Zum Zustand der israelischen
Gesellschaft:
Misserfolg und Apathie
Kommentar von Yoel Marcus, Ha’aretz, 06.08.2002
Übersetzung Daniela Marcus
Hauptmann (der Reserve) Motti Ashkenasi war der Kommandeur von "Budapest", dem
einzigen IDF-Vorposten, der während des Yom-Kippur-Krieges nicht in ägyptische
Hände fiel. Als er im Februar 1974 aus dem Reservedienst entlassen wurde, nahm
Ashkenasi gegenüber dem Büro des Ministerpräsidenten seinen Platz ein und hielt
ein Transparent hoch, das diejenigen, die für das Yom-Kippur-Fiasko
verantwortlich waren, aufforderte, zurückzutreten.
Es kam einem vor, als hätte diese Ein-Mann-Protestbewegung den
Anschluss verpasst: Die Zeit der Wahlen ging vorüber und die zwei
Hauptangeklagten –Golda Me’ir und Moshe Dayan- waren wieder gewählt worden. Doch
Ashkenasi hielt weiterhin Wache. Schließlich wurde er zu einem Gespräch mit
Dayan eingeladen. Dieser erklärte, dass der Protest sinnlos sei: "Die Leute
haben ihren Teil gesagt und keine Demonstration wird die Regierung zu Fall
bringen." Dies war Dayans zweite Fehlkalkulation. Ashkenasi gab nicht nach und
zog die Aufmerksamkeit von Protestbewegungen aus dem ganzen Land auf sich.
Innerhalb von drei Monaten wurde Golda Me’irs Regierung dazu gezwungen
zurückzutreten. Am Ende führte dies zum politischen Umsturz im Jahr 1977.
Motti Ashkenasi ist ein Märchenheld in Anbetracht der Apathie, die die
Öffentlichkeit heutzutage zur Schau stellt, wenn sie der tödlichen Kombination
von politisch-militärischer Krise und sozial-wirtschaftlicher Verzweiflung ins
Auge sieht. Selbstmordanschläge haben unser Leben in eine Art "Tod durch
Verlosung" verwandelt. Niemand weiß, wo die Axt herunterfallen und wen sie als
nächstes treffen wird. Die Sicherheitslage hat unsere Art zu leben verändert.
Menschen halten sich fern von öffentlichen Plätzen; Touristen und Investoren
halten sich fern von Israel; die Wirtschaft liegt am Boden; und die Zahl der
Arbeitslosen steigt bis in den Himmel. Während die Bürger dieses Landes zum
dringlichen Reservedienst aufgerufen werden und die IDF einen Krieg in den
Territorien führt, arbeiten zwei Drittel der ultraorthodoxen Männer nicht und
dienen auch nicht in der Armee. Und niemand protestiert; niemand füllt die
öffentlichen Plätze. In unseren kühnsten Träumen hätten wir nicht daran
geglaubt, dass Sharon –zeit seines Lebens ein Mann der Armee- für das Tal-Gesetz
(über die Einberufung ultraorthodoxer Juden zur IDF) stimmen würde, sagten die
Leute während sie nach Hause eilten, um die TV-Show von Komiker Yatzpan nicht zu
verpassen.
Der Schock der Terroranschläge ist kurzlebig: Man ist entsetzt; man fragt
einander, wie es weitergehen wird; und das Leben geht weiter. Es gibt eine Art
kranker, unnatürlicher Akzeptanz der Situation. Diese bezieht sich auf das, was
die Palästinenser uns antun und auch auf das, was wir ihnen antun. Sie hat eine
Menge mit der Tatsache zu tun, dass sowohl Sharon wie auch Bush den
Palästinensern und Arafat für alles die Schuld geben, als ob es für uns nichts
anderes zu tun gäbe, als da zu sitzen und auf Godot zu warten. Gemäß einer
Meinungsumfrage über den Stand der nationalen Sicherheit im Jahr 2002, die von
Professor Asher Arian durchgeführt wurde, zeigen sich die Israelis, bezüglich
der Sicherheitsfrage im allgemeinen und bezüglich ihrer Kompromissbereitschaft
im besonderen, inzwischen unerbittlicher. Die Unterstützung des Osloer
Friedensabkommens sank von 58% im letzten Jahr auf 38% in diesem. Die
Unterstützung eines palästinensischen Staates (infolge eines Friedensabkommens)
sank von 57% auf 49%. Die Bereitschaft, arabische Viertel in Jerusalem an die
Palästinenser abzugeben, fiel von 51% auf 40%. Alles in allem sagten 41% der
Befragten, dass die palästinensische Gewalt ihre Bereitschaft zu Kompromissen
negativ beeinflusst hat, verglichen mit 10% im letzten Jahr. Journalisten
berichteten letzte Woche über Sharons sorgloses, unbeschwertes Geplänkel bei
Kabinett-Treffen. "Wenn sich die Dinge weiter so entwickeln, wird Sharon nicht
um eine zweite Amtsperiode rennen müssen, sondern er wird in sie
hineinschlittern", sagte ein Meinungsexperte. Mit einer Zufriedenheit, die einen
erstarren lässt, schrieb ein Reporter, dass uns der Anschlag auf die Hebräische
Universität in Jerusalem Punkte im Kampf um die öffentliche Meinung eingebracht
hätte – als ob Terroranschläge etwas wären, auf das man sich freuen kann.
Wieviele Punkte bekommen wir nun für die sechs Anschläge vom Sonntag mit ihren
13 Toten?
Es gibt keine Wechselbeziehung zwischen dem, was passiert und dem, was nicht
passiert und dem, wie die Öffentlichkeit darauf reagiert. Die Israelis sind
entweder apathisch oder sie verstehen nicht, dass dieser kolossale Misserfolg
einen Vater hat und dass dieser Sharon heißt. Es ist wahr, dass der Staat nicht
in besonders gutem Zustand war, als Sharon die Regierung übernahm; doch
innerhalb von zwei Jahren hat er uns Lichtjahre zurückgebracht. Der Mann, von
dem sie sagten, er platze vor kreativen Ideen, hat nicht einen einzigen neuen
Gedanken darüber hervorgebracht, wie man den Kreislauf des Blutvergießens
unterbrechen kann. Der große Stratege hat sich als kleiner Taktiker erwiesen,
der nur auf sein eigenes Überleben konzentriert ist. Und wenn es von Sharon
abhängt, dann wird er an der Macht bleiben wie Golda Me’ir und wird wieder
gewählt werden wie Golda Me’ir, selbst wenn das bedeutet, es genauso wie Golda
Me’ir zu machen und uns alle in Teufels Küche zu bringen. Was muss noch
geschehen, bis die Öffentlichkeit endlich aus ihrer Apathie erwacht und sagt:
"Bis hierher und nicht weiter!"
hagalil.com
30-07-02 |