Eine Analyse von Miriam Magall:
Allahs Sonne über dem Abendland?
Über die Möglichkeiten
eines friedlichen Nebeneinanders von Orient und Okzident...
Widerstand gegen westliche Werte
- 5.1 Der Aufstieg der Muslimbruderschaft
- 5.2 Die Ideologie der Muslimbrüder
Nicht alle Regierungschefs im Nahen Osten sind
einer Meinung mit Mustafa Kemal, besser bekannt als Atatürk, der
Vater der modernen Türkei. Sein Hauptaugenmerk gilt der Religion. Er
ist der Ansicht, dass es in einer Nation, deren Leben von den
Gesetzen Gottes beherrscht wird, keinen Platz gibt für die Gesetze
der Vernunft. Die natürliche Folge sind einschneidende Reformen, die
das Leben der Menschen von Grund auf verändern sollen.
Er bannt den Religionsunterricht aus den Schulen ebenso wie jeden
Bezug auf den Islam aus der neuen Verfassung. Er ersetzt das Gesetz
des Koran durch den säkularen Code Napoléon. Er löst die
Derwischorden auf und schafft den Fez ab. Schließlich ersetzt er die
arabische Schrift durch die lateinische. Es entsteht ein säkularer
Staat, in dem der Islam eine untergeordnete Rolle spielt.
Andere Länder folgen seinem Beispiel nicht. Im
Gegenteil. Vor allem in Ägypten gärt es. Der durch den Ersten
Weltkrieg ausgelöste Industrialisierungsschub bricht mit dem
Kriegsende in sich zusammen. Die Folge sind Arbeitskämpfe in Kairo,
Alexandria und in der Kanalzone.
5.1 Der Aufstieg der Muslimbruderschaft
Das ist reifer Boden für eine neue religiöse
Bewegung: Im März 1928 gründet der charismatische Prediger Hassan
al-Banna die Muslimbruderschaft. Wie seine Lehrer Muhammad Abduh und
Rashid Rida fordert er die Rückkehr zum Urislam, denn ihm zufolge
ist sie die einzig wahre und daher zur Vorherrschaft bestimmte
Religion. (Zum ersten Mal in der modernen Geschichte wird damit die
Vorherrschaft des Islam propagiert.) Die Muslimbruderschaft vertritt
die Interessen der Arbeiter gegen die Tyrannei der fremdländischen
und monopolistischen Unternehmer. Dank der Einrichtung sozialer
Institutionen für die Bedürftigen steigt die Mitgliedschaft der
Muslimbrüder von 800 im Jahr 1936 auf 200 000 im Jahr 1938 und
erreicht 1948 bereits 500 000 Mitglieder.
Damit aber nicht genug, denn die Bruderschaft beginnt
mit dem systematischen Aufbau einer Art "Islamistischer
Internationalen". In Kairo rekrutieren Muslimbrüder gezielt
ausländische Studenten. Mit ihnen wird der Kaderstamm ihrer
Zweigstellen in anderen Ländern aufgebaut: 1936 im Libanon, 1937 in
Syrien und 1946 in Transjordanien. Als nächsten Schritt gründet die
Bruderschaft ein "Weltkomitee für Palästina und Islam". Es umfasst
die Gruppen "Nahost-Komitee", zuständig für die arabische Welt und
Afrika, die Türkei und Iran, ein "Fernost-Komitee" für Afghanistan,
Turkmenistan, China, Indien, Indonesien und Japan sowie ein
"Europa-Komitee". Das Hauptquartier der Bruderschaft in Kairo wird
zum Zentrum der gesamten islamischen Welt ausgebaut.
5.2 Die Ideologie der Muslimbrüder
Die Muslimbrüder verstehen sich als die erste
Revolutionsbewegung im modernen Islam. 1948 sind bereits 40 000
Mitglieder im paramilitärischen Flügel der Bruderschaft organisiert.
Ihn hat man ausdrücklich zum Zwecke einer bewaffneten islamischen
Erhebung gegründet. Vor den durchaus nicht zu vernachlässigenden
organisatorischen Anliegen (Abschaffung aller Parteien und die
Beseitigung der parlamentarischen Demokratie zugunsten einer
organischen Staatsordnung auf der Grundlage von Scharia und Kalifat)
und ökonomischen Zielen (Abschaffung von Zins und Profit sowie die
Interessengemeinschaft zwischen Arbeit und Kapital) hat jedoch der
kulturelle Kampf der Muslimbrüder gegen alle sinnlichen und
materialistischen Versuchungen der kapitalistischen und
kommunistischen Welt Vorrang.
Aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, sind die
Muslimbrüder eine Gemeinschaft eifernder Männer, die in erster Linie
das nach ihrer Koranauslegung sexuell und sinnlich Verbotene
verhindern will. Sie projizieren ihre eigenen libidinösen Wünsche
und Träume auf die Welt der Ungläubigen. Die Aggression, mit der die
Muslimbrüder die eigenen sinnlichen Bedürfnisse verleugnen, tobt
sich als Hass gegen "westliche Dekadenz" und "jüdische
Sittenlosigkeit" aus. Dem verbotenen Begehren und dem begehrten
Verbotenen darin kann man sich einzig und allein durch Zerstörung
nähern. Ein greifbares Beispiel, wie sich derartige Vorstellungen
auf das praktische Leben auswirken können, liefert das
Taliban-Regime in Afghanistan.
hagalil.com
18-08-2005 |