ZEHN JAHRE
KURDISCHE SICHERHEITSZONE IM NORDIRAK
Demokratie in Zeiten des Embargos
WEIL im UN-Sicherheitsrat keine Einigung über die "intelligenten"
Sanktionen gegen den Irak zustande kam, wurde Anfang Juli die Resolution
"Öl gegen Lebensmittel" um weitere fünf Monate verlängert. Für das unter
internationaler Militärkontrolle stehende Kurdengebiet im Nordirak
bedeutet dies die Sicherung seiner quasistaatlichen Existenz. Die neue
US-Regierung sieht sich wachsender Kritik wegen des Embargos gegen den
Irak ausgesetzt und steht vor einer schwierigen Aufgabe: Wie soll sie
angesichts der Zuspitzung des Konflikts um Palästina die arabischen
Nachbarn gegen Saddam Hussein mobilisieren, während die Bevölkerung über
die israelische Besatzungspolitik zunehmend entsetzt ist?
Von KENDAL NEZAN *
* Leiter des Kurdischen Instituts, Paris.
Zehn Jahre ist es her, dass die Westmächte, unter
Berufung auf die Resolution 688 des UN-Sicherheitsrats über
Interventionen zu humanitären Zwecken, den Beschluss fassten, im
Nordirak eine "Sicherheitszone" einzurichten. Die Maßnahme sollte dazu
dienen, den etwa zwei Millionen Kurden, die vor der Invasion irakischer
Truppen in den Iran oder die Türkei geflüchtet waren, die Rückkehr an
ihre Wohnorte zu ermöglichen. Die Sicherung dieses Gebiets von etwa
40 000 Quadratkilometern, in dem 3,5 Millionen Kurden leben, übernahm
eine multinationale Luftstreitmacht, die in der Türkei stationiert wurde
und zu der bis Dezember 1995 auch eine französische Fliegerstaffel
gehörte.
Ursprünglich ging es dem Westen darum, dem
Bündnispartner Türkei zur Seite zu stehen, für den der Zustrom
hunderttausender Kurden aus dem Irak in die Krisenregion des türkischen
Kurdistan eine neue Belastung bedeutete. Der Irak setzte dieser
Maßnahme, die drei Monate nach dem Ende des Golfkrieges getroffen wurde,
keinen Widerstand entgegen. Bagdad zog vielmehr ab Oktober 1991 alle
Verwaltungsbeamten aus den drei Regierungsbezirken der Schutzzone
(Duhok, Erbil und Suleimaniah) ab und zahlte den Staatsdienern, die sich
zum Bleiben entschlossen, keine Gehälter oder Pensionen mehr. Weil die
Türkei die Entstehung eines autonomen Kurdenstaates befürchtete, waren
die Westmächte aber auch nicht bereit, die Verantwortung für die
Bevölkerung in der Schutzzone zu übernehmen und dort eine eigene
Verwaltung aufzubauen oder ein UN-"Protektorat" einzurichten, wie es
dann 1999 im Kosovo geschah - eine kurdische Selbstverwaltung in der
Region kam erst recht nicht in Frage.
Die westliche Haltung war eindeutig: Man war bereit, den
Kurden die Rückkehr in ihre Heimat zu ermöglichen und sie vor Angriffen
der irakischen Armee zu schützen, aber um ihre inneren Angelegenheiten
und den Wiederaufbau des zerstörten Landes sollten sie sich selbst
kümmern. Die Kurden, die seit dreißig Jahren in einem Kriegsgebiet
leben, sahen sich damit vor eine fast unlösbare Aufgabe gestellt - ein
Land von der Größe der Schweiz zu verwalten, in dem 90 Prozent der etwa
5 000 Dörfer und rund 20 Städte vollkommen zerstört waren, wo keine
wirtschaftliche Infrastruktur mehr existierte, wo die Felder vermint und
die Bauern vertrieben waren. Fast 80 Prozent der Erwerbsbevölkerung
waren arbeitslos, und die irakische Regierung hatte das Kurdengebiet von
der Stromversorgung abgeschnitten und ein Heizöl- und Benzinembargo
verhängt.
Unter diesen katastrophalen Bedingungen war
Improvisationstalent gefragt. Zunächst übernahm die "Einheitsfront
Kurdistan", ein Zusammenschluss von acht politischen Parteien, die
Regierungsgewalt und organisierte Wahlen zu einem kurdischen Parlament,
die dann am 18. Mai 1992 stattfanden. Stärkste Formation in der neuen
Volksvertretung wurde die Demokratische Partei Kurdistans (KDP) von
Massud Barsani (51 Sitze), gleich darauf folgt die Patriotische Union
Kurdistans (PUK) von Dschalal Talabani (49 Sitze). Die
assyrisch-chaldäische Partei (Vertretung einer christlichen Minderheit
von etwa 30 000 Kurden) errang 5 Sitze, alle übrigen Gruppierungen
(Kommunisten, Sozialisten, Islamisten) scheiterten an der
Fünfprozenthürde, wurden aber an der Regierung der nationalen Einheit
beteiligt, die im Juli 1992 zusammentrat.
Die neue Führung hoffte natürlich auf rasche Anerkennung
dieser demokratisch verfassten Institutionen durch die westlichen Mächte
und auf finanzielle Hilfen. Sie wurde enttäuscht: In Ankara, Damaskus
und Teheran vergaß man vorübergehend alle Streitigkeiten, und die
Außenminister kamen im Dreimonatsrhythmus zusammen, um "die Lage im
Nordirak zu erörtern". Die USA und in ihrem Gefolge die europäischen
Staaten waren nur darauf bedacht, den türkischen Bündnispartner nicht zu
verprellen, und verweigerten dem demokratischen Projekt in Kurdistan
jede Unterstützung.
So war dieser Ansatz zum Scheitern verurteilt - ohne
finanzielle Mittel und unter dem Druck des irakischen Embargos konnten
die demokratischen Strukturen keinen Bestand haben. Im Mai 1994 führten
Streitigkeiten um die Aufteilung der dürftigen Einnahmen aus
Einfuhrzöllen zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern
von KDP und PUK. Die Nachbarländer heizten den Konflikt an, der bis 1997
dauerte und fast 3 000 Tote forderte. Zehntausende flohen aus ihren
Wohnorten. Dann kamen die verfeindeten Lager zu der Einsicht, dass die
Auseinandersetzung militärisch nicht zu entscheiden war. Und sie machten
sich überdies klar, dass die Regionalmächte (Iran, Irak und die Türkei)
im Falle eines Sieges die Vorherrschaft einer bestimmten politischen
Kraft als Störung des Machtgleichgewichts auffassen und darum vereiteln
würden.
Im November 1997 kam ein Waffenstillstandsabkommen
zustande, und im September 1998 trafen sich die Führer der
Konfliktparteien, Barsani und Talabani, in Washington zu
Friedensgesprächen unter der Schirmherrschaft der damaligen
US-Außenministerin Madeleine Albright und erklärten offiziell das Ende
der Feindseligkeiten.
Fragwürdiges Flickwerk
FÜR Massud Barsani
bedeutete das in Washington geschlossene Abkommen, dass sein Wahlsieg
vom Mai 1992 anerkannt wurde und er eine Übergangsregierung bilden
konnte, die mit der Vorbereitung von Neuwahlen betraut wurde. Für
Dschalal Talabani zahlte sich die Friedensvereinbarung aus, weil seiner
Organisation ein Teil der Zolleinkünfte zugesichert wurde. Inzwischen
haben die Konfliktparteien zahlreiche Probleme ausgeräumt und eine
grundsätzliche Annäherung zwischen den Positionen von KDP und PUK
erzielt.
Die irakischen Kurden haben seither das schmerzliche und
unfreiwillige Experiment unternommen, ihre Verwaltung zu
dezentralisieren. Heute ist das von den Westmächten geschützte Gebiet
faktisch in eine Nord- und eine Südregion geteilt, die über ihren
jeweils eigenen Verwaltungsapparat verfügen und faktisch miteinander
konkurrieren. Der weitaus reichere und relativ gut verwaltete Norden
wird von einer Koalitionsregierung geführt, die in Erbil residiert.
Entscheidende politische Kraft ist die KDP, doch rund ein Drittel des
Kabinetts besteht aus Vertretern kleiner Gruppierungen (der
assyrisch-chaldäischen und ezidischen Minderheiten) und aus
"unabhängigen" Parlamentariern. Hier ist es gelungen, etwa 70 Prozent
der zerstörten Dörfer und Städte wieder aufzubauen, das Straßennetz
wieder herzustellen und auszubauen und für eine funktionierende
Telekommunikation zu sorgen. In Fragen der Infrastruktur (Gesundheit,
Bildung, Verkehr, Energie) arbeiten die Nord- und die Südregion
zusammen.
Der Norden verfügt inzwischen über 1 950 Grundschulen
und eine Reihe von Fachschulen und Gymnasien - fast alle Kinder können
eingeschult werden. Es gibt auch zwei Universitäten, in Dohuk und Erbil.
Die Seminare und Vorlesungen werden je nach Fachgebiet auf Kurdisch,
Arabisch oder Englisch abgehalten; in den Grundschulen und höheren
Schulen wird dagegen auf Kurdisch unterrichtet. Für die Studenten gibt
es durchaus akzeptable Wohnheime auf dem Campus, auch die Professoren
haben dort ihre Dienstwohnungen, und ihr Gehalt (140 Dollar im Monat)
beträgt das Siebenfache dessen, was ihre Kollegen im Irak verdienen.
Auch der Regierung im Süden des Kurdengebiets, die von
der PUK gestellt wird, gehören einige Vertreter kleiner Parteien und
"unabhängige" Abgeordnete an. An der Universität von Suleimaniah haben
sich 3 500 Studenten eingeschrieben, und derzeit besuchen 367 755
Schüler die 1 677 Grundschulen und weiterführenden Schulen der
Südregion. Allerdings gibt es, im Unterschied zum Norden, noch keine
allgemeine Schulpflicht für Jungen und Mädchen.
Die lokalen Behörden bemühen sich vorrangig um die
Versorgung der Bevölkerung mit Gesundheitsdiensten. Alle staatlichen
Leistungen sind kostenlos. Zerstörte Krankenhäuser wurden wieder instand
gesetzt und neue wurden geschaffen. Allerdings musste man wegen des
Embargos die medizinischen Geräte häufig auf dem Schwarzmarkt kaufen,
weswegen im Übrigen auch Medikamente zwar nicht knapp, aber oft von
schlechter Qualität sind.
Für Sicherheit und Ordnung in den Städten sorgen
Polizeikräfte, die in zwei Polizeischulen ausgebildet werden. Zwei
weitere Ausbildungsstätten dienen der Erfassung und Ausbildung der
Peschmerga-Kämpfer, einer ehemaligen Guerillatruppe, aus der eine
professionelle Armee werden soll. Das kurdische Parlament tagt in Erbil,
wo auch der Oberste Gerichtshof seinen Sitz hat.
Noch deutlicher zeigt sich die allgemeine
Aufbruchstimmung im Bereich der Kultur. Nach all den Jahren, in denen
sie schweigen mussten, wollen die Menschen nun die verlorene Zeit
aufholen. 3 Tageszeitungen und mehr als 130 Wochenzeitungen und
Zeitschriften befriedigen heute das Bedürfnis nach Bildung und
Information und decken alle Bereiche ab, von Literatur und Film bis
Geschichte und Computerfragen. Außerdem gibt es etwa ein Dutzend
Fernsehsender, die Programme für jeden Geschmack bieten - zwei davon
werden über Satelliten ausgestrahlt und können nicht nur von allen
Kurden im Nahen Osten, sondern auch von den Emigranten in Europa
empfangen werden. Mit den Parabolantennen - die im Iran wie im Irak
verboten sind - haben die Kurden auch die Möglichkeit, internationale
Programme zu sehen. Das Angebot an Zeitungen ist vielfältig, sogar die
Blätter des irakischen Regimes sind erhältlich. Die
assyrisch-chaldäische Minderheit verfügt über 14, die turkmenische über
9 Schulen, in denen in ihrer Sprache unterrichtet wird, zudem haben sie
ihre eigenen Rundfunk- und Fernsehprogramme. Und die Kurden, die der
ezidischen Glaubensgemeinschaft angehören (und lange Zeit von den
Muslimen unterdrückt und als "Teufelsanbeter" diskriminiert wurden),
können heute ihre Religion öffentlich ausüben, und ihre Kultstätten
stehen unter dem Schutz des Staates.
Eine wichtige Rolle für die sich entwickelnde
Zivilgesellschaft spielen die Frauen, die vor allem gegen die vom Iran
unterstützten islamistischen Gruppierungen Front machen und sich gegen
archaische Kulturtraditionen zur Wehr setzen. Solche internen
Entwicklungen und das Bemühen um Anerkennung durch den Westen haben zu
einer Veränderung der politischen Landschaft im irakischen Kurdistan
beigetragen. Zwar sind die renommierten Führer des bewaffneten
Widerstands noch keineswegs bereit, sich als einfache Staatsbürger oder
bloße Mandatsträger zu verstehen, doch das ursprüngliche (und für die
Region typische) Modell des Einparteienstaats wurde immerhin schon
abgelöst durch eine Art Versuchsanordnung für eine pluralistische
Demokratie.
Dass es dem quasiautonomen Kurdistan wirtschaftlich
nicht allzu schlecht geht, hat vor allem mit der UN-Resolution 986 zu
tun, die das Programm "Öl gegen Lebensmittel" für den Irak ermöglicht
hat.( )Dieses Programm gilt nämlich auch für 13 Prozent der Einkünfte
aus dem Verkauf von Öl, das in den drei irakischen Regierungsbezirken
des unter internationalem Schutz stehenden Kurdengebiets gefördert wird.
Neun UN-Organisationen sind in Kurdistan tätig, um die Verwendung der
Gelder zu überwachen: Sie entscheiden, was gefördert wird - derzeit sind
es Projekte in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Wohnungsbau,
Infrastruktur und Wasserversorgung für Flüchtlingslager. Außerdem gibt
es ein spezielles Ernährungsprogramm für die Kurdenregion. Die kurdische
Selbstverwaltung zeigt sich bei der Förderung der Projekte kooperativ.
Die Federführung liegt jedoch bei den UN-Organisationen, die mit
Zustimmung aus Bagdad und "im Namen der irakischen Regierung" (die sich
aus der Kurdenregion zurückgezogen hat) bestimmte Projekte finanzieren
und begleiten, was sich in der Praxis oft als langwieriges und
schwieriges Unterfangen erweist.
Seit 1997 hat die autonome Kurdenregion 4,8 Milliarden
Dollar erhalten, 3 Milliarden davon konnten bereits eingesetzt werden,
die restlichen Beträge werden erst freigegeben, wenn die geplanten
Projekte die Zustimmung der irakischen Regierung gefunden haben. Aber
der Geldsegen zeitigt bereits Wirkung - nicht zuletzt weil in den
Kurdengebieten Geschäftssinn und eine funktionierende Verwaltung
zusammenkommen. Die Region hat sich in eine gigantische Baustelle
verwandelt: Es entstehen neue Straßen, neue Schulen, Bibliotheken,
Sozialwohnungen, Sportplätze, Gewerbebetriebe usw. Insgesamt haben sich
die Lebensbedingungen der Bevölkerung merklich verbessert.
Die wichtigsten Einkünfte zur Finanzierung der
kurdischen Selbstverwaltung sind die Zölle, die auf den Lkw-Verkehr aus
der Türkei und dem Iran in den Irak erhoben werden. Außerdem gibt es
Deviseneinnahmen aus der Überwachung der Pipeline von Kirkuk über Jumur
nach Talik und aus dem grenzüberschreitenden Handel, vor allem aus
Ölexporten. Um die Wirtschaft anzukurbeln, haben die kurdischen Behörden
ihr Verwaltungsgebiet zu einer Art "Freihandelszone" gemacht, von der
aus die Märkte des Iran und des Irak mit den verschiedensten Produkten
versorgt werden, hauptsächlich mit Zigaretten. Aus solchen Quellen
stammen die jährlichen Einnahmen von etwa 200 Millionen Dollar, die es
erlauben, mehr als 250 000 Beamte und etwa 80 000 Sicherheitskräfte zu
beschäftigen. Über die Stabilität des kurdischen Dinar wacht die
Zentralbank von Kurdistan - bislang mit Erfolg.
Zum ersten Mal seit mehr als hundert Jahren ist es den
Kurden gelungen, einen Teil ihres historischen Siedlungsgebiets für eine
so lange Zeitspanne in eigener Regie zu verwalten. Und alles in allem
durchaus mit Erfolg. Es herrscht also Aufbruchstimmung in Kurdistan, und
das weckt auch neue Hoffnungen bei den 25 bis 30 Millionen Kurden in der
Türkei, im Iran und Syrien. Die etwa 2 Millionen Kurden in den drei
ölreichen irakischen Provinzen Kirkuk, Sindschar und Chanakin dagegen
leiden nach wie vor unter der Willkürherrschaft des Regimes in Bagdad,
das eine massive Arabisierungskampagne durchführt - mit dem Effekt, dass
die Auswanderung der Kurden nach Europa ständig zunimmt.
Bislang haben die beiden großen kurdischen Parteien ihre
Differenzen noch nicht vollständig überwinden können. Sie arbeiten
zusammen, aber immer wieder kommt es zu Konflikten, die einen Rückfall
in alte Feindseligkeiten möglich scheinen lassen. Zum anderen versuchen
die Nachbarstaaten mit einem hohen kurdischen Bevölkerungsanteil nach
wie vor, die Konsolidierung eines autonomen Kurdistan zu verhindern.
Ohne die angloamerikanische Luftüberwachung und die Einkünfte von 13
Prozent der Erlöse aus dem Verkauf des irakischen Öls (gemäß
UN-Resolution 986) könnte das kurdische Staatsgebilde nicht überleben.
dt. Edgar Peinelt
Le Monde diplomatique Nr. 6519 vom
10.8.2001, Seite 14, 392 Zeilen, Dokumentation KENDAL NEZAN
haGalil onLine
28-09-2001 |