Massenflucht erwartet:
Alle Grenzen dicht
Die Nachbarstaaten, das UNHCR und
zahlreiche Hilfsorganisationen rüsten sich für die erwartete
Massenflucht aus dem Irak
Von Thomas Uwer und Thomas von
der Osten-Sacken
Jungle World, 8 - 12.
Februar 2003
Die Grenzen des kurdischen Nordirak zum
Nachbarland Türkei sind hermetisch abgeriegelt, die zum Iran
vermint; die ersten Maßnahmen zur Flüchtlingsabwehr sind getroffen.
Während die Öffentlichkeit gebannt den amerikanischen
Truppenaufmarsch am Golf verfolgt, rüsten sich auch
Hilfsorganisationen und das Uno-Flüchtlingskommissariat UNHCR im
Nordirak für die erwartete Massenflucht. Seit Wochen stockt das
UNHCR die Lagerhäuser der Region auf, um im Krisenfall sofort
"Zeltstädte" zu errichten und die Notversorgung zu übernehmen.
Auch deutsche Organisationen sammeln bereits
Spenden für die Nothilfe vor Ort. "Nach Schätzungen der UN werden im
Falle eines Krieges ca. 1,5 Millionen Menschen versuchen, das Land
zu verlassen", erklärte beispielsweise Thomas Gebauer, der
Geschäftsführer der Organisation Medico International, Mitte Januar
nach einem Gespräch mit der Entwicklungshilfeministerin Heidemarie
Wieczorek-Zeul.
Erinnert wird dabei an die Massenflucht von
Irakern während des letzten Golfkrieges, als fast zwei Millionen
Menschen allein an den nördlichen Grenzen versuchten, in die
Nachbarländer zu gelangen. Die meisten von ihnen flohen allerdings
nicht vor den unmittelbaren Kampfhandlungen des Krieges selbst,
sondern vor irakischen Truppen, die nach den missglückten
Massenaufständen in einer Vergeltungskampagne die gesamte Region
unter ihre Kontrolle brachten.
Wie viele Menschen diesmal fliehen werden, hängt
ganz davon ab, welche militärische Strategie gegenüber Saddam
Hussein letztlich angewendet wird, sowie von der Reaktion des
Regimes. Saddam Hussein hat einen unerbittlichen Verteidigungskampf
angekündigt. Die Kurden im Nordirak, denen im offiziellen
Regierungsjargon als "zionistische Agenten" und "fünfte Kolonne
Israels" seit langem die Schuld am Elend des Landes gegeben wird,
gelten als besonders gefährdet, sollte Saddam ein Vergeltungsschlag
gelingen. Kürzlich verkündete sein Stellvertreter Tarik Aziz im
qatarischen Fernsehen, die kurdischen Politiker Massoud Barzani und
Jalal Talabani würden dann "hinweggefegt werden".
Angesichts solcher Drohungen richten sich die
Menschen im Nordirak seit Anfang des Jahres bereits auf den
Ernstfall ein. Um die Versorgung der Bevölkerung im Falle eines
erneuten Angriffs mit chemischen Waffen gewährleisten zu können,
wurden Sammelplätze und Notfalllazarette eingerichtet. Auf Hilfe aus
Deutschland wartet die Regionalregierung bis heute vergeblich.
Dass der Verweis auf 1991 dennoch nicht fehlgeht,
belegen die Aufrufe der Hilfswerke. Damals führte die Massenflucht
von Irakern, die an der Grenze zur Türkei und zum Iran Schutz
suchten, nicht zu einer internationalen Aufnahme der Flüchtlinge,
sondern zu einer groß angelegten Rückführung in den noch umkämpften
Nordirak. Gegen die Regeln des internationalen Flüchtlingsschutzes
hatte sich die Türkei geweigert, die Menschen aufzunehmen. Ein so
genannter Safe Haven innerhalb des Verfolgerlandes wurde
eingerichtet, und mehrere hunderttausend Flüchtlinge wurden in eine
verminte und völkerrechtlich nicht anerkannte Enklave des Irak
abgeschoben.
Flankiert wurde diese Aktion, die klar gegen das
so genannte Non-Refoulment-Prinzip, das Verbot der Rückschiebung von
Flüchtlingen in ihr Verfolgerland, verstieß, vom Einsatz humanitärer
Organisationen. In den Notlagern der türkischen Grenzregion
verteilte das UNHCR Flugblätter, in denen fälschlicherweise
behauptet wurde, die Menschen könnten in sicheres Gebiet
zurückkehren. In Wirklichkeit verließen sie mit der Rückkehr in den
Irak jedoch nur den Geltungsbereich des internationalen
Flüchtlingsrechts und damit die Verantwortlichkeit des UNHCR.
Anstelle von politischer Sicherheit und effektivem Schutz hielten
die internationalen Hilfsagenturen im Irak lediglich Wolldecken und
Notbehausungen bereit.
Seitdem ist die Versorgung von Flüchtlingen
innerhalb des Verfolgerstaates zum anerkannten Modell der
Fluchtabwehr avanciert. Hilfsagenturen erledigen innerhalb dieses
Konzepts die anfallende humanitäre Arbeit in den Flüchtlingslagern.
Auch heute fordern selbst in einer linken Tradition stehende
Organisationen wie Medico International nicht die Verwirklichung
verbriefter Flüchtlingsrechte, sondern finanzielle Hilfe für die
Versorgung vor Ort.
Die Grundlagen für diese Hilfe wurden bereits
geschaffen. So hat die türkische Regierung mit der Errichtung von
Infrastruktur für Flüchtlingslager auf der irakischen Seite der
Grenze begonnen. Seit Monaten hält das Militär dort einen so
genannten Sicherheitsstreifen besetzt, in dem Landvermesser das
Areal für künftige Zeltstädte abgesteckt haben. Zuständig für die
Lager ist der türkische Rote Halbmond, der seit Jahren faktisch die
Interessen der türkischen Regierung im Nordirak vertritt und 14
Lager errichten soll. Fünf von ihnen wurden bislang eingerichtet.
Anfang Januar verlegte die türkische Armee erneut
Truppen an die Grenze, die der Regierung zufolge nicht an einer
möglichen Militärintervention gegen den Irak teilnehmen werden,
sondern der "humanitären Versorgung" dienen. Auf diese Weise sollen
Flüchtlinge bereits vor der Grenze abgefangen und interniert werden.
Auch die iranische Regierung bereitet sich auf
eine Massenflucht vor. Bereits jetzt lebt rund eine Million
irakischer Flüchtlinge im Iran. Diese Menschen, die teilweise
bereits in den frühen achtziger Jahren in den Iran flohen, verfügen
über keinen dauerhaften Rechtsstatus und dürfen größtenteils die
iranisch-irakische Grenzregion nicht verlassen. Um die dauerhafte
Ansiedlung irakischer Flüchtlinge zu verhindern, wurde zudem ein
Arbeitsverbot sowie im Jahr 2001 ein Verbot der Eheschließung mit
iranischen Staatsbürgern erlassen.
Die wenigen Hilfsorganisationen, die in den
iranischen Flüchtlingscamps arbeiten, beklagen seit Jahren die
unhaltbaren Zustände in den Lagern, die bestenfalls für eine
vorübergehende Notversorgung geeignet sind. Wie bereits im
Afghanistankrieg will die iranische Regierung an der Grenze
"exterritoriale Zonen" schaffen, um so irakische Flüchtlinge an der
Überquerung zu hindern. Wie die Kurden sind die Schiiten im Südirak
seit den Aufständen des Jahres 1991 besonders von Racheaktionen des
Regimes bedroht.
Damals verhandelte die Anti-Irak-Koalition mit dem
Regime über die Rückkehr von Flüchtlingen. Nicht im Interesse der
Menschen, sondern aus Angst vor einer Destabilisierung der Region
durch einen anhaltenden Massenexodus aus dem Irak. Aus Sicht des
irakischen Staates ist die erwartete Massenflucht auch jetzt ein
willkommenes Druckmittel.
Auf ihre Weise haben sich auch die europäischen
Staaten bereits auf diesen Fall vorbereitet. Wie Deutschland, wo
seit dem Beginn der Irakkrise im Dezember 2001 die
Anerkennungsquoten von 65 Prozent bis auf zehn Prozent im
Erstverfahren gesunken sind, hat auch Großbritannien seine
Anerkennungspraxis gegenüber irakischen Flüchtlingen zu deren
Ungunsten revidiert, Griechenland kündigte ein EU-Programm zur
Abwehr irakischer Flüchtlinge für die nächsten Wochen an.
Damit stehen die Europäer nicht alleine. Bereits
Anfang Januar meldete der US-Flüchtlingsrat, die
Einwanderungsbehörde habe alle Anträge irakischer Flüchtlinge "auf
Eis gelegt". Zwar dementierte die Einwanderungsbehörde und erklärte,
es handele sich nur um eine temporäre Überprüfung der Praxis. Das
Resultat bleibt das gleiche. Derzeit, so der Flüchtlingsrat, erhalte
kein Iraker eine Einreiseerlaubnis.
hagalil.com
13-02-2003 |