ISLAMISCHE BANKEN IM GLOBALEN FINANZSYSTEM
Eine unwahrscheinliche Erfolgsgeschichte
ISLAMISCHE Finanzinstitutionen, die in ihrer modernen
Form erst in den Siebzigerjahren entstanden sind, operieren mittlerweile
in über 75 Ländern. Angesichts einer Religion, die den Zinsgewinn
ablehnt, mag ihre Rolle paradox erscheinen. Gleichwohl entstanden sie
parallel zu dem Erwachen des politischen Islam. Dessen Niedergang jedoch
haben die Banken überstanden. Mit der Globalisierung der Finanzströme
erlebten sie einen starken Aufschwung und konnten ihre Position
ausbauen. Heute werden neben anderen "ethischen" Finanzprodukten
islamische Fonds angeboten, die auf einer Teilung der Gewinne und der
Verluste beruhen, oder prosaischer, auf Investitionen in Sektoren, deren
Charakter allgemein als statthaft akzeptiert wurde.
Von IBRAHIM WARDE
* Forschungsbeauftragter an der Harvard University. Von ihm
erschien zuletzt: "Islamic Finance in the Global Economy", Edinburgh
(Edinburgh University Press) 2000.
Seit 1982 hat sich das Gesamtvermögen islamischer
Finanzinstitutionen um mehr als das Vierzigfache erhöht. Heute wird
dieses Vermögen auf über 230 Milliarden Dollar geschätzt.(1)
Als Erste der großen westlichen Banken richtete 1996 die
New Yorker Citibank einen islamischen Geschäftszweig ein und eröffnete
eine Filiale in Bahrein. Andere Banken folgten, und inzwischen verfügen
fast alle Geldinstitute zumindest über ein "Fenster zur islamischen
Welt", oder sie bieten ihrer islamischen Klientel spezielle
Dienstleistungen an. Es gibt sogar einen Dow-Jones-Index für den
islamischen Markt, der Hunderte von Firmen (nicht nur islamischer
Länder) erfasst, die den Bestimmungen der Scharia genügen.
Angesichts der häufig geäußerten Ansicht, der Islam sei
mit der seit dem Ende des Kalten Krieges herrschenden "Neuen
Weltordnung" nicht vereinbar, mag diese Entwicklung überraschen.(2) Wie
können sich Einrichtungen, die den "Wucher" ablehnen, in der
technologieorientierten Welt der globalen Geldströme so erfolgreich
behaupten? Wie kommen sie in der Sphäre des globalen Finanzsystems
zurecht, in dem allein die Rendite zählt? Wieso erblüht die islamische
Geldwirtschaft ausgerechnet mit dem Niedergang des "politischen Islam",
als dessen typische Ausdrucksform sie galt?(3)
Die modernen Formen des islamischen Bankwesens
entstanden Anfang der 1970er-Jahre, als in der islamischen Welt zwei
entscheidende Entwicklungen zusammenkamen: der Anstieg des Ölpreises und
die Ausbreitung panislamischer Bewegungen. Mit der militärischen
Niederlage im "Sechstagekrieg" von 1967 war die säkulare panarabische
Bewegung des Nasserismus am Ende. Unter dem Banner des Panislamismus
übernahm Saudi-Arabien die Führungsrolle unter den arabischen Staaten
der Region.(4)
1970 wurde die Organisation Islamischer Staaten (OIC)
gegründet. Das beförderte auch die Bestrebungen, das traditionelle
islamische Bankwesen an die Gegenwart anzupassen. Verschiedene
islamische Religionsgelehrte, vor allem in Pakistan, hatten dazu schon
Jahre zuvor Vorschläge erarbeitet. Überall in der islamischen Welt
entstanden Forschungseinrichtungen, die sich mit Fragen von Wirtschaft
und Finanzwesen nach Maßgabe des Islam befassten.
1974, als sich der Ölpreis vervierfacht hatte, beschloss
man auf dem Gipfeltreffen der OIC in Lahore, eine von allen Regierungen
gemeinsam unterhaltene "Islamische Bank für Entwicklung" (IDB) zu
gründen. Diese Bank mit Sitz in Dschidda sollte den Grundstein für ein
neues, islamisch geprägtes Bankensystem legen. Ein Jahr später nahm die
"Dubai Islamic Bank" den Geschäftsbetrieb auf - die erste moderne
islamische Bank, die nicht unter Regierungsaufsicht stand. Es entstand
ein internationaler Verband islamischer Banken mit dem Ziel,
verbindliche Normen auszuarbeiten und gemeinsame Interessen zu
verteidigen. Pakistan war 1979 das erste Land, das sein gesamtes
Bankenwesen vollständig unter die Vorschriften des Islam stellte, 1983
gefolgt vom Sudan und dem Iran.
Jene Korangelehrten, die auf der Grundlage eines reichen
Bestands von Korankommentaren - aus vorkapitalistischer Zeit - Regeln
für die aktuelle Geldwirtschaft formulieren wollten, standen vor einem
Problem. Der Handel spielte in der islamischen Tradition eine wichtige
Rolle (der Prophet Mohammad selbst war Kaufmann), doch im Koran wird in
Vers 275 der 2. Sure darauf hingewiesen, dass "Verkauf erlaubt, die
Zinsen aber verboten" seien. Was hier verboten wird ist riba -
wörtlich etwa "Zugewinn". Manche Kommentatoren verstehen darunter nur
die "Wucherzinsen", die meisten jedoch jede Art von Zinsgewinn.
Wichtige religiöse Autoritäten - etwa der Rektor der
Al-Azhar-Universität in Kairo, einer der ältesten und berühmtesten
Stätten islamischer Gelehrsamkeit - haben inzwischen bestimmte Formen
von Zinseinnahmen abgesegnet, doch für die Mehrheit der Korangelehrten
ist
riba nach wie vor gleichbedeutend mit jeder Form von Zins.(5)
Grundsätzlich akzeptieren die Gelehrten die Formel "Zeit ist Geld", doch
sie lehnen fixe, "vorab festgelegte" Zinssätze bei Kreditgeschäften ab,
weil auf diese Weise ein Kreditgeber seine Schuldner ausbeuten könnte.
In der Frühzeit des Islam vollzogen sich Finanzgeschäfte
vorwiegend in einer Art Partnerschaft zwischen Geldgebern und Debitoren:
Man teilte Gewinne und Verluste, ähnlich wie bei den heutigen Geschäften
mit "Risikokapital", die einen Finanzier auf Gedeih und Verderb an die
Firma binden, in die er investiert. Im Mittelalter waren die reichen
Händler auf der arabischen Halbinsel, die das Geld für die Ausstattung
der Karawanen aufbrachten, natürlich am Erlös einer erfolgreichen
Handelsreise beteiligt. Aber sie trugen auch das Risiko, ihren Einsatz
ganz oder teilweise zu verlieren, wenn die Waren verloren gingen, oder
gestohlen oder mit Verlust verkauft wurden.
Partnerschaftliche Finanzierungsgeschäfte
BEI der Einrichtung eines
modernen islamischen Bankwesens konzentrierte man sich auf
partnerschaftliche Modelle mit gemeinsam getragenen Gewinn- und
Verlustchancen, die finanzschwachen Unternehmern mit guten
Geschäftsideen bessere Möglichkeiten boten. Man hoffte, damit
wirtschaftlich mehr zu bewegen als mit den üblichen
Schuldverschreibungen. Darüber hinaus sollte das System Leuten, die aus
religiösen Gründen Geldgeschäfte ablehnten, die Möglichkeit bieten, ihr
angesammeltes Kapital produktiv in den ökonomischen Kreislauf
einzuspeisen. Und schließlich sollten die Banken, der islamischen
Pflicht zum Almosen (zakat)(6) gehorchend, Stiftungen für
verschiedene wohltätige und soziale Zwecke einrichten und unterhalten.
Die ersten islamischen Banken traten also mit dem Ziel
an, partnerschaftliche Finanzierungsgeschäfte abzuwickeln - mudaraba
(partnerschaftliche Vermögensverwaltung) und muscharaka (gemeinsame
Unternehmungen) -, doch zumeist finanzierten sie "Cost-plus"-Operationen
(Einsatz plus Gewinn), mit Verträgen, die als murabaha bezeichnet
werden: Die Bank kauft die Güter, die ein Investor benötigt, und
verkauft sie ihm dann mit Gewinn. Für die Erträge aus Einlagen bei der
Bank (Scheckkonten, Sparkonten oder Investmentfonds) galt das Prinzip
der Teilung von Gewinn und Verlust: Die Erträge aus Investitionseinlagen
richteten sich nach dem Erfolg der Beteiligungen; Sparguthaben wurden
entsprechend den Gewinnen der Bank insgesamt verzinst.
Doch die Erfahrungen mit der Gewinn- und Verlustteilung
waren enttäuschend, und viele Banken gaben diesen Geschäftszweig auf.
Überdies hatte es einige spektakuläre Pleiten islamischer Geldinstitute
gegeben: 1988 mussten in Ägypten die Islamischen Gesellschaften zur
Geldverwaltung (IMMC) ihre Tätigkeit einstellen, und 1991 ging die
Internationale Bank für Handel und Kredit (BCCI) in Konkurs.
Damals sah man im islamischen Bankwesen lediglich ein
vorübergehendes Phänomen, das nur aus der Ära hoher Rohölpreise zu
erklären sei. In Wirklichkeit jedoch erfuhren die islamischen
Geldinstitute einen starken Wachstumsschub. Seit Anfang der 1990er-Jahre
war auch die islamische Welt in den Sog des deregulierten und stärker
technologieorientierten internationalen Finanzsystems geraten und bekam
die Folgen des politischen, wirtschaftlichen und demografischen Wandels
zu spüren, der auf verschiedene Faktoren zurückging: die Auswirkungen
der iranischen Revolution, den Zusammenbruch der Sowjetunion, die
Entstehung neuer islamischer Staaten, die veränderten Bedingungen auf
dem Ölmarkt, den Aufstieg der asiatischen "Tigerstaaten", den
zunehmenden Einfluss des Islam im Westen, oder das Aufkommen einer neuen
islamischen Mittelschicht.
Vor diesem Hintergrund muss man die gegenwärtigen
Bemühungen um eine "Wirtschaftsmoral" des Islam verstehen. In den
1970er-Jahren war es vorwiegend um scholastische Probleme gegangen, um
Auslegungen und Rechtsgutachten auf Basis des Koran. Heute ist für die
"Neuerungsbewegung"
(idschtihad) die praktische Frage zentral, wie man moderne
Finanzinstrumente mit den Grundsätzen des Islam versöhnen kann. Nach
neuerer Auffassung gilt nicht mehr das Prinzip, dass alle Formen, die es
in der Frühzeit des Islam nicht gab, als unislamisch gelten müssen. Das
widerlegt nicht nur das gängige Vorurteil, der Islam sei erstarrt und
vormodern, sondern verdeutlicht gerade die Anpassungsfähigkeit, die es
dieser Religion ermöglicht hat, sich seit vierzehn Jahrhunderten auf
allen Kontinenten zu behaupten: In islamischer Diktion sind dies die
Prinzipien der Abkehr von der Tradition (urf) zwecks Einbindung
örtlicher Gebräuche, des öffentlichen Interesses (maslaha) oder
der sozialen Notwendigkeit (darura).
In dieser Situation liefen die traditionellen
renditeorientierten Geschäftsbanken Gefahr, in religiös bestimmte
Konflikte zu geraten. Dagegen schlug die Stunde des Erfolgs für die
neuen islamischen Institute, die den Unterschied zwischen dem
Geldgeschäft und anderen Bereichen der Finanzierung zu verwischen
suchten, ihre Zinseinkünfte versteckten und neue Formen von
Finanzoperationen erprobten. Indem sie die Zinserträge als unerheblich
behandelten (und "Gebühren" zu ihrer Haupteinnahmequelle erklärten),
gelang es den islamischen Bankern, die Kontroverse um riba, den
Zins, zu unterlaufen. Im Rahmen der Deregulierung konnten so allerorts
maßgeschneiderte Angebote für die islamische Kundschaft vorgestellt
werden.
Auf der ideologischen Ebene ging die antidirigistische
Haltung der Islamisten gut zusammen mit dem neuen "Washington
Consensus". Der Westen wollte Privatisierung, Deregulierung und
Rechtssicherheit, aber auch den Islamisten waren Privateigentum,
Unternehmensfreiheit und die Achtung von Verträgen sehr wichtig. Dass
sie dabei großen Wert auf die Almosenpflicht und andere Formen religiös
begründeter Umverteilung des Reichtums legten, war ein Gegengewicht zu
den Tendenzen der Reagan-Thatcher-Ära, den Sozialstaat abzubauen. In
vielen Ländern beriefen sich die Unternehmer auf den Islam, um
gesetzliche Beschränkungen zu umgehen und den Einfluss des Staates in
der Wirtschaft zurückzudrängen.
Für Malaysia und Bahrain zum Beispiel war die
Islamisierung der Hebel, um eine Modernisierung des Finanzwesens
durchzusetzen. Dabei ging es vor allem darum, die Vorliebe des
Privatsektors für Zinsgewinne und die wettbewerbsfeindlichen Haltungen
der eingesessenen Führungsschichten zu bekämpfen, die kein Interesse an
einer Änderung der Verhältnisse hatten.(7) Nach der Financial Times
gehören die islamischen Finanzinstitute inzwischen zu den Vorreitern der
Innovation und der wirtschaftlichen Dynamik.(8)
Womöglich sind auch gerade die Auswüchse des globalen
Finanzsystems für den gegenwärtigen Aufschwung der islamischen Banken
verantwortlich.(9) So wie sich im Westen angesichts fragwürdiger
Unternehmensstrategien eine neue Debatte über moralische Verpflichtungen
in der Wirtschaft entwickelt hat, hat das "unmoralische" Gebaren der
Banken in der islamischen Welt zu Versuchen geführt, ein moralisch
vertretbares Finanzwesen zu schaffen. Während im Westen die kirchlichen
Ursprünge vieler Geldinstitute vergessen sind und das aus der
jüdisch-christlichen Tradition hervorgegangene Bankwesen längst als
säkular gilt, musste das Konzept einer islamischen Geldwirtschaft in
einer Zeit der Neuentdeckung des Glaubens(10) großes Interesse erwecken.
Gerade weil der Islam alle wirtschaftlichen Unternehmungen positiv sieht
und sie gleichzeitig strengen ethischen Geboten unterwirft, ermöglichte
ein islamisches Bankwesen tragfähige Kompromisse zwischen Ethik und
Geldgeschäften.
Die Anfänge eines genuin islamischen Bankwesens gehen
auf Initiativen in den ölreichen Ländern (vor allem Saudi-Arabien) und
in Ägypten und Pakistan zurück. Inzwischen ist allerdings auch die
Vielfalt der Formen innerhalb der islamischen Welt deutlich geworden:
Heute gibt es in mindestens 75 Ländern islamische Banken, die eine
Vielzahl von Finanzprodukten anbieten. Auch zwischen den Ländern, deren
gesamtes Finanzwesen den Maßgaben des Islam unterliegt, bestehen große
Unterschiede, was die praktische Umsetzung dieses Prinzips und die
Rahmenbedingungen angeht. Auch kommen die wichtigsten Anregungen und
islamischen Rechtsgutachten zu diesen Fragen inzwischen aus muslimischen
Gemeinschaften in der Diaspora.
Heute expandieren die Banken vor allem in Bereichen
jenseits der traditionellen Geschäftszweige und in Finanzbranchen, die
früher als "unislamisch" galten (etwa Versicherungen - takaful -)
oder in den 1970er-Jahren noch gar nicht existierten (Kleinkredite und
vor allem Investitionsgeschäfte). Immer populärer werden auch
Investmentfonds, die keine unislamischen Aktien enthalten, also Firmen
ausschließen, die eine hohe Schuldenlast aufweisen oder moralisch
zweifelhaften Geschäften (wie Glücksspiel, Alkoholverkauf und anderen
verbotenen Aktivitäten) nachgehen. Daneben gibt es auch ein ebenso
gefragtes Angebot von Aktienpaketen, die säkularen Prinzipien wie der
"sozialen Nützlichkeit" genügen. Das islamische Bankwesen wird sich
zweifellos noch mit vielen strategischen, wirtschaftlichen, politischen,
gesetzlichen und religiösen Problemen auseinander setzen müssen, doch es
sieht ganz so aus, als ob diese Finanzinstitute auch weiterhin auf
Erfolgskurs bleiben werden.(11)
dt. Edgar Peinelt
Fußnoten:
(1) www.islamicbanking-finance.com
(2) Samuel P. Huntington, "Kampf der Kulturen: die Neugestaltung der
Weltpolitik im 21. Jahrhundert", München (Goldmann) 1998.
(3) Siehe etwa Olivier Roy, "LEchec de lIslam politique", Paris (Seuil)
1992.
(4) Edward Mortimer, "Faith and Power: The Politics of Islam", New York
(Random House) 1982.
(5) Es ist noch nicht sehr lange her, dass Christentum und Judentum
ähnliche Ächtungen des Zinsgeschäfts verfügt haben. Siehe dazu Rodney
Wilson, "Christian and Muslim Economic Thought", New York (New York
University Press) 1997.
(6) Die Almosenpflicht (zakat) ist eine der "fünf Säulen" des Islam
- die übrigen vier sind: Bekenntnis zum Glauben, tägliches Gebet, Fasten
während des Monats Ramadan und (für diejenigen, die es sich leisten
können) die Pilgerfahrt nach Mekka.
(7) Siehe Georges Corm, "A quand lajustement structurel du secteur privé
dans le monde arabe?", Le Monde diplomatique, Dezember 1994.
(8) Roula Khalaf, "Dynamism is held back by state control: As family
dynasties stifle creativity in most of the industry, the Islamic sector
is showing signs of the greatest vibrancy", Financial Times, 11.
April 2000.
(9) Ibrahim Warde, "La derive des nouveaux produits financiers", Le
Monde diplomatique, Juni 1994.
(10) Yahia Sadowski, " ,Just' a Religion: For the Tabblighi Jamaat, Islam
is not totalitarian", The Brookings Review, Sommer 1996 (Vol. 14,
Nr. 3).
(11) Siehe Ibrahim Warde, "Islamic Finance in the Global Economy",
Edinburgh (Edinburgh University Press) 2000.
Le Monde diplomatique Nr. 6549 vom
14.9.2001, Seite 5, 361 Dokumentation IBRAHIM WARDE
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12-10-2001 |