Das Wetter:
Normalität in Bagdad
Mehr als zwei Monate nach dem Sturz
des Ba'ath-Regimes kehrt in der irakischen Hauptstadt langsam die
Normalität ein
Eine Reportage von Thomas Uwer, Bagdad
Jungle World, 25.06.03
Es ist heiß in der Stadt, die Luft ist dick von Abgasen und
Staub. Das ist nicht ungewöhnlich im Juni, und doch stöhnen die
Bewohner Bagdads über das Wetter. Zwei Monate nach der Befreiung der
Stadt durch amerikanische Truppen sind die Alltäglichkeiten wieder
wichtig. Nur noch wenig erinnert an den Krieg, meist sind es die
ausgebrannten Ruinen der Ministerien und Paläste. Das Leben auf den
Straßen aber erweckt den Anschein, als hätte es Saddam Hussein
niemals gegeben. Saddam, das ist der Kerl auf den Geldscheinen, der,
von dem nichts weiter geblieben ist als zertrümmerte Statuen und
übermalte Bilder an jeder Ecke.
"Das ist nicht zu übersehen. Die Straße runter und da, wo das
große Bild von unserem fucking Präsidenten kommt, ist es." Ich suche
das Gefängnis Abu Ghraib, die bekannteste Anstalt im Staate Saddam
Husseins. Es liegt am Highway zur Hauptstadt und wurde einst taghell
angestrahlt als Warnung an jeden, der vorbeifuhr. 30 000 Gefangene
saßen hier bis vor kurzem ein, und hätte der Mann, den ich um
Auskunft bat, mir den Weg vor wenigen Wochen noch genauso
beschrieben, so hätte er große Chancen gehabt, ebenfalls dort zu
landen.
Jetzt gehört das Gefängnis zur Vergangenheit, die Scheinwerfer
sind zerschossen und nur der "fucking Präsident", fünf mal zehn
Meter groß, steht immer noch am Eingang. "Es gibt kein Leben ohne
Sonne, es gibt keine Würde ohne Saddam", steht unter dem mit Schlamm
beworfenen Bild. "Wir haben von beidem genug", hat ein Unbekannter
darüber geschrieben. Niemand ist mehr da, der daran Anstoß nehmen
könnte. Nach den Amerikanern kamen jene, die ihre Angehörigen
suchten, und danach kamen die Plünderer.
Heute wühlen Kinder aus den nahe gelegenen Vierteln in den
Trümmern nach Messingrohren und anderem Schrott, der ein bisschen
Geld bringt. Ein Mann schleppt Pepsi-Dosen heran. Er hat sie
besorgt, um sie an Journalisten und Soldaten zu verkaufen, die hier
in den ersten Tagen nach der Befreiung unterwegs waren. Die einen,
um Leichen zu besichtigen, die anderen, um sie zu beseitigen. Jetzt
war schon lange niemand mehr hier. Wo die leeren Dosen hinfliegen,
sagt der Mann, hätten die Toten gelegen.
Am 9. April brachen US-Panzer beim Vorstoß auf das Stadtzentrum
durch die Außenmauer des Geländes, weil irakische Truppen sich darin
verschanzt haben sollten. Das Gefängnis aber war leer, es fanden
sich weder die Wachtruppen noch Gefangene. Am Tag zuvor war Abu
Ghraib geräumt worden. Häftlinge, die nicht wegen politischer
Vergehen einsaßen, hatte man laufen lassen, andere mitgenommen oder
eilfertig exekutiert, die Akten wurden, so gut es ging, vernichtet.
Bereits Wochen vor der Befreiung begann das Regime, die
Gefängnisse des Landes zu säubern. Als die Angehörigen endlich in
die Gefängnisse konnten, fanden sie zumeist nichts vor als
verlassene Baracken und leere Zellen. Abu Ghraib jedoch wurde erst
in letzter Minute geräumt. Der Größenwahn Saddams, der seinen
Truppen verbot, Stellungen in der Hauptstadt aufzugeben, rettete
vielen Gefangenen das Leben. Denn es gelang ihnen, im Chaos des
letzten Tages zu fliehen. Die anderen wurden später hier begraben,
wie so viele ihrer Leidensgenossen in den letzten Jahrzehnten.
Was sich danach abspielte, lässt sich vom Zustand der Gebäude
ablesen. Die über Jahre gehegte Hoffnung der Menschen, ihre
Angehörigen lebend wiederzusehen, muss in verzweifelte Wut
umgeschlagen sein. Die Einrichtung wurde zertrümmert, die Bilder
Saddam Husseins und die dazugehörigen Tugendsprüche sind bis auf den
blanken Stein der Mauer heruntergeschlagen, schwere Eisentüren
wurden aus den Angeln gerissen, Wachtürme und Verwaltungsgebäude
gingen in Flammen auf.
In einem der Blöcke, die über dem Gelände verstreut sind, gibt es
Zellen, deren Grundfläche nicht viel größer ist als die schwere
Stahltür, die sie einst verschloss, ohne Fenster, ohne Lüftung. In
einer anderen Zelle sind Haken an den Decken angebracht. "Zum
Festmachen", erklärt der Pepsi-Verkäufer. Sein Onkel war hier tätig.
An der Wand ist noch ein Bild Saddams in Uniform erkennbar, der eine
Kobra erwürgt. Die Schlange trägt einen Zionsstern, im Hintergrund
leuchtet golden die al-Aqsa Moschee.
Bilder spielten eine wichtige Rolle in Saddam Husseins geheimer
Welt der Strafe. Sie spiegelten wider, wie sehr das Innere der
Insassen bereits verändert, modelliert, gebrochen war. Im Büro des
Mukhabarat, des wichtigsten Geheimdienstes, wurden keine Schlangen
erwürgt, keine Schwerter geschwungen, keine Fahnen gehisst. Inmitten
des einen Quadratkilometer umfassenden Gefängniskomplexes hatten
sich jene eingerichtet, die über Leben und Tod der Gefangenen
entschieden.
Innerhalb von Mauern liegt das Gebäude in einem kleinen Garten,
dem einzigen Grün in der gesamten Anlage. Unter den Decken klebt
falscher Stuck, die Wände sind mit Blumenornamenten und
Landschaftsbildern verziert, die Seen und Wälder zeigen, ein
Liebespaar schaut sich vor der untergehenden Sonne am
Vierwaldstätter See an. Hier wurde 1999 die Hinrichtung von mehr als
2 000 Häftlingen angeordnet, um Platz zu schaffen für neue
Gefangene. Hier wurden Folter, Vergewaltigung und Mord geplant und
durchgeführt. Auf dem Boden liegt herum, was nicht verbrannt wurde –
Broschüren über Saddam, Heftchen über die "Jerusalem
Befreiungsarmee" mit Bildern, auf denen islamische Selbstmordbomber
die Hand zum V heben.
Mehr als einen Bruchteil des Geländes schaffe ich nicht, ehe mein
Begleiter zum Aufbruch drängt. Es sei nicht gut, am Abend hier zu
sein. Er meint die Räuber, die auch für wenig Beute nicht vor einem
Mord zurückschrecken. Überall ist die Rede von den "Ali Babas",
Briganten, die aus den aufgelösten Armeeeinheiten hervorgingen und
die von der US-Verwaltung mit nächtlichen Ausgangssperren und
Straßenpatrouillen bekämpft werden.
Seither ist es sicherer geworden, und die Bagdadis danken es den
amerikanischen Truppen. Wo immer sie auftauchen, müssen sie Hände
schütteln, drängeln sich Kinder um die Jeeps. "Wenn sie groß sind,
wollen sie Amerikaner werden", witzelt ein Student. Alles muss
anders, alles besser werden.
Überall in der Stadt hat das Regime in den vergangenen Jahren
neue Paläste und Moscheen errichten lassen, während die Bevölkerung
verelendete. "Hier standen Wohnhäuser", erklärt man mir, während wir
an einem riesigen Militärkomplex entlang fahren. Was mit den
Bewohnern geschehen ist? Mein Begleiter zuckt mit den Schultern. Wer
weiß das schon. Sein Haus liegt in der Nähe des Ausbildungslagers
"Salman Pak", wo das Regime internationale Freiwillige trainierte.
Als US-Truppen auf die Stadt vorrückten, haben sie sich mit den
Elitetruppen der Fedayin Saddam im Viertel verschanzt und die
Bevölkerung als Geisel genommen. Hier hat man andere Sorgen.
Über all das wird selten gesprochen. Stattdessen wird in Vierteln
wie dem christlichen Karada die Normalität regelrecht zelebriert.
Wenn es Abend wird, schieben sich hier die Massen an Restaurants,
Cafés und Straßenständen vorbei. Nur selten bricht sich die
Vergangenheit Bahn, wie bei dem Spaziergänger, dem ich abends am
Ufer des Tigris begegne. "Schaut her", spricht er mich an und deutet
dabei auf einen Zaun, der das Flussufer unbegehbar macht. "Sie haben
uns eingesperrt wie Tiere."
Weil auf der anderen Flussseite ein Präsidentenpalast errichtet
wurde, musste die bekannteste Vergnügungsmeile Bagdads, die Abu
Nouass am Tigris, weichen. Jetzt liegt der Palast ausgebrannt und
verlassen da, während diesseits des Tigris die ersten Restaurants
wieder öffnen. Es gibt frischen Fisch und kühles Bier. Auf die Frage
nach der Zeit vor der Befreiung antwortet der Kellner knapp: "Ein
großes Problem" und kommt zum eigentlichen Thema, dem Wetter. Morgen
soll es noch heißer werden.
hagalil.com
30-06-2003 |