Peter Scholl-Latour verkündete gerade das amerikanische
"Stalingrad", als die ersten Panzer der Koalitionstruppen unter dem
Jubel der Bevölkerung im Bagdader Stadtteil Saddam City einrollten.
Am Morgen des 9. April besetzten Verbände der US-Armee das Zentrum
der Millionenstadt weitgehend kampflos. Irakische Soldaten in
Unterhemden, die ihre Uniformen weggeworfen hatten, waren die
ersten, die sie begrüßten. Ihnen folgten staunende Menschen, zumeist
Jugendliche, und die internationale Presse, die das irakische
Informationsministerium im Hotel Palestine eingebettet hatte.
Für deutsche Nahostexperten brach an diesem Morgen eine Welt
zusammen – und nicht nur für sie. Mit Saddam Husseins Statue auf dem
Ferdos Square wurde das irakische Regime für alle Welt sichtbar zu
Fall gebracht und damit auch jener panarabische Mythos, den Saddam
Hussein ein letztes Mal erfolglos zu reanimieren suchte. Die
Wenigen, die jetzt noch kämpfen, haben wenig zu erhoffen von einem
neuen Irak – Ba'athisten, die eng mit dem Regime verbunden waren,
und arabische Freiwillige, die sich an amerikanischen Checkpoints in
die Luft sprengen.
Die Mehrheit der Irakis begrüßte die Befreiung nicht mit Hass auf
die Aggressoren, sondern auf die Hinterlassenschaft ihrer flüchtigen
Tyrannen, die sie aus eigener Kraft nicht stürzen konnten. Im ganzen
Land werden die Bilder Saddam Husseins heruntergerissen, Ministerien
und Staatsgebäude geplündert. Die Plünderungen in Bagdad, Mossul und
Kirkuk sind nicht der Flächenbrand, den deutsche Nahostexperten
prophezeiten. In einer narzisstischen Diktatur wie der
ba'athistischen im Irak, die ein Bild Saddam Husseins in jeder
Wohnstube verlangte und die schlechte Rede über den Präsidenten mit
dem Tode ahndete, sind sie Teil der Befreiung. Menschen, denen über
Jahre das Recht auf ein menschenwürdiges Leben genommen wurde,
halten sich schadlos an allem, was ihnen vorenthalten wurde,
zerstören, was dazu diente, sie zu zerstören. Die unsichtbare
Schwelle der Macht ist überschritten, die den Bewohner von Saddam
City von den Gegenden der Herrschenden fernhielt, die ihn zum
Lumpenproleten machte. Alles, was mit dem alten Regime in Verbindung
gebracht werden kann, steht zur freien Verfügung.
Die Bilder von Irakis, die Saddams Porträt mit Schuhen bewerfen
oder Schreibtische und Klimaanlagen aus Ministerien und
Parteigebäuden klauen, die zuvor ihrer Unterwerfung dienten und mit
Angst besetzt waren, werden nicht nur den Irak, sondern den ganzen
Nahen Osten in den nächsten Jahrzehnten so erschüttern wie einst die
Kapitulation der osmanischen Armee. Ihre Bedeutung reicht weit über
die wenigen Tage der Anarchie hinaus. Sie zeigen das Ende der
totalen Verfügungsgewalt über die Bevölkerung an, wobei die
Koalitionstruppen sich im Gewährenlassen als Befreier erweisen.
Deshalb, und nicht aus Sorge über die Sicherheit in irakischen
Städten, fallen die internationalen Reaktionen so heftig aus.
Staaten, die über Jahre das Wüten des Regimes gegen die Bevölkerung
tatenlos verfolgten, fordern jetzt militärisches Eingreifen. "Sie
plünderten die Deutsche Botschaft und warfen den Schreibtisch des
Botschafters in den Garten", schreibt Robert Fisk im britischen
Independent. "Ich rettete die Europaflagge, die außerhalb der
Visaabteilung in eine Pfütze geworfen worden war. Das stellt einen
ernsthaften Bruch der Genfer Konventionen dar." Und auch einen Bruch
mit der bis dato gültigen Spielregel, dass Befreiung vor
europäischem Interesse und Eigentum Halt macht.