
DER POLITISCHE ISLAM
Die Macht und der Glaube
Der gute Vorsatz, einen "Kampf der Kulturen" zu
vermeiden, kennzeichnet die westliche Politik seit dem 11. September.
Die "Allianz gegen den Terror" kann nur zusammengehalten werden, wenn in
islamischen Ländern wie Pakistan und Ägypten die Regime ihren Völkern
glaubhaft machen könnten, dass es sich um keinen christlichen "Kreuzzug"
handelt. Ob das gelingt, hängt nicht nur von der Kriegsführung in
Afghanistan ab, sondern auch von der Wahrnehmung in den westlichen
"Kulturnationen". Hier wird sich ein differenziertes Bild der
"islamischen Welt" nur entwickeln, wenn es gelingt, jenseits der
religiösen Dimension für jedes einzelne Land die soziale Dynamik und die
ökonomischen Probleme differenziert zu analysieren.
Von ERIC ROULEAU, Journalist
MAN dürfe
den Islam nicht mit dem Terrorismus gleichsetzen, mahnen die politischen
Führer des Westens. Doch so einfach lässt sich das Problem nicht aus der
Welt schaffen. Der bewusste oder unbewusste Rassismus droht sich
angesichts einer verschreckten und verunsicherten öffentlichen Meinung
noch viel stärker auszubreiten. Ohnehin bestehende Vorurteile gegen den
Islam, Klischeevorstellungen und Unwissenheit tragen allesamt dazu bei,
die These von einer Konfrontation der Religionen und Kulturen zu
bestätigen. So entsteht das unbestimmte Gefühl, die demokratischen
"Kulturnationen" des "Westens" hätten nun einen "Krieg" (oder gar einen
"Kreuzzug") gegen die "totalitären" und "fanatischen" Muslime eröffnet.
Diese Wahrnehmung erscheint sogar plausibel, haben doch die Terroristen
ihrerseits den heiligen Krieg (Dschihad) gegen die "ungläubigen
Kreuzfahrer" ausgerufen, die angeblich die Gemeinschaft der Muslime
unterdrücken. Diese bestürzend komplementären Wahrnehmungsmuster haben
die gefährliche Wirkung, die Kluft zwischen zwei Kulturen und zwei
Welten zu vertiefen, zwischen den Reichen und den Armen, die von
Frustration und aufgestauten Hassgefühlen zerfressen werden.
Im Westen tragen Politiker und Medien -
mit lobenswerten Ausnahmen - in doppelter Weise zu dieser Polarisierung
bei: zum einen, indem sie die religiösen Überzeugungen der Terroristen
in den Vordergrund stellen und deren politische Motive ausblenden, zum
anderen, indem sie sprachlich die unterschiedlichen Dimensionen des
Problems, die sie eigentlich auseinander halten wollen, dann doch wieder
vermischen. So produziert die willkürliche und unterschiedslose
Verwendung der Begriffe "Islam", "Fanatismus", "Terrorismus" und
"Fundamentalismus" allemal Verwirrung, im schlimmsten Fall fördert sie
antiislamische rassistische Vorurteile. Eine Umfrage des
Meinungsforschungsinstituts Ifop hat ergeben, dass jeder zweite Franzose
das Wort "Islam" mit Fanatismus assoziiert (Le Monde, 5. Oktober
2001).
Das Operieren mit Begriffen wie
"Fundamentalismus" und "Integralismus", die als "protestantische"
beziehungsweise "katholische" Erscheinungen dem Islam gleichermaßen
fremd sind, muss zwangsläufig zu destruktiven Missverständnissen führen.
Dasselbe gilt für den Begriff "Islamismus", der von einigen
Islamwissenschaftlern hilfsweise eingeführt wurde, während andere den
Begriff des "politischen Islam" für genauer halten. Auch bei der
Einordnung islamistischer Parteien und Bewegungen zeigt sich, dass jede
Verallgemeinerung erneut zu Verwirrung und falschen Gleichsetzungen
führt, denn diese Gruppierungen sind extrem verschieden und haben oft
nur den Bezug auf die Religion des Propheten gemein, die sie aber ganz
unterschiedlich, wenn nicht gegensätzlich interpretieren - was auch
erklärt, warum sie im politischen Spektrum von ganz rechts bis ganz
links angesiedelt sind.
Beispielhaft kann man die
Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen islamistischen Richtungen im
Iran studieren. Als der Imam Chomeini 1979 die Macht übernommen hatte,
zeigte sich rasch, dass seine schärfsten Gegner nicht die weltlichen
Parteien waren, sondern bestimmte islamistische Gruppierungen, darunter
liberal gesinnte (die von einzelnen Großajatollahs gestützt wurden),
aber auch sozialdemokratisch oder marxistisch orientierte. Nachdem das
Chomeini-Regime mit seinen Gegnern abgerechnet hatte, hat sich
neuerdings ein Konflikt zwischen zwei großen Strömungen herausgebildet:
zwischen dem totalitären Lager um den "geistlichen Führer" Ajatollah Ali
Chamenei (das eindeutig in der Minderheit ist) und der demokratisch und
weltlich orientierten Bewegung unter Führung des Staatspräsidenten
Mohammad Chatami. Die gesellschaftlichen Gegensätze zeichnen sich auch
innerhalb der Geistlichkeit ab, in der sich Reformisten und Konservative
unversöhnlich gegenüberstehen - beide gestützt auf ihre sehr
unterschiedliche Auslegung der heiligen Schriften.
Die Türkei ist ein weiteres Land mit
muslimischer Bevölkerung, in dem die islamistische Bewegung, unter
verschiedenen Namen, schon seit einem halben Jahrhundert eine politische
Rolle spielt. Sie achtet die Gesetze und bekennt sich zu den weltlichen
Prinzipien des kemalistischen Staates, dem sie zugleich vorwirft, den
Grundsatz der staatlichen Neutralität in religiösen Angelegenheiten zu
missachten, wie er etwa in Frankreich und den Vereinigten Staaten gilt.
Diese "Islam-Demokraten", wie sie in der Türkei, in Anspielung auf die
europäischen "Christ-Demokraten" gelegentlich genannt werden, sind im
Parlament und in den Gemeinderäten stark vertreten. Sie stellten
Minister in verschiedenen Koalitionsregierungen, und ihr ehemaliger
Vorsitzender Necmettin Erbakan (dem inzwischen die Bürgerrechte
aberkannt wurden) stand von 1996 bis 1997 als erster Islamist an der
Spitze einer Regierungskoalition.
Dass sich die Islamisten diskriminiert
fühlen, hat sie paradoxerweise zu Vorreitern der Demokratisierung
gemacht, die sich für den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union und
für die Achtung der Menschenrechte einsetzen.
Islamisten als Bündnispartner?
AUCH in
Ägypten gibt es eine Reihe islamistischer Organisationen mit
unterschiedlichsten Zielen, die aber bis auf eine oder zwei Ausnahmen
einen friedlichen Reformkurs verfolgen. Das gilt auch für die
bedeutendste und älteste Gruppierung, die Muslimbrüder, die sich sowohl
gegen die Gewalt und die islamistische Diktatur im Sudan wie gegen die
"Verbrechen" der Bewaffneten Islamischen Gruppen (GIA) in Algerien
ausgesprochen haben. Dennoch haben Teile der Muslimbrüder die politische
Grundhaltung der Bruderschaft als zu konservativ empfunden und die
politische Partei Wasat ("die Mitte") gegründet. Das Programm dieser
Partei formuliert Pluralismus und Menschenrechte als wichtige Prinzipien
- was mit einer Frau und einem koptischen Christen in der Führung
deutlich wird. Das andere Extrem verkörpert der von Dr. Zawahiri
geführte islamische Dschihad, der sich inzwischen Ussama Bin Ladens
Terrororganisation al-Qaida angeschlossen hat.
Es gibt etliche weitere Beispiele für die
unterschiedlichen Ausprägungen des politischen Islam in den Ländern
zwischen Atlantik und Persischem Golf. Seit 1928 in Ägypten die
Muslimbruderschaft gegründet wurde, die sich zunächst regional stark
ausbreitete, später aber ihre Vormachtstellung verlor, haben die
islamischen Bewegungen vielfache Wandlungen und bemerkenswerte
Entwicklungen durchlaufen. Den ersten Wendepunkt markierte die
schmachvolle Niederlage der arabischen Armeen im Sechstagekrieg gegen
Israel, im Juni 1967. Danach begann der Niedergang der nationalistischen
und sozialistischen Kräfte, denen man die Schuld an diesem Debakel gab.
Gedemütigt, verzweifelt und orientierungslos, suchte die Bevölkerung der
arabischen Länder Zuflucht im Glauben. Die Islamisten nutzten, da sie
von den meisten Regimen in den Untergrund gedrängt worden waren, zur
Verbreitung ihrer Botschaft Moscheen und die unzähligen Vereine und
Wohlfahrtseinrichtungen, die sie gegründet hatten.
Aus Überzeugung oder taktischem Kalkül
übernahmen sie in ihren politischen Parolen die Programmatik ihrer
einstigen Konkurrenten. In ihren Kampagnen kamen in der einen oder
anderen Form auch nationalistische, antiimperialistische oder soziale
Forderungen vor: Man wetterte gegen das Unrecht, die Korruption, die
Gewaltherrschaft der regierenden Oligarchen. Der Rahmen des politischen
Islam bot nahezu die einzige Möglichkeit, gegen die Verhältnisse zu
protestieren und Forderungen zu stellen. Sieht man von den theologischen
Bezügen ab, waren die Erklärungen von Imam Chomeini den Aufrufen von
Führern der Dritten Welt, etwa denen des einstigen ägyptischen
Staatspräsidenten Gamal Abdel-Nasser, zum Verwechseln ähnlich. Der
Führer der iranischen Revolution konnte damit jenes Feld besetzen, das
ihm der Schah hinterlassen hatte, nachdem er alle Gruppierungen der
demokratischen Opposition, von rechts bis links, zerschlagen hatte.
Ganz offensichtlich fand das politische
und soziale Programm der Islamisten, so demagogisch es vorgetragen
wurde, in der Bevölkerung weit mehr Anklang als die religiöse Botschaft,
die zumeist frauenfeindlich war und einen repressiven Sittenkodex
propagierte. Nur so dürfte der Aufschwung der Islamisten zu erklären
sein, der sich erst vollzog, nachdem sie sich zu Kämpfern für die
nationale Sache gewandelt hatten. Sie erhielten allerdings auch
Unterstützung, vor allem finanzieller Art, von Saudi-Arabien und anderen
Golfstaaten, die sich von der Beseitigung gegnerischer Regime eine
Konsolidierung ihrer Position versprachen. Diese Freigebigkeit zahlte
sich letzten Endes wenig aus, weil die Geberstaaten nicht begriffen,
dass der politische Islam in seiner neuen Form auch ihren eigenen
Regimen nicht unbedingt gewogen war.
Wo sie die Bedrohung erkannten,
versuchten die arabischen Regime, die Islamisten durch teilweise äußerst
brutale Verfolgung oder durch Instrumentalisierung und Integration in
die staatlichen Institutionen auszuschalten. So wurden etwa die
Islamisten im Libanon, in Jordanien, in Kuwait und in Jemen erfolgreich
eingebunden. Dort sitzen sie im Parlament, in einigen Fällen stellten
sie auch Minister. Dagegen wurden sie in Syrien durch entsetzliche
Massaker dezimiert, in Tunesien und im Irak gnadenlos unterdrückt. In
Algerien hat die Fraktion der
éradicateurs innerhalb des Regimes, die für die völlige Auslöschung
der Islamisten eintritt, bislang nur erreicht, dass ein äußerst blutiger
Konflikt sich endlos hinzieht.
Es ist auch keineswegs so, dass der
Konflikt zwischen Islamisten und Machthabern identisch ist mit der
Konfrontation von Gegnern und Befürwortern eines weltlichen Staates.
Auch in einigen der Staaten, die den politischen Islam bekämpfen, sind
die heiligen Schriften des Islam die Grundlage von Verfassung und
Gesetzgebung. Andere Staaten wiederum tun alles, um die Islamisierung so
weit voranzutreiben, dass zwischen dem Regime und seinen islamistischen
Gegnern kaum noch ein Unterschied auszumachen ist. Die besten Beispiele
dafür sind Saudi-Arabien und Ägypten. Mit wenigen Ausnahmen haben alle
Staaten der Region zeitweise mit den Islamisten paktiert und sie als
Alliierte gegen noch gefährlichere Gegner benutzt. Der ägyptische
Präsident Anwar al-Sadat zum Beispiel protegierte sie in den
Siebzigerjahren, um die linken Nasseristen und die Kommunisten in Schach
zu halten - absurderweise waren es dann Islamisten, die Sadat 1981
ermordeten. Sein Amtsnachfolger Hosni Mubarak ließ von der Verfolgung
der Islamisten eine Zeit lang ab, als diese sich im Kampf gegen die
Sowjetunion in Afghanistan engagierten - auch er wurde dann 1995 Ziel
eines islamistischen Attentats. König Hussein von Jordanien stützte sich
in Konflikten mit Gruppen, die seine Macht bedrohten, wiederholt auf die
Islamisten, und auch der jemenitische Staatspräsident Abdallah Saleh
nahm im Krieg gegen die marxistische Führung von Südjemen islamistische
Bündnispartner in Anspruch. Ebenso hielt es der frühere sudanesische
Präsident Dschaafar al-Numeiri: Er brauchte die Islamisten, um sich der
Parteien zu erwehren, die gegen seine absolutistische Herrschaft
antraten, und um die christlich-animistischen Rebellenbewegungen im
Süden des Landes niederzuhalten.
In Israel sah es kaum anders aus. Solange
die Muslimbrüder in den besetzten Gebieten vor allem gegen Jassir
Arafats PLO antraten, in der sie eine aus Nationalisten und Marxisten
zusammengewürfelte Bande von Verrätern an der islamischen Sache sahen,
erhielten sie diskrete Unterstützung von der jeweiligen israelischen
Regierung. Wie kurzsichtig diese Politik war, musste die israelische
Führung dann aber 1987 einsehen, als die Bruderschaft mit Beginn der
ersten Intifada die Hamas ins Leben rief. Diese islamistische Bewegung
hat sich bis heute der Befreiung Palästinas durch Terrorismus und
bewaffneten Kampf verschrieben.
Auch die USA reagierten ähnlich wie
Israel und die arabischen Staaten. Lange Zeit sah man in Washington die
Islamisten als natürliche Bündnispartner: Sie waren unversöhnliche
Feinde der "kommunistischen Atheisten" und Verfechter der
Marktwirtschaft, womit sie sich aus amerikanischer Sicht ihren Platz in
der "freien Welt" verdient hatten. Also behandelte man sie nachsichtig
und machte sie zu Bundesgenossen. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs
unterhielten die USA eine unverbrüchliche Allianz mit Saudi-Arabien, dem
Stammland des fundamentalistischen wahhabitischen Islam. Im Kampf gegen
den Nasserismus und gegen das sowjetische "Reich des Bösen" fanden sich
während der Fünfziger- und Sechzigerjahre verschiedene islamische
Staaten und islamistische Bewegungen als Hilfstruppen im amerikanischen
Lager. Damals sah man den "Kampf zwischen Gut und Böse" in seiner ersten
Fassung.
Die Situation änderte sich grundlegend
durch drei aufeinander folgende Ereignisse: die Vertreibung der Roten
Armee aus Afghanistan, den Golfkrieg und die Auflösung des sowjetischen
Imperiums. Seitdem konnte sich in den afghanischen Bergregionen eine
neue Spielart des Islamismus entwickeln. Seine Träger waren die
Mudschaheddin, die sich nicht mehr als eingeborene Hilfstruppen der USA
verstanden. Ussama Bin Laden und seine zukünftigen Anhänger waren
überzeugt, dass sie durch heldenhaften Kampf und große Opfer ein
islamisches Land befreien könnten. Für diese Kämpfer, von denen sich
viele als Märtyrer verstanden, muss die Enttäuschung nach ihrem Sieg
umso größer gewesen sein, als sie keinerlei Anerkennung oder
Entschädigung bekamen, in der Regel ohne Arbeit und Einkünfte blieben
und auch keine Pläne für ihre Integration in die Gesellschaft entwickelt
wurden. Die USA, die sich letztlich doch ein wenig in der Pflicht
fühlten, versuchten mit sanftem Druck, einige widerstrebende Regierungen
zu bewegen, diese heiligen Krieger wieder aufzunehmen. Vergebens - mit
der Folge, dass sich diese dann ganz der Gewalt verschrieben: in
Algerien, in Kaschmir, in Palästina, im Libanon und in Ägypten und
später in Bosnien und Tschetschenien. Als Ägypten sich weigerte, Scheich
Omar Abdel Rahman aufzunehmen, der in die Ermordung von Präsident Sadat
verstrickt war, wurde ihm 1991 in den USA politisches Asyl gewährt. Zwei
Jahre später organisierte der blinde Scheich den ersten Anschlag auf das
World Trade Center in New York, was ihm eine langjährige Haftstrafe
einbrachte.
Zyklischer Antiamerikanismus
DER
Golfkrieg von 1990 bis 1991 führte in der gesamten arabisch-muslimischen
Welt zu Massenprotesten. Die Menschen gingen dabei jedoch nicht aus
Sympathie für Saddam Hussein auf die Straße, sondern um gegen die
einseitige Haltung Washingtons zu protestieren, gegen eine Politik, in
der mit "zweierlei Maß" gemessen wurde. Empört fragte man sich fast
überall in den islamistischen und nationalistischen Medien, warum Irak
wegen seines Einmarschs in Kuwait mit Sanktionen belegt wurde, während
Israel seit Jahrzehnten ungestraft arabisches Territorium besetzt halten
durfte. Nach welcher Logik funktionierte ein Embargo, das im Lauf der
Jahre zum Tod von hunderttausenden irakischer Kinder führte? Und was
brachte die Amerikaner dazu, direkt nach dem Krieg in mehreren
Golfstaaten, vor allem in Saudi-Arabien, militärische Stützpunkte
einzurichten, wenn nicht die Absicht, unpopuläre und in einigen Fällen
vom Sturz bedrohte Herrscher zu schützen? Die alleinige Supermacht USA,
die nach dem Zerfall der Sowjetunion den Beginn einer neuen Weltordnung
verkündet hatte, wurde so zur bevorzugten Zielscheibe sämtlicher
Islamisten - auch jener, die unter dem Label Bin Laden firmierten.
Die Feindschaft gegen die Außenpolitik
der USA ist gewiss keine arabisch-muslimische Erbkrankheit, auch wenn
das gerne so dargestellt wird. Antiamerikanische Ressentiments
manifestieren sich inzwischen weltweit, in Afrika, Lateinamerika und
Asien - auch in Europa, und dort nicht nur in der muslimischen
Bevölkerung. Diese ablehnende Haltung ist aber keineswegs unumstößlich.
In der neueren Geschichte gab es immer wieder Zeiten, in denen die
Amerikaner in der arabischen Welt sehr populär waren. Das gilt zum
Beispiel für Präsident Wilson, der nach dem Ende des Ersten Weltkriegs
allen kolonisierten Völkern die Befreiung versprach, oder auch für
Präsident Roosevelt, der sich 1944 gegenüber König Ibn Saud
verpflichtete, die arabischen Staaten an der Lösung des
Palästinaproblems zu beteiligen. Nach dem Zweiten Weltkrieg galten die
USA als Gegner des britischen und französischen Kolonialismus, im
Suezkrieg 1956 rief Eisenhower Großbritannien, Frankreich und Israel zur
Beendigung der militärischen Operationen gegen Ägypten und zum
sofortigen Truppenrückzug auf. In solchen Zeiten hätte eine Figur wie
Bin Laden keine Chance gehabt.
Um einen inneren Zusammenhang zwischen
Terrorismus und Islam zu konstruieren, waren die Medien bereit, bis ins
11. Jahrhundert zurückzugehen und auf die Verbrechen der Sekte der
Assassinen zu verweisen. Jeder ernsthafte Historiker wird natürlich
klarstellen, dass solche Parallelen zu den Unternehmungen Bin Ladens
völlig unsinnig sind. Tatsächlich ist der Terrorismus ein globales
Phänomen, es gab und gibt ihn überall auf der Welt, in so
unterschiedlichen Ländern wie Deutschland, Japan, Italien, Argentinien
oder Griechenland. Seine so genannte islamische Variante ist erst vor
kurzem entstanden, zuvor war er nacheinander oder gleichzeitig
palästinensisch, israelisch, ägyptisch oder jemenitisch, er war eine
dauerhafte oder lediglich sporadische Erscheinung, er hatte
individuelle, nationalistische oder staatliche Ursprünge und suchte
seine Ziele zumeist im eigenen Land.
Dagegen ist der Terrorismus der
Organisation al-Qaida, die Ussama Bin Laden am Ende des antisowjetischen
Kriegs in Afghanistan gründete, von ganz anderer und ganz eigenständiger
Qualität. Ihr Terror richtet sich fast ausschließlich gegen
US-amerikanische Interessen, sein Wesen und sein Rekrutierungsfeld sind
transnational, denn al-Qaida handelt im Namen der Umma, der über fünf
Kontinente verteilten "Gemeinschaft der Muslime". Dieser Terrorismus ist
mithin "globalisiert", er agiert weltweit - nach Auskunft des
US-Außenministeriums in mehr als fünfzig Staaten - und bedient sich
solcher Methoden und Techniken, die erst durch die Globalisierung
Verbreitung fanden. Seine Gefolgsleute kommen aus dem Mittelstand und
sind nicht selten mit der westlichen Kultur aufgewachsen, sie
organisieren sich in kleinen Gruppen, handeln fast autonom - nur
geleitet von den allgemeinen Direktiven eines "Zentrums", das
schemenhaft bleibt, sich von keinem Staat instrumentalisieren lässt und
für seine Logistik und Finanzierung ausschließlich auf private
Initiativen, auf Wohlfahrtseinrichtungen und reiche Spender
zurückgreift.
Agierten die Terroristen von einst im
Namen von Organisationen, die sich zugleich gewaltfrei in der
politischen Öffentlichkeit betätigten, so verfügen die Anhänger Bin
Ladens, so weit erkennbar, über keinen organisierten Rückhalt in der
Bevölkerung islamischer Länder. Sie sind sozusagen Entwurzelte, die den
Anspruch erheben, in Wort und Tat die Weltgesamtheit der etwas über eine
Milliarde Muslime aller Glaubensrichtungen zu vertreten.
Die höchsten geistlichen Autoritäten des
Islam, der Sunniten wie der Schiiten, haben die Selbstmordattentate vom
11. September praktisch einmütig verurteilt - was von den westlichen
Medien freilich weitgehend ignoriert wurde. In feierlichen Erklärungen
oder beim Freitagsgebet in den Moscheen erklärten sie das Massaker an
Unschuldigen für ebenso unvereinbar mit Geist und Buchstaben der
heiligen Schriften des Islam wie den Selbstmord der Attentäter, den jede
der drei großen monotheistischen Religionen verbietet. Welchen Wert soll
man also den Fatwas beimessen, in denen Bin Laden und seine Mitstreiter
zum Dschihad aufrufen? Deren Autorität als Religionsgelehrte scheint
äußerst zweifelhaft. Ähnliches gilt für das wenig sittenstrenge
Verhalten der Luftpiraten. Zwei von ihnen sollen vor ihrer Schreckenstat
in Florida in Bars gesessen und Alkohol getrunken haben.
Auch die islamistischen Bewegungen der
arabischen Welt haben sich, bis auf wenige Ausnahmen, zu den Ereignissen
geäußert. So hat etwa die al-Nahda, die tunesische
Untergrundorganisation von Rached Ghannouchi, in einem Kommuniqué die
Terroraktionen "rückhaltlos verurteilt", und zwar als "barbarische
Handlungen, die durch nichts zu rechtfertigen sind" und die "nicht den
Muslimen zugeschrieben werden dürfen". Andere islamistische
Organisationen zogen es vor, sich weniger deutlich, aber ebenso
ablehnend gegen "alle Gewalttaten, von wem sie auch ausgehen", zu
äußern.
Statt sich auf den Islam und seine
angebliche Nähe zu Fanatismus und Terrorismus zu konzentrieren, sollte
man sich vielleicht eher mit der geistigen Verfassung der Massenmörder
vom 11. September befassen. Man sollte über die Faszination des Todes
nachdenken, für die nicht nur Bin Laden steht, sondern der auch einige
Sekten in Europa und den USA erlagen und dadurch traurige Berühmtheit
erlangten. Und man sollte sich fragen, was das Glücksgefühl bedeutet,
das Selbstmordattentäter vor ihrer Tat offenbar beseelt.
Nun wird Bin Laden zwar von den
Islamisten und den islamischen Religionsgelehrten abgelehnt und implizit
als Ketzer betrachtet, dennoch scheint er Verständnis und Sympathie in
verschiedenen, nicht nur muslimischen Gesellschaften zu finden. Dies
überrascht wenig: Menschen, die sich entrechtet und von der
Globalisierung benachteiligt fühlen, die sich als Opfer eines arroganten
Hegemonialstrebens der Vereinigten Staaten sehen, mögen von den
religiösen Haarspaltereien und den abscheulichen Methoden von al-Qaida
wenig halten - dennoch haben sie die politische Botschaft offenbar
verstanden. Eine Botschaft, von der die
éradicateurs des Feldzugs "Dauerhafte Freiheit" nichts wissen wollen
- auf die Gefahr hin, dass sie der Behauptung Recht geben, es handle
sich um einen Krieg der Religionen.
dt. Edgar Peinelt
Le Monde diplomatique Nr. 6602 vom
16.11.2001, Seite 1,10-11, 92 Zeilen (Dokumentation), ERIC ROULEAU
haGalil onLine 22-03-2002 |