Der tunesische
Minister für religiöse Angelegenheiten:
"Fundamentalismus ist Opportunismus"
Der Wiener Journalist Lucian O.
Meysels, ständiger Mitarbeiter der
Illustrierten Neue Welt,
zählt zu den fundiertesten Nahostexperten Österreichs und hat etliche
Jahrzehnte lang die Entwicklungen in der islamischen Welt studiert. Erst
vor etlichen Wochen interviewte er in Tunis den Minister für religiöse
Angelegenheiten und Pro-Rektor der islamischen Zeituna Universität,
Jelal Jribi.
Bei der Verurteilung der Fundamenalisten nimmt sich
Jribi kein Blatt vor den Mund: „Fundamentalisten sind Opportunisten, die
Schaden über die islamische Gemeinschaft bringen.“ Das Interview ist
auch in Meysels neu aufgelegtem Buch „Gottes
Rächer, religiöse Fundamentalisten im Vormarsch“, Edition
Va bene, zitiert. Meysels setzt sich darin mit fanatischen Strömungen in
anderen „etablierten“ Religionen auseinander.
INW: Was
verstehen Sie unter dem Ausdruck „islamischer Fundamentalismus“?
Prof. Jribi: Zuerst einmal: Ich widerspreche
entschieden dem gängigen Ausdruck „Fundamentalismus“ (Usuliin), weil er
den Eindruck vermittelt, dass es um die Fundamente des Glaubens geht.
Diese Art des sogenannten Fundamentalismus wird von extremistischen
Gruppen propagiert und ich ziehe es vor, von Opportunismus und nicht von
Fundamentalismus zu sprechen.
INW: Und wie würden Sie diese Art des religiösen
Extremismus definieren?
Prof. Jribi: Ich würde diesen Fundamentalismus,
wie er seit der Frühzeit des Islam existiert, folgendermaßen
interpretieren: Das entscheidende Kriterium dieser Gruppen ist es, dass
sie die Ansichten anderer Gruppen nicht akzeptieren. Sie zeigen
keinerlei Verständnis für Gegenwart und Zukunft, sondern leben
ausschließlich in der Vergangenheit. Sie glauben auch nicht an
Rationalität und verwerfen deshalb jede Interpretation des Koran oder
religiöser Texte, außer der eigenen. Ein weiteres Kriterium dieser
Gruppe ist, dass sie das Töten jener rechtfertigen, die ihre Thesen
ablehnen. Das ist übrigens nichts Neues, sondern wurde bereits von
Extremisten in der Vergangenheit praktiziert. Vereinfacht dargestellt:
Diese Gruppen lehnen jede Mäßigung ab und bekennen sich ausschließlich
zu radikalen Lösungen. Eigentlich haben sie nichts mit den Prinzipien
der Religion zu tun, sondern verfolgen mit ihren Aktivitäten politische
Ziele. Sie meinen, dass nur sie ein Monopol auf die Wahrheit besitzen.
Sie maßen sich daher ein Recht an, Urteile über die Ansichten anderer zu
fällen. Wobei diese Urteile nicht auf Recht oder Unrecht, sondern
lediglich auf ihren eigenen Auffassungen beruhen.
INW: Sie sehen also keine Gemeinsamkeiten
zwischen den sogenannten Fundamentalisten und normalen konservativen
Moslems?
Prof. Jribi: Natürlich keine. Es gibt keine
Verbindung zwischen Fundamentalisten und Konservativen. Ein
Konservativer ist für mich eine Person, die über fundierte Kenntnisse
der Heiligen Schrift verfügt. Logischerweise fördert dieses Wissen
Toleranz, Akzeptanz anderer Meinungen, Rationalität und die Berurteilung
von Verbrechen. Je weiter man sich von diesen Texten entfernt, desto
öfter findet man Entschuldigungen für bestimmte Verbrechen.
INW: Glauben Sie, dass
Außenstehende die Trennungslinien zwischen Konservativen und
Fundamentalisten so einfach erkennen?
Prof. Jribi: Leider herrscht in der breiten
Öffentlichkeit ein hohes Maß an Verwirrung. Viele können den Unterschied
nicht erkennen zwischen jenen, für die Religion eine Glaubensfrage ist,
und anderen, für die sie ein politisches Kampfmittel darstellt. Wir
vertrauen auf den Wert von Erziehung und Bildung und hoffen, dass
Bildungseinrichtungen und Medien in diesem Zusammenhang ihren Beitrag
leisten werden, um den Unterschied zwischen Religion und
Fundamentalismus deutlich herauszuarbeiten.
INW: Sind die Fundamentalisten wirklich
auf dem Vormarsch oder wird dieses Phänomen in den Medien künstlich
hochgespielt?
Prof. Jribi: Der Fundamentalismus trat bereits
in der Frühzeit des Islam auf, aber er ist keineswegs ein rein
islamisches Phänomen. Er tritt auch innerhalb der christlichen und
jüdischen Konfessionen auf. Fundamentalismus wirkt wie ein Feuer in
einem Heuhaufen, das rasch um sich greift. Aber es ist ein Strohfeuer,
das wieder ausgeht mangels Brennstoff.
INW: Besteht eine Chance auf Mäßigung unter den
Fundamentalisten?
Prof. Jribi: Es ist schwer, sich zu mäßigen oder
eine derartige Gruppe zu verlassen, wenn man einmal dazugehört. Die
vorrangige Zielgruppe der Fundamentalisten sind ungebildete Jugendliche.
Darüber hinaus vertreten die Fundamentalisten das Prinzip, dass der
Zweck die Mittel heiligt. Mit diesem Ziel vor Augen setzen sie neben
Geld auch Sex, Drogen oder Mystifikation ein, um neue Anhänger zu
gewinnen.
INW: Wieso Sex?
Prof. Jribi: Sie sagen den Jugendlichen, dass es
möglich ist zu heiraten, einfach indem man nur eine gewisse Sure aus dem
Koran verliest. Und dass man sich auf die gleiche einfache Art scheiden
lassen kann. Das macht das Ganze für Jugendliche, besonders für
ungebildete, attraktiv.
INW: Also widerspricht die Praxis des
Fundamentalismus, Ihrer Ansicht nach den Grundprinzipien des Islam, der
sich über die Jahrhunderte oftmals als toleranter erwiesen hat als
andere Konfessionen?
Prof. Jribi: So ist es.
INW: Stellen die Fundamentalisten eine Gefahr
für die etablierten Regierungen islamischer Staaten dar?
Prof. Jribi: Man sollte hier nicht
verallgemeinern. Jeder Fall ist „sui generis“. Viel hängt von den
sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Konditionen ab. Wenn Sie auf
die Lage in Algerien anspielen, so muß ich betonen, dass diese sich von
jener in Tunesien grundlegend unterscheidet. Algerien hat eine sehr
schwierige Vergangenheit, was politische Entwicklung, Demographie und
Institutionen betrifft. Tunesien hat, im Gegensatz zu seinen Nachbarn,
eine relativ einheitliche Bevölkerung, in der es keine Gegensätze
zwische Arabern und Berbern gibt. Algerien ist ein Vielvölkerstaat. Wir
waren etliche Jahrzehnte lang ein französisches Protektorat. Algerien
wurde mehr als ein Jahrhundert lang direkt von Paris regiert. Auch nach
Erlangung der Unabhängigkeit wählten wir unterschiedliche Wege. Etwa im
Erziehungsbereich. Wir bildeten unsere eigenen Lehrer aus, Algerien
holte die meisten aus Ägypten.
INW: Wie ist es um die Rolle der Frau in der
fundamentalistischen Gesellschaft bestellt? Sind die Frauen als
schwächstes Glied das erste Opfer?
Prof. Jribi: Die Gesellschaft in ihrer
Gesamtheit ist das Ziel und das Opfer des Fundamentalismus. Die Frauen,
die Intellektuellen, die Andersdenkenden und die Armen, sie alle sind
Opfer des Versuchs, das Rad der Geschichte zurückzudrehen.
INW: Der Iran und das Taliban-Regime in
Afghanistan gelten schlechthin als fundamentalistisch. Dennoch sind sie
erbitterte Feinde. Hängt das mit dem Gegensatz Schiiten – Sunniten
zusammen?
Prof. Jribi: Überhaupt nicht. Die Gegensätze
sind rein politisch.
INW: Gibt es übernationale Verflechtungen unter
den Fundamentalisten?
Prof. Jribi: Offenkundig sind Fundamentalisten
Teil eines weltweiten Netzes. Es gibt Parallelen zu anderen Bewegungen.
INW: Und was ist die wirksamste Waffe gegen den
Fundamentalismus?
Prof. Jribi: Der Fundamentalismus ist ein
universelles Problem. Für alle Konfessionen. Die Antwort liegt in der
internationalen Solidarität zum Schutz gemeinsamer Werte.
haGalil onLine
25-12-2001 |