Kurden im Irak:
Neujahrsfest der Freiheit
Wenn der Irak-Krieg einen Sieger
hat, dann sind es die jetzt weit gehend autonomen Kurden
Von Thomas von der Osten-Sacken
Dieser Tage gedenken die irakischen Kurden des
Giftgasangriffes auf die Stadt Halabja. Vor 16 Jahren warfen
Flugzeuge der irakischen Armee über der Stadt Gas ab, das auf der
Stelle 5000 Menschen qualvoll tötete. Der Angriff steht symbolisch
für die kurdische Geschichte des vergangenen Jahrhunderts, die
bestimmt war von Massenmord, Unterdrückung und Flucht. Halabja
erinnert die Kurden auch an die Indifferenz, die ihnen bislang
entgegengebracht wurde. Die Kurden im Irak, so schien es, waren
verdammt, die Rolle des ewigen Verlierers zu spielen.
Grundlegend anders, nicht als Opfer, sondern Gewinner
eines für sie mehr als 30-jährigen Krieges gegen die Diktatur Saddam
Husseins gedachten die Kurden in diesem Jahr des Massakers von 1988.
Angereist nach Halabja waren nicht nur die Führer beider kurdischen
Parteien, Massud Barzani und Jalal Talabani, sondern auch der
Übergangsverwalter des Irak Paul Bremer. Man erinnerte blickte
zuversichtlich in die Zukunft. Mehr als in jedem anderen Teil des
Irak herrscht seit dem Sturz des Saddam Regimes eine fast
euphorische Aufbruchstimmung. "Zum ersten Mal seit Jahrzehnten sehen
wir eine Perspektive in diesem Land", erklärt die Vorsitzende einer
kleinen Frauenorganisation in Halabja. Die zuvor allgegenwärtige
Angst vor den Sicherheitskräften Saddam Husseins ist verflogen.
Vor einem Jahr noch blickten die Kurden als
Verbündete der USA in eine ungewisse Zukunft und fürchteten die
irakische Armee könne Kurdengebiete angreifen oder türkische Truppen
im Nordirak einmarschieren. In Deutschland prophezeiten derweil
einschlägig bekannte Nahostexperten, dass die USA die Kurden einmal
mehr verraten würden, während die arabische und islamistische Presse
sie als Knechte und fünfte Kolonne des amerikanischen Imperialismus
und Zionismus denunzierte. Das
Bündnis mit den USA und der Koalition zahlte sich allen Warnungen
zum Trotz aus, und die Liste errungener Erfolge ist lang: Saddam
Hussein wartet im Gefängnis auf sein Gerichtsverfahren, ein Kurde
ist irakischer Außenminister, in Bagdad bestimmen kurdische
Politiker über die Geschicke des Nachkriegsirak mit. Den bislang
größten Erfolg aber stellt die Interimsverfassung dar, die den
Kurden weit gehende Autonomie in einem föderalen irakischen Staat
garantiert. Ausdrücklich wird
das den Kurden in der Vergangenheit zugefügte Unrecht, vor allem die
zwangsweise Arabisierung der Stadt Kirkuk, erwähnt und Kompensation
zugesagt. Eine eigene, der kurdischen Regionalregierung unterstellte
Polizei ist ebenso vorgesehen, wie eine weit gehende Steuerhoheit.
Dass es den Vertretern islamischer Parteien nicht
gelang, die Scharia zur maßgeblichen Quelle der Gesetzgebung zu
machen und eine Frauenquote von 25 Prozent für das neue Parlament
vorgesehen sind, wird in den kurdischen Gebieten als weiterer
wichtiger Erfolg verbucht. Der ausgehandelte Kompromiss, bürgerliche
Freiheitsrechte und Islam zu gleichwertigen Quellen der Gesetzgebung
zu ernennen, wurde, auch wenn viele kurdischen Menschenrechts- und
Frauenorganisationen sich für eine strikte Trennung von Religion und
Staat stark gemacht hatten, weitestgehend begrüßt. Sollte in einer
bis Ende 2005 geschriebenen und den Irakern zur Abstimmung
vorzulegenden endgültigen Verfassung Föderalismus oder andere
Errungenschaften kassiert werden, können die Kurden sogar ein Veto
einlegen: Wenn in drei zu einer Föderation zusammengeschlossenen
Region 75 Prozent der Stimmberechtigten gegen den endgültigen
Verfassungsentwurf stimmen, tritt dieser nicht in Kraft.
Die Idee eines Referendums zur Frage, ob die Kurden
Föderalismus oder Unabhängigkeit wollen, erfreut sich breiter
Unterstützung. Seine Unterstützer wollen nicht so sehr ethnischen
Separatismus, sie fragen sich eher, ob die arabischen Iraker es mit
der Schaffung eines föderalen Staates ernst meinen. Zu oft hatten
Regierungen in Bagdad Zugeständnisse an die Kurden gemacht, nur um
sie wenig später umso brutaler rückgängig zu machen. "Die Verfassung
ist die fortschrittlichste, die es im Nahen Osten gibt, erklärt
Falah Muradkhin von der juristischen Fakultät der Universität
Suleymaniahs, "die Frage ist allerdings, ob sie mit Leben gefüllt
wird". Muradkhin ist optimistisch, schließlich stärke die irakische
Konstitution die Legislative. "Wir brauchen keine starken Führer,
sondern starke Gesetze, die regieren."
Auch die Unruhen in den kurdischen Gebieten in Syrien
und im Iran stehen mit der Entwicklung im Irak in enger Verbindung.
Nach Verabschiedung der irakischen Verfassung demonstrierten
Zehntausende Kurden im Iran für Föderalismus, im kurdisch
besiedelten Nordostsyrien herrscht der Ausnahmezustand. Überall in
Irakisch-Kurdistan finden dieser Tage Solidaritätskundgebungen mit
den Kurden in den Nachbarländern statt. Ein Demonstrant auf dem
Campus der Universität von Suleymaniah bringt die Stimmung auf den
Punkt: "Wir alle hoffen auf einen Umsturz im Iran und in Syrien und
fürchten zugleich, dass es dort zu einem zweiten Halabja kommen
könnte." Der Publizist
Thomas von der Osten-Sacken leitet die Hilfsorganisation "Wadi".
Artikel erschienen am 23. März 2004 in:
Die Welt
hagalil.com
24-03-2004 |