zum geflügelten Wort geworden. Münchhausen
hat nur Geschichten erzählt, also Worte aneinander gereiht. Später
wurden seine Worte auch verfilmt.
Bei den Medien, besonders im Nahen Osten, geschieht
nichts anderes. Die Printmedien verschicken Millionen Worte in alle
Welt und das TV liefert die Verfilmung. Doch die Wirklichkeit bleibt
auf der Strecke, wie bei Münchhausen. Denn vermeldet wird nur der
Ritt auf der Kanonenkugel, das Ungewöhnliche, weil das zum Lachen
oder Weinen ermuntert. Und die Verfilmung im TV? Da kann die
Wirklichkeit genauso gestellt werden wie in Hollywood, durch den
richtigen Aufnahmewinkel der Kamera oder durch einen gelungenen
Schnitt der Cutterin.
Das Bild, das man sich heute in Deutschland von
Israelis oder Palästinensern macht, wurde durch die
Münchhausengeschichten der Medien, vor allem der letzten vier Jahre,
derart verformt, dass ein sachliches und leidenschaftsloses Gespräch
über die Vorgänge in Nahost kaum mehr möglich ist.
Jetzt, im vierten Jahr der El-Aksa-Intifada, hat sich
einiges zum Besseren gewandelt. Das erlaubt einen kritischen
Rückblick, ohne einseitiger Schuldzuweisungen bezichtigt zu werden.
Wobei Schuldzuweisungen Teil des medialen Spiels waren und heute
noch sind. Denn allein mit einer richtigen oder falschen Wortwahl
wird eine Seite verteufelt während die Andere ungeschoren davon
kommt oder gar verherrlicht wird. Jene Zeitungsleser oder
TV-Zuschauer, der eindeutig Partei ergriffen hat, entwickelte zudem
die Fähigkeit, zwischen den Zeilen zu lesen oder nur das zu sehen,
was er will. So werden schwerbewaffnete Knirpse bei Paraden im
Gazastreifen von dem einen als "Kindersoldaten" verurteilt, während
Andere darin einen Ausdruck des Leidens der Palästinenser sehen, wo
selbst Kinder für ihre Freiheit kämpfen müssen. Die Einen sehen in
Panzern in engen Basargassen im Westjordland inmitten Steine
werfender Kinder die Notwendigkeit gebeutelter Israelis, sich selber
zu verteidigen. Andere sehen da nur die monströse Übermacht eines
Goliath, der rücksichtslos gegen eine unterdrückte Zivilbevölkerung
vorgeht. Die Wirkung von Propaganda hängt offenbar auch mit der
Seelenverfassung des Betrachters zusammen, seiner ideologischen
Ausstattung und seiner persönlichen Werteskala. Widersprüche sind da
nicht auszuschließen. Jene, die Steine werfende Kinder als
heldenhafte Widerstandskämpfer verherrlichen, berufen sich
andererseits lautstark auf echte und vermeintliche Menschenrechte.
Sie beklagen am lautstärksten den Tod oder die Verwundung von
Kindern, kämen aber nicht auf die Idee zu fordern, Kinder aus den
Kampfzonen herauszuhalten oder das Vorschicken von minderjährigen
Selbstmordattentätern zu verurteilen. Und jene, die jegliches
israelisches Vorgehen gegen "palästinensische Terroristen" gut
heißen, merken nicht, dass da viele Straßensperren und erniedrigende
Kontrollen reine Schikane sind, solange es zahlreiche "Löcher" im
Zaun und Schleichwege gibt.
Die Welt scheint eine besondere Vorliebe für
Weichlinge zu habe, sonst hätte der Begriff "Hardliner" keinen so
negativen Beigeschmack. Ob es den angeblich so neutralen
Berichterstattern, insbesondere der Nachrichtenagenturen zusteht,
einen bestimmten Politiker pauschal als "Hardliner" zu beschreiben
oder eher zu verunglimpfen, ist eine andere Frage. Denn eigentlich
sollte nur Historikern oder Politikern und Kommentatoren zugestanden
werden, eine Politik als falsch, richtig oder eben als "hart" zu
definieren.
Wie lächerlich diese Methode ist, konnte man in einer
Reuters-Meldung nachlesen. Da kam der Autor aus dem Staunen nicht
heraus, als Israels Premier einen neuen politischen Kurs verkündete.
"Obwohl der doch ein Hardliner ist", schrieb da der Korrespondent.
Er bemerkte gar nicht, dass er sich selber lächerlich machte, weil
er sein eigenes Vorurteil Lügen strafen musste. Ein ap Korrespondent
prägte sogar für Scharon natürlich das bemerkenswerte Prädikat:
"Karriere-Hardliner".
Scharon hat sich nie selber als Hardliner bezeichnet.
Scharon als Hardliner zu bezeichnen ist spätesten seit der
Verkündung des Rückzugs aus Gaza Geschichte. Seitdem ist Scharon aus
Sicht der Reporter der wohlgelittene Weichling, ohne dass man ihm
dieses Kompliment als Adjektiv an den Namen anhängt. Stattdessen
häufen sich in den Berichten die Hardliner (im Plural) im
israelischen Kabinett.
Gleichgültig wie man über Scharon und seine Politik
denkt - hier geht es um die Begriffe - fällt auf, dass es
"hardliner" nur auf der israelischen Seite zu geben scheint.
Gleichwohl kann man den Palästinensern wohl nicht absprechen,
ebenfalls Politik zu machen, also mal eine weichere und mal eine
härtere Gangart einzuschlagen. Und auf Deutschland übertragen:
Niemand käme auf die Idee, in Sachen Rentenreform gewisse Politiker
als "hardliner" zu bezeichnen.
Angemerkt sei hier auch, dass "hardliner" einer
subtilen Parteinahme für palästinensische Forderungen gleichkommt.
Bei einer sauberen und tunlichst neutralen Berichterstattung, zu der
die "Nachrichten"-Agenturen eigentlich verpflichtet sein sollten,
wäre es in der bestehenden Konfliktsituation wohl eher angebracht,
mit wenigen Worten die Positionen darzustellen und es dem Leser zu
überlassen, selber zu entscheiden, wer da "hart" und wer "weich"
ist.
Ein anderes Phänomen ist ebenfalls fast Geschichte.
Nur die französische Nachrichtenagentur afp hängt bis heute jeder
Nachricht aus Nahost eine winzige Statistik an mit der Zahl der
palästinensischen und israelischen Toten. Bis vor Kurzem taten das
auch ap und Reuters. Das war jedoch keine automatische
Chronistenpflicht. Denn bei anderen Konflikten, etwa in Sudan,
Ruwanda, Irak oder Jugoslawien gab es keine solche Angaben.
Diese Ministatistiken bezweckten eine
unausgesprochene Schuldzuweisung gegen die Israelis, da es mehr
palästinensische Tote gab als Israelis. Bei genauem Hinschauen
enthielten diese Ministatistiken beachtenswerte Elemente, die sich
im Laufe der Zeit änderten. So musste angegeben werden, "seit wann"
gezählt wird, ohne das Fremdwort "Intifada" zu verwenden. Die Stunde
Null wurde in den ersten Monaten mit einer Schuldzuweisung gegen den
israelischen Oppositionschef Ariel Scharon beschrieben. Mit seinem
Besuch "auf dem Tempelberg", "in der El Aksa Moschee", "auf dem
drittheiligsten Schrein der Moslems" habe er die Intifada ausgelöst.
Über diesen historischen Fakt kann man streiten, denn
die ersten tödlichen palästinensischen Schüsse auf Israelis fielen
schon einige Tage vor jener "Provokation Scharons". Die ersten
palästinensischen Opfer gab es einen Tag nach Scharons Visite, im
Gefolge einer aufrührerischen Hetzpredigt in der El Aksa Moschee.
Und ein Jahr später gestand Marwan Barghoutti in einem Interview,
dass er bewusst die Tempelberg-Visite Scharons "genutzt" habe, um
endlich die lange im Voraus geplante Intifada zu starten und
gleichzeitig den Israelis die Schuld zuzuweisen. Unerwähnt bleibt
zudem, dass Arafats Geheimdienstchef Dschibril Radschoub und sein
Jerusalemminister Faisal Husseini ihren "Segen" gegeben hatten, den
Israelis "Ruhe" versprachen und persönlich auf dem Tempelberg
anwesend waren, als Scharon mit einer Hundertschaft Leibwächter und
Polizisten dort erschien. Der Polizeieinsatz wiederum wäre ohne
Zustimmung des verantwortlichen Regierungschefs Ehud Barak undenkbar
gewesen. Die Verantwortlichkeiten waren also verteilt auf beide
Seiten, als Scharon gemäß einer Feststellung des Mitchel-Reports
letztlich eine innenpolitische Demonstration gegen die Politik
seines Regierungschefs Barak veranstaltete, der kurz zuvor in Camp
David angeboten hatte, die heiligste Stätte des Judentums unter
palästinensische Souveränität zu stellen.
Als die Intifada andauerte und immer mehr Tote auf
beiden Seiten forderte, bemerkten auch die Agenturen, dass "Scharons
Provokation" allein keine Erklärung für das Blutvergießen liefern
könne. So wurde die Stunde Null sehr fantasievoll umformuliert in:
"Seit Ausbruch des Volksaufstandes...", "Seit Beginn des Kampfes um
einen eigenen Staat...", "Seit Beginn der blutigen
Auseinandersetzungen..."
Der nächste problematische Punkt waren die Zahlen an
sich. Bei den Auseinandersetzungen wurden auch Ausländer getroffen,
einige wurden von Palästinensern erschossen oder starben bei
Selbstmordanschlägen. Andere fielen israelischen Angriffen zum
Opfer. In den besagten Statistiken kommen aber keine Ausländer vor.
Sie wurden posthum zu Israelis oder Palästinensern gemacht, je
nachdem, wer sie getötet hat oder auf welcher Seite sie standen.
Eine Agentur hatte ihre "Politik" beim Zählen der
Toten erklärt. Dabei stellte sich heraus, dass sogar um die 200
palästinensische Selbstmordattentäter als "Opfer der Israelis", oder
"durch Israelis getötet" angeführt wurden. Genauere und vielleicht
aufschlussreichere Angaben, die auch einen Rückschluss auf die
Vorgänge bei der Intifada zuließen, wurden extrem selten erwähnt. So
zum Beispiel die Tatsache, dass nur etwa 5 Prozent der Opfer auf der
palästinensischen Seite Frauen waren, während Frauen fast die Hälfte
der Opfer auf der israelischen Seite ausmachten. Solange sich beide
Seiten gegenseitig Vorwürfe machen, jeweils auf Zivilisten zu
zielen, wären genauere Angaben über "Bewaffnete" oder "Kombattanten"
sicherlich hilfreich. Je nach dem Inhalt der Nachricht mit
angehängter Statistik könnte der nicht geschulte Leser zum Schluss
kommen, dass palästinensische Selbstmordattentäter "unschuldige
Zivilisten" sind. Genauso sollte wohl ein israelischer Zivilist, der
in einem Bus oder Restaurant in die Luft fliegt, etwas anders
gewertet werden als ein schwerbewaffneter Soldaten, der im Kampf
gegen ebenso bewaffnete Freischärler "fällt". Die absolute Zahl, das
Aufzählen sämtlicher Toten ohne jede Unterscheidung, dient allein
der Stimmungsmache. Da es dreimal so viele palästinensische Tote
gibt wie israelische, soll der propagandistische Eindruck erweckt
werden, als seien die Palästinenser nur "Opfer" und die Israelis nur
"Täter". Nach vier Jahren schmutzigem Krieges kann wohl keine Seite
für sich beanspruchen, nur Opfer oder nur Täter zu sein.
Immer wieder fällt eine eigentümliche Wortwahl auf,
die wohl weitgehend unbewusst geschieht. Bekannt ist, dass BBC und
Reuters, möglicherweise aber auch andere Medien den Beschluss
gefasst haben, den problematischen Begriff "Terrorist" auszusparen.
Dieses Wort entstammt dem israelischen Lexikon, während sich die
Palästinenser als Märtyrer, Freiheitskämpfer oder sonst was
bezeichnen. Diese Redaktionen handeln also lobenswert, sich nicht
zum Opfer einer propagandistischen Manipulation einer Seite zu
machen. Verlegenheit kommt aber auf, wenn in einem explodierten Bus
19 Menschen sterben, darunter auch Kinder oder in einem Hotel auch
mal 29. Wenn auf Dscherba oder Bali oder auch in Istanbul oder
Madrid ähnliches passiert, sind sehr wohl "Terroristen" am Werk.
Doch in Israel sind es "Freiheitskämpfer"?
Das Problem wurde gelegentlich mit einem
grammatikalischen Stilmittel umgangen. Da tötet keiner, sondern 29
Menschen kommen ganz passiv "ums Leben", "wurden getötet". Typisch
sind da Überschriften von Reuters vom Juli 2003. Da heißt es im
einen Fall: "Israelische Truppen erschieße Palästinenser im
Westjordanland". Das klingt fast wie die standrechtliche Hinrichtung
eines unschuldigen Zivilisten. Doch aus der Meldung geht hervor,
dass sich bewaffnete palästinensische Kämpfer ein Feuergefecht mit
den Soldaten lieferten und dabei erschossen wurden. Drei Tage später
kommt die Überschrift "Schießerei im Westjordanland stört den
Frieden". Die Täter sind in diesem Fall Palästinenser, doch das
erfährt man erst beim Lesen des Textes. Diese Methode wurde lange
Zeit systematisch angewandt. Wer nur die Überschriften las, konnte
den Eindruck gewinnen, als würden immer nur die Israelis schießen.
Und wenn auch Israelis getötet werden, so scheinen Ufos am Werk
gewesen zu sein, identitätslose "Aktivisten" oder bestenfalls
"mutmaßliche Palästinenser".
Synonyme für die verbotenen "Terroristen" sind
gelegentlich "Militante", "Extremisten", "Aktivisten" oder
"mutmaßliche Palästinenser". Der Begriff "Aktivisten" ist besonders
irreführend, weil es auch "Friedensaktivisten" und sonstige
Aktivisten gibt. Selbstmordattentäter, die man auch als Massenmörder
bezeichnen könnte, verbal mit Flugblattverteilern, Demonstranten
oder Mitgliedern von Menschenrechtsorganisationen gleichzusetzen,
kommt einer intellektuellen Zumutung gleich. Selbst Befürworter des
"palästinensischen Freiheitskampfes" sehen in den Methoden der
Selbstmordattentäter und ihrer Organisationen oft ein Verbrechen und
keine legitime Kampfart.
Eine weitere Methode der Wirklichkeitsverdrehung
betrifft die Hamas-Organisation. Dutzende Male meldeten die
Agenturen im Laufe der letzten drei Jahre die "Friedensbereitschaft"
dieser radikalen Organisation. Damit wurde bezweckt, allein Israel
für die weitere Entwicklung oder gar Eskalation verantwortlich zu
machen. Wenn es dann jedoch Stunden oder Tage später wieder zu einem
großen Anschlag der Hamas kam, dann besann sich niemand mehr auf die
vermeintliche "Friedensbereitschaft". Die "friedlichen" Absichten
von einer der radikalsten Palästinenserorganisationen wurden bei
Reuters zum Beispiel durch die schlicht falsche Kurzbeschreibung des
Ziels der Hamas geschürt, einen "palästinensischen Staat in der
Westbank und im Gazastreifen errichten zu wollen". Das widerspricht
dem Grundsatzprogramm, der Charta, der Hamas und auch den Äußerungen
ihrer Anführer, allen Voran der inzwischen von den Israelis
getöteten Scheich Jassin und Rantisi. Reuters kommt der Wahrheit
wohl sehr viel näher, seitdem es diese Kurzbeschreibung revidierte
und heute schreibt: "Hamas hat geschworen, den Staat Israel zu
zerstören."
Es geht uns hier nicht darum, Reuters oder andere
Agenturen für vergangene Sünden zu rügen. Vielmehr wollen wir auf
die gefährliche Propaganda hinweisen, wie sie sogar in den
einfachsten Nachrichtenmeldungen Eingang fand und die Wahrnehmung
der Vorgänge in den ersten drei Jahren der Intifada entscheidend
prägten. Inzwischen bahnt sich ganz langsam ein Wandel an. Israels
Politik wird weiterhin extrem kritisch und misstrauisch behandelt.
Aber im Unterschied zu früher wird das palästinensische nicht mehr
ganz so unvorbehaltlos gut geheißen und als selbstverständlich
dargestellt. Dadurch kommt ein klein wenig mehr Ausgewogenheit in
die Wahrnehmung des Konflikts, der höchst kompliziert und
vielschichtig ist und dem man allein mit moralischen Ansprüchen oder
überkommenden Klischees gewiss nicht gerecht werden kann.
Wenn ein Selbstmordattentäter Vorbeter in einer
Moschee war, wie jener, der sich in dem "Kinderbus" in Jerusalem am
2. August 2003 sprengte, würde kein Berichterstatter auf die Idee
kommen, den nun als "muslimischen Extremisten" zu bezeichnen. Das
wäre politisch nicht korrekt. Ganz unbemerkt geistert aber ein
ähnlich diffamierender Begriff unbeanstandet durch die Presse:
"jüdische Siedler". Es fragt sich, ob das Verbrechen der Siedler
darin liegt, dass sie jüdisch sind. Geht es nicht viel mehr um das
Völkerrecht, um die Genfer Konvention, das einem Besatzer verbietet,
seine Staatsbürger in besetztes Land zu "deportieren"? Es ist schwer
vorstellbar, dass die Konventionen zwischen Christen, Moslems und
Juden unterscheiden, aber nur "jüdische" Siedler in besetztem Gebiet
verbieten, im Gegensatz zu christlichen oder muslimischen. Abgesehen
von der Tatsache, dass unter den "jüdischen Siedlern" auch
fanatische christliche Fundamentalisten sein können oder russische
Einwanderer, die formal nicht als Juden anerkannt sind, wäre wohl
"israelische Siedler" oder einfach nur "Siedler" die bessere
Formulierung.
Wie leicht eine Wortwahl historische Assoziationen
bewirkt, sieht man an der französischen Bezeichnung der Siedlungen.
Da heißen sie "Colonies", was jeden Franzosen an Algerien erinnert.
Die verwendeten Begriffe in der Berichterstattung
sind kein Zufall. Das geht bis in die Schreibweise. So wird der
amerikanische Präsident nicht zu einem "Busch" eingedeutscht,
während der israelische "Scharon" in Deutschland anders buchstabiert
wird, als im Rest der Welt. Das sind Kleinigkeiten. Schwerwiegender
ist die Frage, wie denn nun der umstrittene israelische Sperrwall
genannt werden sollte: Mauer, Zaun, Barriere, Berliner-Mauer,
Apartheitsmauer, Anti-Terror-Zaun? Die arabische Liga hat
beschlossen, das Gebilde als "Mauer" zu bezeichnen, weil es
Assoziationen mit der Berliner Mauer und Apartheit erwecken soll.
Die UNO und der IGH folgten dieser Empfehlung. Offizielle
israelische Empfehlungen wie "Abtrennungszaun" oder
"Anti-Terrorzaun" werden sogar bei wörtlichen Zitaten entsprechend
der politisch-korrekten Sicht in "Mauer" übersetzt. An der Sache,
der Diskussion über das umstrittene Bauwerk ändert das ohnehin nicht
viel. Den Israelis nützt es nicht viel zu behaupten, dass 95 Prozent
Zaun seien, wenn in den Medien immer nur die Mauer gezeigt wird. Und
selbst wenn der Zaun tatsächlich gezeigt wird, heißt es in der
Bildunterschrift oder im Sprechertext bei Fernsehberichten oft
"Mauer".
Ohnehin heben die Israelis nur die Ursachen für den
Bau des Bollwerks hervor, "Terroristen" am Eindringen nach Israel zu
behindern, während die Palästinenser dieses geflissentlich
ignorieren. Die sehen lediglich die Folgen der "Mauer" für die
Anwohner, die in "Ghettos" gesperrt werden oder von ihren Feldern
abgeschnitten sind. Die Palästinenser reden gerne von "Sippenhaft"
und "Kollektivstrafe". Dass umgekehrt die Angst vor Terror und die
Willkür der Auswahl der Terroropfer genau so eine Form der
"Kollektivstrafe" sind, und sogar der Sippenhaft, wenn man die
Bekennerschreiben ließt, in denen ausdrücklich "Juden" und nicht
"Israelis" als Ziel der Anschläge genannt werden, wird selten
gesagt.
Ähnlich wie die arabische Liga gingen die Israelis
mit ihren "außergerichtlichen Hinrichtungen" und "Liquidierungen"
vor. Diese Begriffe passen natürlich nicht in das israelische
Selbstverständnis. Um propagandistischen Schaden abzuwenden,
beschloss die israelische Regierung, fortan nur noch von "gezielten
Tötungen" zu reden. Doch selbst die israelischen Medien befolgen
nicht immer diese "Empfehlung". Sogar Minister verwenden das Wort
"Liquidierung", obwohl es ungute Erinnerung an die Nazizeit erweckt.
Die Liste solcher Begriffsverwirrungen lässt sich
noch unendlich weiterführen. So beklagen Palästinenser die
Verwendung biblischer Provinznamen wie "Judäa und Samarien" für das
besetzte Westjordland, auch "Westufer" oder "Westbank" genannt. Das
betrachten sie als Besitzanspruch im Sinne einer
"Groß-Israel-Politik". Man könnte sich da streiten, ob alte deutsche
Namen wie Litauen, Danzig oder Schlesien auch nur von Ewiggestrigen
verwendet werden. Umgekehrt findet man in palästinensischen
Veröffentlichungen eine Stadt Namens "Jerusalem" und nicht nur "El
Kuds" (das Heilige, der arabische Name für Jerusalem). Dort hat
übrigens ein gewisser Scharon im September 2000 eine Provokation auf
dem "Tempelberg" gemacht, also nicht auf dem "Haram esch Scharif",
den im Ausland kaum jemand kennt. Wer aber vom Tempelberg redet,
impliziert, dass da mal ein Tempel gestanden habe. Dass das nun
einmal der salomonische Tempel war, lange bevor es Moslems gab,
steht im Widerspruch zu offiziellen Behauptungen der muslimischen
Religionsbehörde, dem Wakf, wonach es an der Stelle niemals ein
jüdisches Heiligtum gegeben habe, in dem auch ein gewisser Jesus von
Nazareth gelehrt hat. Da es hier aber um Propaganda, also um eine
Verdrehung der Wirklichkeit geht, spielen historische Fakten oder
Traditionen nur eine untergeordnete Rolle.
Münchhausen lässt grüßen. Andererseits, gegen diese
Propaganda anzukämpfen, ist wie das Vorgehen des Don Quichote gegen
die Windmühlen.
Ulrich
Sahm, 1950 in Bonn als Sohn eines
deutschen Diplomaten geboren. Aufgewachsen in London, Paris, Bonn,
Heppenheim (1968 Abitur an der Odenwaldschule), Moskau und Ankara.
Studium der evangelischen Theologie, Judaistik und Linguistik in
Bonn, Köln und an der kirchlichen Hochschule in Wuppertal. Ab 1970
Studium der Hebräischen Literatur an der Hebräischen Universität in
Jerusalem. Seit 1975 Nahost-Korrespondent für deutsche Medien mit
Sitz in Jerusalem. Website:
http://www.sahm.com
Dieser Artikel erschien im Magazin "CAMPO de Criptana", Heft 6,
III/IV Quartal 2004.
hagalil.com
22-09-2004 |