Identifizierung der Terroropfer:
In Abu Kabir warten Familien
auf das Schlimmste
Von Chaim Shadmi, Haaretz, 19.06.2002
Als er gestern im Institut für Gerichtsmedizin in Abu Kabir zu Reportern sprach,
legte Institutsdirektor Professor Yehuda Hiss einen Fragebogen vor. Es war der
routinemäßige Fragebogen, den Hiss und sein Personal seit Beginn der Intifada
hunderte von Malen ausgefüllt haben. Er dient der Überprüfung von persönlichen
Merkmalen und ist Teil des Identifizierungsprozesses von Toten, die nach
Terroranschlägen in das Institut gebracht werden.
"Boas Aluf" steht auf dem Fragebogen im Feld neben den Worten "Name der
vermissten Person". Schließlich wird die vermisste Person zu einem Todesfall und
bekommt einen Namen und ein Leben. Boas Aluf war 54 Jahre alt und hatte fünf
Kinder. Er war mit Gila verheiratet, einer Physiotherapeutin, die bei der
Krankenkasse Le’umit in Jerusalem angestellt ist. Er selbst hatte in einer
Zweigstelle der Bank Tefachot in Jerusalem gearbeitet. Es gibt 18 weitere
Geschichten wie seine. Alle beginnen in Abu Kabir als vermisste Personen bis sie
definitiv identifiziert sind.
"Definitiv" ist das Schlüsselwort in Abu Kabir. Bis die Identifikation definitiv
geschehen ist, gibt es Hoffnung. Beweis dafür sind Dutzende von
Familienangehörigen, Bekannten und Freunden, die draußen im mit Piniennadeln
bedeckten Hof warten. Sofort nach Ankunft einer Leiche wird das Formular
ausgefüllt. Erkennungszeichen, Details, besondere Merkmale – ein Muttermal, eine
Narbe, alles. Und immer wird Blut für genetische Tests abgenommen. Wie lange
dauert das Warten? Minuten? Stunden? Manche müssen geduldig bis zum nächsten
oder übernächsten Tag auf den Abschluss des Identifizierungsprozesses warten.
Also warten sie.
Verschiedene Gruppen, jede zu einer anderen vermissten Person gehörend, sitzen
auf den Plastikstühlen, die in einem Kreis aufgestellt sind. Mitarbeiter des
Instituts bringen ihnen Erfrischungen, Sozialarbeiter kümmern sich um sie und
hören ihnen zu. Von Zeit zu Zeit kann man ein leises Weinen hören, manchmal auch
einen Schrei. Doch die meiste Zeit über herrscht Ruhe.
Ein weiteres Taxi kommt aus Jerusalem und vier Menschen, begleitet von einem
Sozialarbeiter, steigen aus. "Es herrscht Ruhe, weil die Menschen die
Nachrichten noch nicht in sich aufgenommen haben. Und es gibt noch Hoffnung,
dass es vielleicht doch nicht das ist, was man vermutet. Man leugnet es", sagt
Billy Tinsky, ein Sozialarbeiter und Psychotherapeut, der eine besondere
Ausbildung für den Umgang mit trauernden Familien absolviert hat. Vor eineinhalb
Monaten wurde er vom Gesundheitsministerium eingestellt. Die Mitarbeiter des
Instituts zeigten Anzeichen der Verzweiflung aufgrund der von den
Terroranschlägen herrührenden hohen Anzahl von Leichen. Tinsky soll ihnen
helfen, mit dem Leid, das sie sehen, umzugehen.
Tinskys Arbeitsplan sieht vor, dass er jeden Sonntag und zusätzlich bei einem
Terroranschlag ins Institut kommt. Sonntags spricht Tinsky mit dem Personal und
hört dessen Problemen zu. An Tagen, an denen ein Terroranschlag stattgefunden
hat, beobachtet er den Verlauf vom Rande aus. "Es ist wichtig, wie man den
Familien die Nachricht überbringt. Hiss besteht darauf, dass er sich mit jeder
Familie einzeln in seinem Büro trifft, um dort mit ihr zu reden. So will er ihr
seinen Respekt zeigen. Dies sind die Momente, in denen für die Familie die ganze
Welt stillsteht. Manchmal vergessen sie den Tag vor und nach dem Tag der
Übermittlung der schrecklichen Nachricht. Doch sie werden sich immer an den
Moment erinnern, in dem sie die Nachricht erhalten. Deshalb ist es so wichtig,
wie man ihnen die Nachricht überbringt", sagt Tinsky.
haGalil onLine 19-06-2002 |