Bereits verloren:
Heute sind die Lilliputaner so klein nicht mehr
Kommentar von Tanya Reinhart, Tel Aviv
Junge Welt, 22.03.2003
Eine treffende Beschreibung der gegenwärtigen
Lage lieferte neulich der israelische Analyst Ehud Ya'ari, als er an
die Geschichte des Riesen Gulliver erinnerte, den die kleinen Leute
von Lilliput mit dünnen Fäden fesselten, bis er im Widerspruch zu
den Gesetzen der Natur von seinen übermäßigen Kräften keinen
Gebrauch mehr machen konnte.
Die Supermacht USA entschied, es komme ihr nunmehr
gelegen, den Irak zu erobern, wie Jugoslawien in Kantone zu zerlegen
und wie Jugoslawien und Afghanistan der Herrschaft von Drogenbanden
zu unterwerfen.
Und was können die Winzlinge tun, wenn der Riese
sich so entschieden hat?
Sie demonstrieren, erst in kleinen Gruppen und
dann Millionen weltweit. Sie schicken menschliche Schutzschilde nach
Bagdad. Darüber kann der Riese nur lachen. Ari Fleischer, der
Sprecher des Weißen Hauses, erklärte umgehend, daß sie Saddams
Geiseln seien, und die USA ihren Tod als "Kollateralschaden" ansehen
würden. Wobei jeder weiß, daß den USA das zuzutrauen ist.
Plötzlich schalten sich die UN ein, diese in
Israel als "UM-SHMUM" verballhornte bedeutungslose Organisation, "wo
die Hälfte der Delegierten aus Ländern von Analphabeten kommt". Die
UN vergaßen offensichtlich, daß ihr Job eigentlich nur sein soll,
US-Vorhaben abzunicken. Erklärte doch Ari Fleischer, daß die USA die
UN so lange einbeziehen, wie ihnen dies paßt.
Haben sie dafür allerdings nicht die Geduld,
setzen sie die NATO ein, wie im Kosovo. Und nichts kann sie hindern,
auch allein vorzugehen. Diese Woche hat Bush der UNO auf den Azoren
das "letzte Ultimatum" gestellt.
Alles, was die Lilliputaner anscheinend bisher
erreichen konnten, war, den Riesen ein paar Monate aufzuhalten. Aber
diese Monate waren entscheidend. Heute sind die Lilliputaner so
klein nicht mehr. Anfangs waren es Tausende von kleinen
Organisationen, verstreut über den Globus und im Austausch über das
Internet, Organisationen, die dadurch verbunden sind, daß sie
spüren: Wenn es so weitergeht, wird die menschliche Rasse sich
selbst zerstören. Von Seattle bis Durban, von umweltpolitischen und
sozialen Problemen bis zu gleichen Rechten für alle, entstand eine
neue Kraft, organisiert und eingeübt im nicht-gewalttätigen Kampf
praktizierter Demokratie. Diese Kraft hat es in den letzten Monaten
geschafft, Herz und Verstand der Mehrheit der Menschen der ganzen
Welt auf den einzig hoffnungsvollen Weg zu richten, der auf den
menschlichen Grundwerten und den Grundsätzen des internationalen
Rechts beruht. Die Regierungen Europas werden von ihren Völkern
mitgezogen. Wie Kissinger am Sonntag in CNN mit unverhohlener
Verachtung meinte: "Schröder hatte einfach keine Wahl."
Europas neue Kraft liegt nicht im Militär, sondern
in der Demokratie. Im Unterschied zu den USA, Großbritannien und
Spanien handeln viele europäische Regierungen gegenwärtig nach dem
Willen ihrer Bürger.
Gegen diese Macht entfalten die USA ihr
militärisches Potential auf dem neuesten Stand der Wissenschaft des
Tötens. Alles ist für den Krieg vorbereitet. Sie haben sogar an die
Verlegung der D-9-Bulldozer gedacht, welche die USA von Israel
gekauft haben, um in Bagdad die Lehren von Dschenin umzusetzen.
Diese Woche hat die israelische Armee demonstriert, daß diese
Bulldozer auch eine effektive Lösung des Problems der menschlichen
Schutzschilde sind, als Rachel Corrie, eine 23jährige Studentin aus
Olympia, Washington, die versuchte, die Zerstörung eines Hauses in
Gaza aufzuhalten, von einem dieser Bulldozer zermalmt wurde.
Und trotzdem haben die USA die Schlacht bereits
verloren. Bisher konnten die USA auf ihre totale Kontrolle des
öffentlichen Bewußtseins in weiten Teilen der Welt zählen. Bei ihren
früheren Kriegen hockten die Millionen Lilliputaner vor ihren
Fernsehapparaten und schauten den Propagandasendungen zu, die auf
allen Kanälen dieselben waren. Sie schauten zu und glaubten, der
Krieg gehe um hohe Werte des Friedens und der Gerechtigkeit. Auch
jetzt erklären gehorsame Sprecher, Saddam sei Hitler, und daß die
irakischen Kinder vor ihm gerettet werden müßten. Aber wer hört zu?
Jetzt ist die Wahrheit offenkundig. Die USA werden als ein Gangster
wahrgenommen, der tut, was er will. Früher begingen die USA ihre
Verbrechen unter Hochrufen der Mehrheit der westlichen
Gesellschaften. Diese Mehrheit haben sie verloren.
Der Wandel, der auf der Welt eingetreten ist, kann
nicht mehr rückgängig gemacht werden.
(Übersetzung: Klaus von Raussendorff nach einer
Übersetzung aus dem Hebräischen von Irit Katriel)
Aus: Yediot Aharonot vom 19. März 2003;
http://www.tau.ac.il/~reinhart
hagalil.com
22-03-2003 |