Es ist ein kühner Gedanke. Erstmals nach dem "Ende der
Geschichte", das Francis Fukuyama jubelnd und viele Kommunisten
resignierend konstatierten, ist Befreiung wieder etwas, das möglich
erscheint; und zwar ausgerechnet in einem Teil der Welt, der schon
lange vor 1989 unter der Herrschaft monolithischer Regime in Agonie
versunken schien. Im Nahen Osten gewinnen nämlich nicht nur die
Islamisten an Zulauf und Unterstützung, sie verschärfen zugleich
einen seit langem schwelenden Konflikt.
Während die iranischen Bassiji-Milizen am Freitag, dem
"Jerusalem-Tag", mit weiteren Unterstützern des Mullah-Regimes zu
Hunderttausenden in Teheran gegen Israel demonstrierten, fordern die
iranischen Studenten mittlerweile nichts weniger als ein Ende der
Theokratie. "Während die USA das herrschende Regime im Iran als Teil
der Achse des Bösen bezeichnet haben", heißt es in einem Flugblatt
des studentischen Koordinationskomitees für Demokratie in Iran,
"(...) und die iranische Nation schreit, 'lasst Palästina in Ruhe,
denkt an uns', fahren die Herrscher der Tyrannei (...) mit ihren
antisemitischen Shows und Erklärungen fort." Das ist ein einfacher
Gedanke und es folgen einfache Forderungen: "Lange lebe der
Säkularismus! Lang lebe die Freiheit!" Das Wohl und Wehe der
iranischen Bevölkerung hänge nämlich, heißt es, nicht von der
Existenz eines palästinensischen Staates ab, sondern von der Gewalt
des eigenen Regimes.
Zwei Grundpfeiler nahöstlicher Politik werden damit quasi im
Handstreich beseitigt: die Konzentration und Verlagerung aller
politischen Äußerungen auf den israelisch-palästinensischen Konflikt
und der "kritische Dialog" mit den Eliten, der nicht der
Demokratisierung dient, sondern der Aufrechterhaltung diktatorischer
Herrschaft.
In Europa sorgt beides für Unruhe. Erstmals richtet sich der Zorn
der Bevölkerungen nicht gegen die USA und Israel, sondern gegen die
eigenen Regierungen. Lange bevor Regierungen stürzen, wirkt sich der
von George W. Bush angekündigte "Regime Change" bereits auf die
europäische Nahostpolitik aus, die auf die Stabilisierung
unhaltbarer Verhältnisse und den Dialog mit den Eliten setzt.
Einzig aus dieser Perspektive hatten die deutschen Kommentatoren
Recht, als sie die "Iran-Rede" George W. Bushs im Sommer dieses
Jahres als gefährliches Spiel mit der Macht interpretierten. Dass
die "Menschen im Iran die gleichen Freiheiten, Menschenrechte und
Möglichkeiten wie alle Menschen auf der Welt" haben sollten,
erklärte Bush damals.
Es war eine Botschaft, die in Teheran wie in anderen Städten des
Nahen Ostens verstanden wurde. Während die Mullahs im kritischen
Dialog weiterhin das westliche Konzept der Menschenrechte als
Kulturimperialismus ablehnen und ihnen die wahren "islamischen
Rechte" entgegensetzen, wollten, wie Reuel Marc Gerecht kürzlich im
Weekly Standard schrieb, die iranischen Studenten vor allem jene
Freiheit, für die wie kein anderes Land die USA stünden.
Neben Gerecht sehen sich derzeit auch US-amerikanische Linke mit
dem Phänomen konfrontiert, dass ausgerechnet der konservative und
zutiefst religiöse Bush mit Erfolg eine für die arabischen Staaten
revolutionäre Botschaft verbreitet, wie es seit Woodrow Wilson in
der amerikanischen Außenpolitik nicht mehr geschah. Während Wilson
1918 aber das "Selbstbestimmungsrecht der Völker" propagierte, trete
Bush für die Freiheit des Individuums ein und sei der tiefen
Überzeugung, dass die überwältigende Mehrheit der Muslime sich nach
"Freiheit und Rechtsstaatlichkeit sehnten, als einem angeborenen
Menschenrecht", schreibt Gerecht.
Wie auch immer das persönliche Verständnis George W. Bushs von
der Welt und ihren Dingen beschaffen sein mag, die Ereignisse geben
ihm Recht. So meldete auch die FAZ, den demonstrierenden Stundenten
gehe es nicht mehr darum, den so genannten Reformflügel um Khatami
zu stärken, sondern um einen grundlegenden Bruch mit der islamischen
Theokratie.
Und auch der iranische Schriftsteller Faradj Sarkuhi richtet sich
gegen die europäische Interpretation der Ereignisse. "Bei der
Analyse der Situation im Iran reduzieren sie alles, was geschieht,
auf eine Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Flügeln der
iranischen Regierung (...) Wichtige und einflussreiche Teile der
iranischen Gesellschaft werden dabei einfach ausgeblendet: Die
meisten iranischen Journalisten und Schriftsteller, der größte Teil
der Studentenbewegung und die Mehrheit der Bevölkerung ist
prinzipiell gegen jede Form von Theokratie und Despotie."
Das ist nicht neu. Neuerdings aber scheint sich mit George W.
Bush und den "Falken" ein interessierter Dritter anzubieten, der
nicht auf die Eliten und eine Reform von oben, sondern auf die
Bevölkerung und den Sturz der Regierungen setzt. Das propagierte und
praktizierte Konzept des "Regime Change" ist vor allem ein Wechsel
des Subjekts, dessen sich die US-amerikanische Politik im Nahen
Osten anzunehmen verspricht.
Und zwar mit Erfolg. Im Iran wie auch im Irak ist die Möglichkeit
gegeben, über Befreiung überhaupt wieder nachzudenken. Während in
Teheran die Legitimität des Regimes zu schwinden scheint, debattiert
die irakische Opposition bereits über die Form eines Staates nach
Saddam Hussein. In Irakisch-Kurdistan verabschiedete das Parlament
gar eine Verfassung für den ganzen Irak, statt sich darüber Gedanken
zu machen, wie der Status quo weiter aufrechterhalten werden könne.
Und erstmals wird in den USA, aber auch in saudischen Exilkreisen
debattiert, wie Saudi-Arabien ohne das Haus Saud zu regieren sei.
Die jahrzehntelange Erstarrung einer Region, in der bislang keine
Regierung gestürzt oder zumindest abgewählt wurde und kein Konflikt
lösbar erschien, schwindet.
Das kommt nicht aus heiterem Himmel. Während der neunziger Jahre,
als der zivilgesellschaftliche Wandel die Regierungspolitik und den
Soziologendiskurs bestimmte, wunderte man sich hin und wieder
darüber, dass außer ein paar Debattierzirkeln in Damaskus die
Reformkräfte nicht entstehen wollten, die wenigstens kosmetische
Veränderungen hätten bewirken können. Nirgendwo zeitigte der Einsatz
für die reformbereiten Kräfte innerhalb der Eliten einen Erfolg.
Diese Eliten, auf die auch die US-amerikanische Nahostpolitik weiter
setzte, waren tatsächlich vollkommen alternativlos, da sie jeden
möglichen Konkurrenten entweder bereits absorbiert, ins Exil
getrieben oder vernichtet hatten.
Die US-Politik der neunziger Jahre, die einen Herrscher wie
Saddam Hussein gegen den Willen der irakischen Bevölkerung an der
Macht hielt, folgte blindlings der historischen Gewohnheit, gegen
die gefürchteten "arabischen Massen" auf militärische Führungsriegen
und den Erhalt oligarchischer Herrschaftsstrukturen zu setzen. Unter
dieser Bedingung bedeutete Veränderung im Nahen Osten bislang, dass
in Syrien und Jordanien die Söhne der jeweiligen Herrscher und in
Saudi Arabien ein Halbbruder die Macht übernahmen.
"Alles wurde bislang im Nahen Osten versucht", schrieb der
konservative Kolumnist Victor D. Hanson kürzlich, man kooperierte
mit säkularen und religiösen Diktaturen, führte einen "Dialog der
Kulturen" und bestrafte unbotmäßige Regimes. Nur eines sei bislang
nicht versucht worden: "Freiheit".