Reisebericht aus dem Irak:
Am seidenen Faden
Die Sehnsucht des irakischen
Volkes nach einer Gesellschaft, die auf Menschenrechten fußt,
scheint manchmal stark genug die Zersplitterung in ethnische Gruppen
und religiöse Unterschiede zu überwinden, dann aber auch wieder
zerbrechlich und vorläufig
Von Micha Odenheimer, Haaretz, 21.11.2003
Übersetzung von Martin Hablitzel
BAGDAD – Najaf und Karbala, die zwei heiligsten
Städte des Schiitischen Islam, sind in sich geschlossene Welten, die
sich um die heiligen Gräber ihrer Zentren drehen – die Gräber der
Märtyrer und Gründer der Schiitischen Lehre, Ali und Hussein. Diese
Städte wurden für die Pilgerreise gebaut, mit Dutzenden kleinen,
reich geschmückten Hotels und weiträumigen Plätzen, wo Pilger aus
dem Iran, die zu arm für eine Unterkunft sind, auf Matratzen aus
Pappe schlafen.
Draußen, vor den majestätischen Moscheen, die die
Gräber beherbergen, verhökern Straßenhändler ihre Waren: Kassetten
und Videos mit ekstatischen schiitischen Ritualen, Teppiche und
Poster mit den Gesichtern von Hussein und Ali, Koran-Lesungen,
gepredigt von bekannten Ayatollahs. Religiöse Musik, deren
melancholische Tonart von rauen Schlägen verzerrt wird, tönt aus
behelfsmäßigen Verstärkern.
Safa, der Schiitische Fahrer aus Bagdad, den wir
für unseren Trip in den Süden angeheuert haben, führt uns durch die
Straßen Karbalas. Mein kurdischer Dolmetscher Zimkan Ali ist nervös.
Gestern ist hier in Karbala eine Bombe explodiert und tötete einen
jungen Mann vor einem Hotel auf der Hauptstraße, nur Meter von der
Hussein-Moschee entfernt. "Mokdata Sadrs Anhänger versuchen die
Stadt zu übernehmen," erzählt mir Zimkan mit einem Hinweis auf den
radikalen jungen Führer einer militanten Schiitischen Fraktion, die
großen Einfluß unter armen Schiiten in den Slums von Bagdad gewonnen
hat. "Dieser Platz ist voll religiöser Fanatiker."
Seitdem Saddam die Kontrolle über den Süden
verlor, konkurrieren verfeindete Schiitische Fraktionen darum, das
Machtvakuum in den beiden heiligen Städten zu füllen. Diese
Geplänkel fanden ihren Höhepunkt in den Explosionen mit
terroristischem Hintergrund, hinter denen die Schiiten Saddam-treue
Kräfte vermuten um vernichtende Kämpfe unter den Schiiten zu
provozieren. Das bekannteste dieser Attentate war jenes, bei dem
Ayatollah Mohammed Bakri al-Hakim, Führer des Hohen Rates des
Islamische Widerstands und weitere 80 Iraker vor der Ali-Moschee in
Najaf umkamen. Al-Hakims Portrait ist in Karbala und Najaf
allgegenwärtig; sein Bruder Abdul ist jetzt Mitglied des irakischen
Regierungsrates.
Wir kommen gerade auf dem Hauptplatz in Karbala
an, als ein Trauerzug für ein Bombenopfer von gestern beginnt.
Mehrere hundert Männer folgen dem Körper, der sehr hoch in einem
hölzernen Sarg getragen wird, welcher mit gelb-orangenem Stoff
drapiert und mit Zweigen und Blumen ausgeschmückt ist. Ein Vorbeter
schreitet dem Sarg voran, weist der Menge den Weg und ruft "Allahu
Akhbar (Gott ist groß)," mit der bloßen Stimme aus, die sich so
donnernd und körnig anhört, als ob er ein Megafon benutzen würde.
Der Körper wird in Richtung der Moschee Husseins getragen, der ein
Enkel des Propheten Mohammed war. Als der Sarg das Tor passiert,
fragt Zimkan den Wächter, ob ich auch eintreten könnte, worauf uns
der Wächter ein Zeichen gibt, dass wir willkommen seien.
Das Innere der Moschee strahlt nur so vor
Schönheit. Jede Oberfläche ist hingebungsvoll ausgeschmückt. Grüne,
goldene, silberne und blaue Steine in aufwendigem, abstraktem Design
gehalten. Suren aus dem Koran sind in einer stilisierten, erhabenen
nahezu perfekten Kalligrafie in die oberen Wände eingelassen, kurz
bevor sie in das Kuppelgewölbe übergehen. Das Grab selbst liegt
hinter einem silbernen Gitter, welches die Pilger küssen, bevor sie
darüberstreichen und es nochmals küssen. Das Grab erscheint in
dunstigem, grünen Licht. Ich spähe durch das Gitter und sehe eine
grüne Neon-Birne.
Leute reden mich in einer Sprache an, die ich
nicht verstehe und plötzlich steht mein Dolmetscher neben mir, der
besorgt aussieht. "Sie hielten Sie für einen Iraner," flüstert er
mir zu. "Deshalb ließen sie Sie hinein. Jetzt allerdings stellen sie
fest, das Sie kein Persisch sprechen. Diese Moschee ist wie Mekka.
Nicht-Moslems dürfen hier nicht sein. Wir sind nun in ihrem
Gewahrsam."
Mehrere bärtige und ernst dreinschauende junge
Männer führen uns drei – Zimkan, Safa und mich – zu einem Büro im
Hof der Moschee und beginnen uns zu befragen. "Jeder weiß, dass die
Ali- und Hussein-Moschee für Nicht-Moslems verboten sind," sagt der
älteste der bärtigen Männer, als wir uns mit Unkenntnis zu
entschuldigen versuchen. Zwei der Männer bringen Zimkan in einen
anderen Raum und durchsuchen ihn. Sie durchsuchen auch mich,
untersuchen mein Notebook und rufen andere, ältere bärtige Männer
herbei, um ihren Rat einzuholen. Safa beruhigt mich und sagt, dass
alles in Ordnung sein wird. Nach ca. zehn Minuten werden wir
entlassen.
Aber irgendwie ist die Atmosphäre vergiftet. Ich
mache ein Foto von einem kleinen Mann mit einem weißen Bart, der im
Schneidersitz auf einer Decke nahe der Moschee sitzt und
geheimnisvoll lächelt. "Gib ihm Geld," machen mir Leute mit ihren
Händen und Ausdrücken klar. "Er ist ein Bettler." Aber als ich einen
Schein hervorhole blockiert mir ein junger Mann mit Bart den Weg und
brüllt mich auf Arabisch an. "Du amerikanischer Journalist. Du
willst ein Bild von diesem Bettler machen? Du willst ihm Geld geben?
Du willst zeigen, dass alle Iraker Bettler sind!"
Erinnerungen werden ausgelöst
Wir gehen schnell weiter. Ich merke, dass Zimkan
von unserer kurzen 'Verhaftung' in der Moschee traumatisiert ist. Er
wurde in Halabja geboren, der kurdischen Stadt nahe der iranischen
Grenze, die Saddam Hussein 1988 mit Giftgas angreifen ließ und damit
mehr als 5000 Einwohner tötete. Die Aktion in der Moschee weckte
Erinnerungen in ihm; Zimkan ist geistesabwesend und traurig.
"Sie durchsuchten mich, weil ich ein Kurde bin,"
sagt er. "Du weißt nicht, was 'Kurde' für die Araber bedeutet."
"Aber alles ist in Ordnung," sage ich Zimkan. "Das
hier sind Schiiten. Sie litten unter Saddam genauso wie die Kurden.
Das war nicht Saddams Geheimdienst."
"Es ist noch nicht vorbei," beharrt er, ohne auf
meine Argumente zu hören. "Sie werden mich suchen. Es waren Moktada
Sadrs Männer. Diese haben die Moschee übernommen. Sadr sagt, Kurden
seien 'kafr' – Ungläubige. Sie werden sagen, dass ich es war, der
einen Amerikaner zu ihrem heiligsten Ort führte. Sie werden mich
töten."
Zimkans Reaktion fordert mein Denkmuster über die
irakische Situation heraus. In Bagdad saß ich oft in einem
Freiluft-Teehaus nahe meinem Hotel – es war ein Plastiktisch auf dem
Gehweg – wo sich jeden Abend dieselben Leute aus der Nachbarschaft
trafen. Einer von ihnen, Nidam, ein 30-jähriger Schiite mit einem
Babyface und sehr gutem Englisch, bemerkte mit einer Handbewegung:
"Schau wer an diesem Tisch sitzt: Schiiten, Chaldäer, Sunniten,
Armenier, Kurden. Saddam und seine Verbündeten von Al-Qaida
versuchen uns gegeneinander aufzuhetzen, Kurden gegen Araber,
Schiiten gegen Sunniten. Aber sie werden es nicht schaffen.
Niemals!"
Von allem was ich bisher sah, hielt ich die
Sehnsucht der Iraker nach einer Gesellschaft, die auf
Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit fußt, für stark genug, die
Zersplitterung in ethnische Gruppen zu überwinden. Aber nach Zimkans
Schrecken begreife ich, wie zerbrechlich und dünn die Fäden sind,
die die irakische Gesellschaft zusammenhalten.
Nach ein paar Stunden war wieder alles anders. Die
Sonne war untergegangen, was das Fasten während des Ramadan
beendete, und eine festliche Stimmung kam auf. Die Menschen taten
sich gütlich an Huhn und Reis, Lamm Kebab, frische Früchte und
Vanillepudding. Safa, unser Fahrer, aß schnell und ging dann zur
Moschee zurück, aus der wir hinausgeworfen wurden. Er kam mit zwei
Neuigkeiten zurück. Erstens würden Moktada Sadrs Männer die
Hussein-Moschee überhaupt nicht kontrollieren. Die Männer, die uns
festgehalten hatten, waren Schüler des Großen Ayatollah Ali Sistani,
der populärste Schiiten-Führer im Irak, und eine weit weniger
militante Persönlichkeit als Sadr. Zweitens halfen ebendiese Männer
Safa, mir ein Interview mit Scheich Abdul Mahdi, dem Verwalter der
Hussein-Moschee, Sistanis Stellvertreter und einer seiner engsten
Berater, zu beschaffen.
Nur drei Wochen zuvor, am 16.Oktober, kämpften
Abdul Mahdi und 200 Sistani-Getreue Sadrs Männer nieder, als diese
die Hussein-Moschee gewaltsam besetzt hatten. Drei amerikanische
Soldaten und zwei irakische Polizisten starben als sie in die
Auseinandersetzung der beiden Schiiten-Gruppen eingreifen wollten.
Am darauffolgenden Tag wurde ein Waffenstillstand ausgehandelt, der
Abdul Mahdi als Sistanis Stellvertreter die Leitung beließ. Da
Sistani keine Interviews gibt, war Abdul Mahdi der höchste
Repräsentant der Schiiten, von dem wir hoffen konnten, ihn zu
treffen. Zimkans Angst verging so schnell wie sie gekommen war.
Safa, Zimkan und ich waren mehr als erleichtert.
'Wir wollen Sicherheit'
Scheich Abdul Mahdis sauberes, weißes und
modern-aussehendes Haus ist voller Gäste. Sie sitzen auf Kissen am
Rande des großen Salons, so dass in der Mitte genug Platz ist für
Männer, die Tabletts mit Tee, Keksen und Coca-Cola tragen. Wir
werden warm und freundlich begrüßt und sind sehr nervös. Nach ein
paar Minuten werden Zimkan und ich in einen angrenzenden Raum
geführt: Abdul Mahdis Arbeitszimmer. Ledergebundene Bände über
religiöses Recht und Philosophie stehen in den Bücherregalen; in
einer Ecke liegt ein Mickey-Maus-Spielzeug; Beleg für die kleinen
Kinder des Scheichs. Abdul Mahdi, 47 Jahre alt, sitzt im
Schneidersitz auf dem Boden. Er hat die weichen Hände eines
Gelehrten. Überall dort, wo der Bart sein Gesicht nicht bedeckt, ist
die Haut glatt.
Ich stelle Abdul Mahdi eine allgemeine Frage über
die Zukunft Iraks, um die Stimmung zu lockern bevor über Politik
geredet wird. Aber er muß sich nicht aufwärmen.
"Alle Iraker leiden am Sichheitsmangel," fängt er
an. "Wir wollen Sicherheit und dafür sind die Verbündeten
verantwortlich. Die Verbündeten müssen unnachgiebig sein mit der
Baath-Partei, dem Überbleibsel von Saddams Regime. Sie sind Mörder,
Kriminelle. Wir wissen, dass es Treffen, Planungen und Bewegungen
der Baath-Mitglieder gibt. Sie wollen zeigen, dass es im Irak keinen
Frieden gibt. Die Verbündeten müssen etwas tun und zuschlagen! Warum
haben sie damit noch nicht begonnen? Sehr viele Baath-Mitglieder
sind immer noch in mehreren Ministerien und anderen Bastionen der
Macht am Werk. Wenn Amerika der Baath-Partei erlaubt die
Staatsgewalt zu unterwandern, ist das ein Fehler, ein großer Fehler.
Warum wird diesen Leuten nicht der Prozeß gemacht?"
"Also sollen die Amerikaner vorerst für die
Sicherheit im Irak verantwortlich sein?"
Abdul Mahdi: "Amerika muß schnell eine neue
irakische Regierung und einen starken Polizeiapparat aufbauen. Aber
sie können mit Sicherheitsaufgaben nicht irgendjemand beauftragen,
sonst werden die Leute der Polizei nicht vertrauen. Es sind immer
noch Baath-Elemente in der Polizei-Hierarchie. Diese müssen entfernt
werden. Die Polizei ist noch nicht stark genug, Sicherheit zu
gewährleisten."
"Einige Amerikaner haben ziemliche Schwierigkeiten
schiitische Gruppen von Fundamentalisten wie z.B. Al-Qaida
abzugrenzen. Können Sie helfen, den Unterschied zu erklären?"
"Wir sind zu 100% das Gegenteil von Al-Qaida. Wir
betrachten sie nicht als islamisch. In Afghanistan und andernorts
haben Al-Qaida die Schiiten bekämpft. Für uns bedeutet der Islam
Frieden. Die religiöse Obrigkeit haben strikte Befehle erlassen, die
uns verbieten gegen die Amerikaner Waffen zu erheben. Nicht, dass
wir eine permanente Anwesenheit der Amerikaner im Irak wünschen.
Ayatollah Sistani – dem die Mehrheit der Schiiten folgen – möchte,
dass die Amerikaner im Frieden gehen. Er möchte ein Irak für die
Iraker - schnell und friedvoll. Wir möchten, dass die Amerikaner
friedlich nach Hause zu ihren Familien zurückkehren. Aber gegen die
Soldaten der Verbündeten kämpfen? – wir erwägen keinen solchen
Widerstand. Wir sind voll und ganz gegen die Angriffe auf die
Verbündeten. Solche Angriffe entsprechen nicht den Interessen des
irakischen Volkes. Es ist die Baath-Partei, die gegen die Amerikaner
kämpft, weil sie unter der irakischen Freiheit leidet.
Natürlich wollen wir die Rechte zurückhaben, die
uns gehören. Wir sind die Mehrheit hier im Irak, aber unter dem
letzten Regime wurden uns all unsere Rechte entrissen. Wir möchten
eine angemessene Vertretung der Schiiten in der Zentralregierung und
in allen Regierungsinstitutionen. Und obwohl wir diese Ziele
friedlich erreichen wollen werden wir letztendlich einen anderen Weg
einschlagen, falls es so nicht möglich ist."
"Saddam war bekannt dafür, dass er die
Palästinenser unterstützte. Er unterstützte die Familien von
Selbstmordattentätern mit 25.000$. Stimmen Sie mit dieser Politik
überein?"
"Saddam ist ein Lügner. Ich glaube nicht
notwendigerweise, dass er den Palästinensern geholfen hat, aber wenn
doch, dann zu seinem eigenen Nutzen. Wir unterstützen die
Palästinenser in allem, was sie unternehmen, um ihre Rechte zu
erhalten, denn die Israelis sind unnachgiebig und brutal. Aber das
heißt nicht, dass wir sie ausstatten oder fördern werden. Der
israelisch-palästinensische Konflikt geht uns nichts an. Wir sind
auf der Seite der Palästinenser was ihren Kampf für ihre Rechte
angeht. Aber wenn Israel ihnen ihre Rechte gibt, hat die Region eine
Chance auf Frieden."
Der Scheich entschuldigt sich. Die Zeit ist um;
Menschen warten auf ihn "Nur noch eine Frage," sage ich. Er setzt
sich wieder hin. "Wie halten es Sie mit der Demokratie?," frage ich.
"Gibt es einen Konflikt zwischen Islam und Demokratie? Wollen Sie
ein Irak, das dem islamischen Staat Iran gleicht, wo die Scharia
herrscht?"
Er antwortet auf die letzte Frage. "Die Scharia
gilt im Irak und im Iran. Wir sind religiös verbunden. Sie folgen
unseren Gelehrten und wir folgen ihren. Aber das hat nichts mit
Politik oder spezifischen Problemen zu tun. Die religiöse Obrigkeit
in Najaf [wo der Große Ayatollah Sistani lebt] ist vollkommen
unabhängig vom Iran.
Was Demokratie betrifft, können Islam und
Demokratie natürlich koexistieren. Wie verstehen Demokratie in einem
speziellen Weg. Aber selbst auf diese Weise kollidiert der Islam
nicht mit der westlichen Vorstellung von Demokratie, in der sowohl
die Mehrheit als auch die Minderheit Rechte hat. Ja, es ist möglich
eine Regierung im Irak nach dieser Vorstellung zu bilden."
Der Salon, in dem Abdul Mahdi Besucher empfängt,
hat sich in seiner Abwesenheit fast noch mehr gefüllt. Er ist nun
vollgestopft mit Bittstellern und Würdenträgern, von denen viele
entweder Turban oder Fes tragen. Draußen bewachen drei imposant
aussehende Männer ohne sichtbare Waffen den Zugang.
Flüchtiger Blick in die Zukunft
Im kurdischen Norden ist es möglich einen
flüchtigen Blick zu erhaschen, wie der Irak unter einer 'westlichen'
Regierung aussehen könnte. Verglichen mit den nördlichen irakischen
Städten wie Mosul oder Kirkut, die düster, staubig und deprimiert
aussehen, floriert die kurdische Region, die seit 1991 nicht mehr
unter Saddams direkter Kontrolle steht. Das irakische Kurdistan ist
zweigeteilt: die westliche Hälfte wird von der älteren und
konservativeren Kurdischen Demokratischen Partei (KDP) regiert, die
östliche Hälfte von der liberaleren Patriotischen Union Kurdistans
(PUK). In Suleymania, der Hauptstadt des PUK-kontrollierten Ostens
sind die Straßen geschrubbt, neue Gebäude werden gebaut und in den
Straßen blüht der Handel. An einer belebten Kreuzung gibt es ein
Fast-Food Restaurant, dass genauso aufgemacht ist wie ein McDonalds,
selbst ein Ronald McDonald Clown hat seinen Platz im Fenster. Aber
der McDonalds Firmenleitung hielt eine Franchise-Vergabe im Irak für
zu riskant; stattdessen hat Souleymania einen 'MaDonals'. Ein
Zeugnis Kurdistans inniger Zuneigung zu den Amerikaner; er ist sogar
während des Ramadan geöffnet.
Ein anregenderes Zeichen für die kurdische
Demokratie ist Halwati, eine unabhängige, wöchentlich erscheinende
Zeitung, die in Suleymania verlegt wird. Deren Untersuchung von
irakischen Geheimdienstunterlagen, die ihnen nach dem Fall Bagdads
in die Hände fielen, hat inzwischen mehrere prominente PUK- und
KDP-Offizielle, wie z.B. den General Uriah Maaluf, den Polizeichef
der gesamten Region, als Baath-Spione entlarvt. Halwati-Reporter
sind Teil des neuen Typs kurdischer Intellektueller. Statt von einem
unabhängigen Kurdistan, träumen sie von einem neuen Irak. Twana
Osman ist einer von Halwatis Star-Reporter.
"Was bedeutet 'Irak' für Sie," frage ich ihn,
"einem Kurden, dessen Volk von den Irakern abgeschlachtet wurde?"
"Wäre ich Teil eines demokratischen, freien Iraks,
das ein Vorstellung von Bürgerrechten hat, würde ich stolz darauf
sein, ein Iraker zu sein, nicht Kurde oder Schiite," sagt er.
Abdullah, ein kurdischer Intellektueller in seinen
50ern, der für die UNO arbeitet, äußert noch unverblümter seine
Vorliebe für einen demokratischen Irak, statt eines
nationalistischen Kurdistan: "Ich habe nicht den geringsten Wunsch,
von einem kurdischen Diktator in den Arsch getreten zu werden."
Die in die Dutzende gehenden Internet-Cafés, die
in Suleymania öffneten, sind vielleicht die eindrucksvollsten
Symbole für Offenheit und Unternehmergeist. Aber das Internet zeigt
auch die dunkle Seite der neuen Online-Welt. Als ich einem
kurdischen Bekannten sage, dass mein Bildschirm im Intercafé ständig
von Hardcore-Porno-Werbung "angegriffen" wird, sagt er mir, dass 80%
des Internetgebrauchs in Kurdistan, auf Pornoseiten fällt.
Fallah, ein weiterer kurdischer Freund hat ein
anderes Problem mit dem Internet. Als Überlebender von Saddams
Chemieangriffe, versucht er eine wegweisende Vergleichsstudie zu
erstellen zwischen Holocaust und 'Anfal', dem irakische Massaker an
den Kurden. Aber als er das Wort 'Holocaust' in die arabischen
Suchmaschinen eingibt, erscheinen nur Adressen zu
Holocaust-Leugnungs-Seiten.
Solche Dinge machen Kaabat Ibrahim Raheen, einem
kurdischen Landmaschinen-Ingenieur, den ich in Bagdad treffe,
Sorgen. Kaabat verbringt viel Zeit beim Chatten im Internet und
versucht Amerikaner davon zu überzeugen, dass die meisten Iraker,
trotz der ganzen Berichte in den Medien über Widerstand, die sie
lesen, wollen, dass die Truppen bleiben, bis eine stabile,
demokratische Regierung gebildet worden ist. Aber Kaabat ist fast
noch beunruhigter über die Medien im Irak: "Die Verbündeten und der
Regierungsrat hätten besser schnell starke Medien aufgebaut. Das
Volk im Irak weiß nichts über die Welt da draußen. Jetzt erinnern
sie sich noch an Saddams Horror und lehnen die Sichtweise von
Al-Jazeera und AlArabia ab. Aber für wie lange noch?"
Kaabats Ängste beschäftigen mich auf meinem
Heimweg, denn viele Iraker scheinen offen für widersprüchliche
Einflüsse, als ob sie auf mehr als eine innere Stimme hören würden.
Während meiner letzten Nacht in Bagdad stehe ich nach Mitternacht
auf und spreche mit Nidam Fatah, dem 30jährigen Schiiten, einer der
Stammgäste in dem behelfsmäßigen Teehaus, dessen Lebenszeit sich
mehr oder weniger mit der Regierungszeit der Baath-Partei deckte.
Nidam machte auf mich sofort einen intelligenten und redegewandten
Eindruck – aber auch einen verwirrten. Obwohl ihm einerseits sein
Vater seit frühester Kindheit beibrachte, dass Saddam ein böser Mann
sei, waren andererseits alle Lehrer Nidams durch und durch
indoktriniert mit der Ideologie der Baath-Partei.
"Ich ertappe mich selbst dabei, Saddam zu
verteidigen," sagt Nidam. "Ich weiß nicht einmal, warum! Als der
Krieg vorbei war, weinte ich. US-Panzer in Bagdad? Wie kann das
sein! Was für ein Schlag ins Gesicht! Meine Kinder zeigten den
Truppen das Daumen-nach-oben-Zeichen, aber ich sagte: 'Nein! Tut
eure Daumen nach unten!' Aber dann sah ich die Massengräber. Ich
verstand die Fakten. Ich durchdachte alles noch einmal. Ich sagte,
ja, warum nicht, sie können unser Öl haben, aber dafür müssen wir
wenigstens gut leben können."
Nidam haßt Palästinenser, weil "sie Saddams
Günstlinge waren, während ich nichts hatte," aber er haßt auch die
Israelis und glaubt, dass Saddam ein israelischer Spion war. Sein
Beweis: "Er schoß 37 Raketen auf Israel und alle verfehlten ihr
Ziel, aber die Israelis haben sehr viel Geld für
Wiederaufbaumaßnahmen bekommen."
Fürs Erste hofft Nidam auf einen demokratischen
Irak und ein normales Leben, und deshalb will er auch, dass die
Amerikaner ihre Mission, die sie begonnen haben, fortsetzen. Aber
wie lange wird das dauern? Und was sind Nidams Kriterien für ein
'gutes' Leben? "Im Moment sollten sie [die Amerikaner] bleiben. Es
ist ihre Verantwortung. Sie sollten eine Regierung bilden, Wahlen
durchführen und die Lage stabilisieren; eine Regierung, die frei und
friedlich ist. Aber dann müssen sie gehen."
hagalil.com
05-12-2003 |