Während eines Aufenthaltes
in Paris erfuhr die Iranerin Shirin Ebadi, dass sie zur diesjährigen
Friedensnobelpreisträgerin ernannt worden war. Für die in London
erscheinende arabische Tageszeitung Al-Sharq Al-Awsat sprach Amir Taheri
mit Shirin Ebadi über Reformen im Iran, Islam und Menschenrechte sowie
die Situation muslimischer Frauen. Das Interview erschien am 19.
Oktober:
Frau Ebadi, manch einer
glaubte ja, dass sie nun vielleicht lieber in Europa bleiben würden...
Es stand für mich nie zur
Debatte, nicht in den Iran zurückzukehren. Ohne meine Beziehung zum Iran
wäre mein Leben bedeutungslos. Ich war überhaupt nicht darauf
vorbereitet, was passierte - ich wusste ja nicht einmal, dass ich zur
Auswahl stand. Und wie gesagt: Der Preis stellte für mich von Anfang an
eine Botschaft der internationalen Gemeinschaft dar - zu allererst an
die iranische Bevölkerung, in erster Linie an die Frauen und dann an die
[gesamte] islamische Welt. Die Botschaft lautet, dass jeder einzelne
Menschenrechte besitzt und es nur Frieden geben kann, wenn diese auch
geachtet werden.
Ist die Vergabe des
Friedensnobelpreises an Sie auch ein neuer Anstoß für die demokratische
Bewegung [im Iran], die in den letzten Wochen nicht mehr ganz so aktiv
zu sein scheint?
Ich hoffe das, denn die
Botschaft lautet, dass es im Kampf für die Menschenrechte im Iran nicht
nur um die Rechte von Einzelnen geht, sondern dieser auch
Zivilgesellschaft stärkt, ohne die keine Demokratie verwirklicht werden
kann. Die Gesellschaft verändert sich, sobald sich das Verhalten vieler
innerhalb der Gesellschaft ändert. Genau das passiert in unserem Land
gerade.
Kann man das gegenwärtige
Regime ohne Gewalt reformieren?
Ja, ich bin davon überzeugt,
dass aus Gewalt nichts dauerhaft Nützliches entstehen kann. Und ich
glaube auch, dass wir im Rahmen unserer Gesetze handeln können und
versuchen sollten, die erforderlichen Veränderungen mit
verfassungskonformen Methoden zu erreichen. Ich habe noch nie gegen ein
Gesetz verstoßen, da ich friedliche Wege [des Wandels] bevorzuge. Und
die Zahl derer, die Reformen wollen, wächst ja täglich.
Nun glauben manche, die
Preisvergabe an Sie sei nur ein politischer Schachzug der Europäer
gewesen, die zeigen wollen, dass der politische Wandel eher durch die
Ausübung einer Art 'nachgiebigen Drucks' als durch 'gewaltförmigen
Druck' erreicht werden kann, wie ihn die USA gegen den Irak und
Afghanistan angewandt haben...
Ich stimme dieser Analyse nicht
zu. Die Situation im Iran ist doch ganz anders als die im Irak oder
Afghanistan. Während im Irak oder Afghanistan keine Anzeichen für einen
inneren Wandel zu erkennen waren, gibt es diese im Iran. Europa hat
verstanden, dass man dafür sorgen muss, dass die Menschenrechte auf der
ganzen Welt geachtet werden, wenn die Kriege beendet werden sollen. Das
ist ein prinzipieller Standpunkt, der aber zugleich praktische
Konsequenzen mit sich bringt.
Sie haben sie Wahl Mohammad
Khatamis zum Präsidenten unterstützt. Sehen Sie ihn immer noch als
Leitfigur der Reformbewegung?
Ich gehörte zu den Millionen,
die Khatami gewählt haben, weil andernfalls die Konservativen die Wahl
gewonnen hätten. Es gab keine Alternative. Aber nun müssen wir leider
feststellen, dass Präsident Khatami seine historischen Chancen vertan
hat und die Demokratie- und Reformbewegung ihn zuletzt ignorierte.
Präsident Khatami hält 'den
ganzen Wirbel' um die Preisvergabe an Sie für völlig überflüssig. Was
sagen Sie dazu?
Ich respektiere die Meinung des
Präsidenten. Alle Menschen besitzen die Freiheit, zu allen möglichen
Fragen eine eigene Ansicht zu haben.
Manche behaupten, dass Sie
sehr bald in Vergessenheit geraten werden - so wie die burmesische
[Oppositions]führerin und Friedensnobelpreisträgerin Aung Su Ki...
Ich kenne mich mit Burma nicht
aus - aber ich weiß viel über den Iran. Unsere Sache ist wichtiger als
meine Person oder irgendjemand anderes. Im Iran gibt es eine tief
verwurzelte und stetig wachsende Bewegung für Demokratie und
Menschenrechte, die Unterstützung aus allen Teilen unserer Gesellschaft
erfährt.
Trotzdem scheint man
momentan im Iran auf der Stelle zu treten. Bei allen Wahlen unterstützt
eine große Mehrheit die Reformen - aber nichts passiert. Vor diesem
Hintergrund glauben einige sogar, dass es wohl einer neuen Revolution
bedarf.
Ich glaube, dass das Zeitalter
der Revolution vorbei ist. Außerdem kann niemand garantieren, dass eine
weitere Revolution uns etwas Besseres bringt als vor 24 Jahren. Nach
jahrelanger Beschäftigung mit der Frage bin ich zu dem Schluss gekommen,
dass Revolutionen niemals das umsetzen, was sie versprochen hatten.
Wofür ich mich einsetze ist eine Reformbewegung – eine Reformbewegung,
die alle Felder des politischen, sozialen und kulturellen Lebens und
natürlich die Rechte des einzelnen umfasst. Die iranische Bevölkerung
ist von der Islamischen Revolution schwer enttäuscht. Während der
Islamischen Revolution und dem folgenden Krieg gegen den Irak verloren
unzählige Familien ihre Söhne und Ernährer. Die Nation verlor die besten
ihrer jungen Männer und Millionen von Iraner wurden ins Exil gezwungen.
Es wird noch Generationen dauern, bis die Ausgaben für diese Revolution
gedeckt sind. Der einzige Ausweg ist eine friedliche Reform. Khatami ist
nicht der einzige der nach Reformen ruft und das Versagen seiner
Regierung bedeutet nicht, dass die Reformbewegung insgesamt gescheitert
ist. Khatamis zweite und letzte Regierungsperiode wird enden, aber die
Iraner werden ihr Anliegen weiter verfolgen.
Wie könnte denn ihrer
Meinung nach der Wandel im Iran praktisch von statten gehen?
Geschichte lässt sich nicht
vorhersagen, sondern ist immer voller unvorhergesehener Entwicklungen.
Möglich wäre ein Wandel durch Wahlen. [Dazu] brauchen wir ein
modifiziertes Wahlrecht, das es den Bürgern erlaubt, Kandidaten ihre
Stimme zu geben, die sie auch wählen wollen. Wenn hingegen die derzeit
angewandte Praxis fortgesetzt wird und der Wächterrat seine Macht
behält, die es ihm ermöglicht, die Wahlergebnisse zu bestimmen, dann
werden mit Sicherheit viele Iraner die für den März 2004 vorgesehenen
Parlamentswahlen boykottieren - genau wie vor kurzem bei den
Lokalwahlen.
Sollte eine säkulare Ordnung
an die Stelle der Islamischen Republik treten?
Darüber gibt es ein paar
Unklarheiten. Womit wir es derzeit im Iran zu tun haben, ist kein
religiöses System. Vielmehr ist es so, dass die Machthaber sich der
Religion bedienen, um an der Macht zu bleiben. Wenn sich das derzeitige
System nicht dahingehend ändert, dass es endlich den Willen der
Bevölkerung widerspiegelt, wird es scheitern auch wenn ein säkularer Weg
eingeschlagen wird. Ich befürworte eine Trennung von Staat und Religion,
weil die Politik offen für eine Vielzahl von Ideen und Interessen ist.
Diese Auffassung wird von den führenden religiösen Autoritäten durchaus
unterstützt und entspricht auch den schiitischen Traditionen.
Was entgegnen sie denen, die
Islam und Menschenrechte für unvereinbar halten?
Ich sagen ihnen, dass sie sich
irren. Es stimmt, dass die Menschenrechte in den meisten islamischen
Ländern verletzt werden, aber das geschieht aus politischen Gründen und
nicht wegen der Religion. In den islamischen Ländern gibt es alle
möglichen Regierungsformen - säkulare, marxistische oder
nationalistische. Und auch sie begehen Menschenrechtsverletzungen. Wenn
also ein bösartiges Regime seine Bevölkerung unterdrückt - was soll das
mit der Unvereinbarkeit von Islam und Menschenrechten zu tun haben? Das
irakische Baath-Regime galt als säkular und in Nordkorea herrscht kein
islamisches Regime.
Glauben Sie also, dass wir
die Religion aus politischen Debatten heraus halten sollten?
Als Individuen spüren wir, wie
unsere religiösen Überzeugungen uns beeinflussen – und auch welche
Wirkung der Verlust solcher Überzeugungen mit sich bringt. Das gehört zu
unserem Leben. Deswegen schlage ich vor, dass es niemandem erlaubt sein
sollte, seine persönliche religiöse Einstellung anderen durch
Gewaltanwendung oder Druck aufzuzwängen. Die Leute müssen aufhören, den
Islam für ihre korrupten und schädlichen Interessen zu missbrauchen. Sie
sprechen von einer ‚islamischen’ Geisteshaltung, um zu behaupten, das
Frauen schwach, unsicher und nicht in der Lage seien, an
Entscheidungsfindungen teilzunehmen. Sie sprechen von ‚islamischer’
Wirtschaft und rechtfertigen damit die Ausbeutung unserer nationalen
Ressourcen. Sie sprechen von ‚islamischer’ Erziehung und rechtfertigen
so die Politik der Gehirnwäsche von Kindern und Jugendlichen, die ihr
unterzogen werden. Und sie sprechen von islamischer Sprache
[Sprachwissenschaft] damit sie sie so verdrehen können, dass sie den
eigenen Zielen dient.
Es heißt, dass sie bei den
kommenden Parlamentswahlen vielleicht die Liste der demokratischen
Kandidaten anführen oder sogar für die Präsidentschaftswahlen 2005
kandidieren könnten…
Ich bin Anwältin und engagiere
mich für die Menschenrechte. Andere Ambitionen habe ich nicht. Ich kann
ihnen versichern, dass ich nicht vorhabe, mich für die Wahlen aufstellen
zu lassen. Der Friedenpreis, den ich erhalten habe, zeigt doch, dass der
von mir seit zwanzig Jahren verfolgte Weg der richtige ist. Ich
engagiere mich für die Ohnmächtigen und spreche für diejenigen, die
keine Stimme haben. Schließlich muss ich mich der Ehrung würdig
erweisen.
Außerhalb des Irans tragen
sie kein Kopftuch [arab. Orig.: higab]. Warum nicht?
Ich trage es im Iran, weil es
gesetzlich vorgeschrieben ist. Täte ich es nicht, würde ich gegen das
Gesetz verstoßen. Ich will dieses Gesetz ändern, weil ich der Meinung
bin, dass es nicht Sache des Staates ist, Frauen vorzuschreiben, dass
sie ihren Kopf bedecken sollen. Außerhalb des Iran trage ich kein
Kopftuch, weil ich es dort nicht muss. Viele Iranerinnen machen das so.
Anstatt Frauen vorzuschreiben, dass sie ihren Kopf bedecken müssen,
sollten wir sie dazu erziehen, ihn zum Denken zu benutzen. Allerdings
lehne ich es auch ab, wenn Länder Gesetze erlassen, die es den Frauen
verbieten, ein Kopftuch zu tragen.
Haben sie eine Botschaft an
muslimische Frauen?
Ja: Kämpft weiter. Glaubt
nicht, dass ihr zur Minderwertigkeit verurteilt seid. Studiert den
ehrwürdigen Koran sehr genau, damit es den Unterdrückern nicht gelingt,
Euch mit ihren Ableitungen und Auslegungen in die Irre zu führen. Lasst
nicht zu, dass selbsternannte Geistliche das Monopol über das richtige
Verständnis des Islam für sich in Anspruch nehmen. Lernt selbstständig
und versucht in allen Bereichen des Lebens [mit den Männern] zu
konkurrieren. Wir sind von Allah gleichwertig geschaffen und wenn wir
für Gleichberechtigung kämpfen, tun wir genau das, was Allah von uns
will.
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