Kurden im Irak:
"Kein Volksaufstand ..."
Weil die Kurden im Irak George
W. Bush lieber mögen als Saddam Hussein, hat die antiamerikanische
Linke die Kurden aus ihrer Liste revolutionärer Völkerschaften
gestrichen und interessiert sich nicht mehr für sie. Thomas von der
Osten-Sacken sprach mit Ahmed Berwari, Vertreter der Patriotischen
Union Kurdistans in Deutschland, über die Situation im Irak, die
verzerrte Wahrnehmung in Europa und die Entsolidarisierung der
Linken.
Interview:
Thomas von der Osten-Sacken
Thomas von der Osten-Sacken: Nach den
verheerenden Anschlägen auf das Gebäude der UN in Bagdad und in
Nadjaf heisst es in den Medien, dass der Irak jetzt im Chaos zu
versinken drohe, ja gar eine "Afghanisierung" des Landes bevorstehe,
die nur durch eine Stärkung der Rolle der UN abzuwenden wäre. So
jedenfalls klingen die Erklärungen vor allem Deutschlands und
Frankreichs.
Ahmed Berwari: Zunächst: Der Anschlag in Nadjaf
stellt ein äusserst trauriges und verurteilenswertes Ereignis dar.
Nicht nur, weil über hundert Menschen dabei umkamen, sondern weil
eine bedeutende Persönlichkeit der ehemaligen irakischen Opposition
Ayatollah al-Hakim getötet wurde. Er spielte eine wichtige Rolle bei
der Gestaltung des neuen Irak. Aber das Bild, das von den Medien
verbreitet und von gewissen Kreisen in der Politik unterstützt wird,
dass im Irak nur Chaos herrsche und das Leben von Anschlägen
dominiert werde, ist übertrieben und einseitig.
Im Irak gibt es bedeutende Fortschritte, über die
man so gut wie gar nicht redet. Die Elektrizitätsversorgung ist
wesentlich besser geworden, das Schulsystem funktioniert und ebenso
die Universitäten. Die Verheerungen von 35 Jahren Diktatur lassen
sich nicht in zwei Monaten beheben. Aber es gibt viele sehr positive
Entwicklungen überall im Land. Auch die Schaffung des Übergangsrates
und die Ernennung von Ministern ist ein solches Zeichen.
Die Frage, ob die UN eine zentrale Rolle beim
Wiederaufbau des Irak oder bei der Gewährleistung von Sicherheit
spielen sollte, wirkt auf mich etwas überholt. Die UN hätte
eigentlich bei der Befreiung Iraks eine wichtige Rolle spielen
sollen, so wie es die USA und England gerne gehabt hätten. Die
Probleme, die heute im Irak herrschen, kann man durch die UN - eine
extrem bürokratisierte Organisation - nicht lösen. Auch wenn die UN
heute im Irak etwas schaffen will, kann sie ohne die Koalition
nichts erreichen. Wir sind nicht gegen die UN, aber wir sind der
Meinung, dass die Probleme im Irak nur zu lösen sind, wenn man die
Iraker selbst bei der Entscheidung einbezieht. Es gibt aber andere
Möglichkeiten den Irak zu unterstützen, finanziell etwa. Das alte
irakische Regime hatte bei den meisten europäischen Ländern große
Schulden, etwa 4 Milliarden in Deutschland, teilweise sogar noch aus
der Zeit, als dem Irak das Know-How zur Produktion von chemischen
Waffen geliefert wurde. Wenn es die europäischen Länder ernst
meinen, dann sollten sie uns diese Schulden, die nicht wir, sondern
Saddam Hussein gemacht hat, erlassen. Solche Formen der Hilfe werden
benötigt. Wir fordern, dass unsere politischen Bemühungen
unterstützt werden. Es wäre sehr erfreulich, wenn die Europäer die
Bildung der Übergangsregierung und die neue irakische Regierung
praktisch unterstützen würden. Dies würde weit mehr zur
Stabilisierung des Irak beitragen als das Gerede über die Rolle der
UN. Wir können nicht warten, bis die Streitereien zwischen den
Staaten, für die die UN nur der Vorwand ist, ausgetragen sind. Die
Amerikaner und Briten und ihre Alliierten sind aktiv vor Ort und
unterstützen uns. Wir freuen uns über jede Hilfe und sind der
Meinung, dass die Probleme des Irak, vor allem die Sicherheitslage,
durch die UN gelöst werden können. Die UN konnte noch nicht einmal
für die Sicherheit ihres eigenen Hauptquartiers sorgen, weil -
soweit ich informiert bin - sie sich geweigert hat, Schutz von den
Amerikanern anzunehmen, um nicht den Eindruck entstehen zu lassen,
dass dies eine Einrichtung der Amerikaner sei. Kurz: Blauhelme sind
keine Option, um die Sicherheit im Irak zu garantieren.
T. v. 0.: Sie denken aber, dass insgesamt die
Entwicklung im Irak auf dem richtigen Weg ist?
A. B.: Auf jeden Fall. Das Wichtigste ist und
bleibt, dass die Iraker von der Diktatur Saddam Husseins befreit
wurden. Dies ist die Einstellung der überwältigenden Mehrheit der
Iraker, auch wenn sie nicht dauernd darüber sprechen. Diese
Dankbarkeit ist fast überall zu bemerken. Sicher, es finden sich
auch Leute, die anders reden, aber die sind in der Minderheit.
Allerdings wird das Leben der Menschen im Irak jetzt von
alltäglichen Problemen dominiert. Sicherheit, Arbeitslosigkeit oder
Elektrizität sind die bestimmenden Themen, und die Koalition ebenso
wie der Übergangsrat werden für Fehler oder Versäumnisse
verantwortlich gemacht. Denn die Probleme, die die Iraker unter der
Diktatur belastet haben, sind vorbei. Heute haben die Iraker die
Sorge, wie man neben dem eigenen Leben das neue System im Irak
gestalten kann.
T. v. 0.: Der aussenpolitische Sprecher der
SPD, Gernot Erler, erklärte, dass inzwischen eine wachsende Mehrheit
der Irakis gegen die Amerikaner eingestellt sei und sie als
Besatzungsmacht wahrnehmen würde. Sie halten das für eine falsche
Einschätzung?
A. B.: Ja, unbedingt. Ich vertrete eine kurdische
Partei. Wenn man alleine von den Kurden redet, also von fünf bis
sechs Millionen Irakern, so waren die nicht nur froh, sondern haben
die Amerikaner und Briten als Befreier begrüßt. Und die Schiiten,
die die Mehrheit, also etwa 60% der irakischen Bevölkerung
ausmachen, haben die Amerikaner und Briten auch als Befreier
gesehen. Auch in Bagdad wurden die Koalitionstruppen jubelnd
begrüsst. Wer die Amerikaner als Besatzer bezeichnet und zum Kampf
gegen sie aufruft, spricht nicht im Namen der Iraker. Das sind
entweder Anhänger des alten Regimes, islamische Fundamentalisten
oder arabische Nationalisten. Wenn Leute wie Herr Erler die
arabischen Nationalisten und islamischen Fundamentalisten und die
ehemaligen Baathisten als das irakische Volk ansehen, dann ist das
ihre Sache.
T. v. O.: Aber wie erklären Sie sich dann die
fast durchgängig von allen Medien - mit ganz wenigen Ausnahmen -
geteilte Einschätzung, dass im Irak nun eine Art von Intifada gegen
die Amerikaner und Briten als Besatzungsmacht ausbrechen wird, die
USA im Irak mehr oder weniger gescheitert sind, und wenn überhaupt
das Land noch "gerettet" werden kann, dann mit völlig neuen
Konzepten, etwa unter Aufsicht der UN und Europas?
A. B.: Im Irak findet kein Volksaufstand statt,
sondern es handelt sich um Terroranschläge und Sabotageaktionen
gegen Iraker. Auch die UN-Hilfsorganisationen sind nicht Amerikaner
oder Besatzer. Al Hakim und SCIRI sind nicht Amerikaner. Al Hakim
ist eine irakische Persönlichkeit, die die Interessen der Schiiten
im Irak vertritt. Anschläge gegen Ölpipelines, Elektrizitätswerke
und Polizeistationen und die Wasserversorgung sind kein Widerstand,
sondern Sabotage. Wir Kurden haben eine lange Tradition des
Widerstandskampfes und wären nie auf die Idee gekommen, etwa
Wasserleitungen zu sprengen. Anhänger des alten Regimes und
islamisch-fundamentalistische Kreise versuchen das Land zu
destabilisieren und so einen demokratischen Wiederaufbau zu
verhindern.
T. v. O.: Was ist dann das Interesse der
Europäer, die Lage so hoffnungslos darzustellen?
A. B.: Man kann von den Europäern nicht als
homogenem Gebilde sprechen. Die Briten, Spanier und Dänen etwa haben
eine andere Position und auch die Russen haben nach der Befreiung
des Irak eine etwas andere Haltung eingenommen. Aber in Deutschland
ist man leider völlig passiv, möchte nicht aktiv werden, indem man
bestimmte Ereignisse übertrieben darstellt. Man will die
Verantwortung nicht tragen.
Das erinnert an die Situation vor dem Krieg, als
man die Befreiung des Irak verhindern wollte, in dem man behauptet
hat, Kriege dienten nicht der Befreiung, ohne andere Alternativen
bieten zu können. Man hat uns durch diese Argumentation
signalisieren wollen, dass wir uns mit dem Regime Saddam Husseins
abfinden müssten, auch wenn nach europäischen Massstäben das Regime
nicht akzeptabel ist. Heute will man durch die übertriebene
Darstellung der Lage einerseits im nachhinein Recht behalten und
sich andererseits am Wiederaufbau unter den gegebenen Möglichkeiten
nicht wirklich beteiligen. Die Deutschen könnten sich - und wir
haben sie darum gebeten - in einer anderen Art und Weise am
Wiederaufbau beteiligen: Weder vor dem Krieg noch heute hat man eine
militärische Beteiligung von ihnen verlangt. Ich persönlich glaube,
die Deutschen beobachten die Lage zwar genau, wollen sich aber nicht
beteiligen. Sollte sich aber die Situation stabilisieren und sich
ein neues System etablieren, dann werden sich die Deutschen als
Freunde der Iraker hinstellen wollen. Und eine solche Position ist
von irakischer Seite nicht einfach hinnehmbar.
T. v. O.: Wie ist denn die Stimmung im Irak
gegenüber Deutschland und Frankreich?
A. B.: Die allgemeine Stimmung ist für die Präsenz
der Koalitionstruppen. Wahrend des Krieges und kurz danach herrschte
in bestimmten Gebieten des Irak, vor allem im Norden und Süden, eine
offen ablehnende Haltung, weil der Eindruck vorherrschte, dass
Deutschland, Frankreich und Russland alles getan hatten, um diesen
Krieg zur Befreiung des Irak zu verhindern. Und die Menschen auf der
Strasse denken nicht besonders differenziert. Die einfachen Menschen
sehen die Amerikaner und Briten als Befreier und die anderen als
Staaten, die bei dieser Befreiung nicht geholfen, ja sogar versucht
haben, sie zu verhindern. Die Anhänger des alten Regimes haben
dagegen in der Haltung Deutschlands ein positives Signal gesehen und
sehen das noch immer.
T. v. O.: Sie leben seit über zwanzig Jahren in
Deutschland und haben die Welle der Kurdistansolidarität Anfang der
neunziger Jahre miterlebt. Nun stießen Sie in den letzten 1 1/2
Jahren vornehmlich auf Ablehnung auch bei denen, die früher die
Sache der Kurden auf ihre Fahnen geschrieben haben. Ich denke da an
Politiker der Grünen etwa, wie Claudia Roth oder Angelika Beer.
A. B.: Es gibt da einen Unterschied zwischen
Europäern und Orientalen. Wir haben schöne Worte und Gesten als eine
Absichtserklärung ver- bzw. missverstanden. Mit der Zeit haben wir
dann verschiedenes verstanden, etwa, dass wir Kurden meistens von
Parteien unterstützt wurden, die in der Opposition waren und als
diese Parteien an die Macht kamen, haben sie ihre Versprechungen
vergessen. Daher haben wir wenig davon, wenn bestimmte Personen oder
Parteien sich als unsere Freunde bezeichnen und wir sie auch als
Freunde betrachten und dann, wenn es darauf ankommt, uns zu helfen -
vor allem wenn man an der Regierung ist und damit konkret die
Möglichkeit hat, uns zu helfen -, wurden wir sehr enttäuscht. Und
seit der Rot-Grünen Regierung erleben wir keine Politik zugunsten
der Kurden. Dies ist vor allem an der Haltung der Regierung
bezüglich des Krieges zu sehen. Die Grünen etwa haben immer erklärt,
dass sie Freunde der Kurden sind, das ist sehr schön, aber solche
Absichtserklärungen helfen uns wenig; man erwartet Taten.
T. v. O.: Und die Linke? In der Vergangenheit
war die Kurdistan-Solidarität ja ein fast klassischer Topos. Nun hat
Berham Saleh, der kurdische Premier, kürzlich gesagt, die Linke
hätte die Kurden unterstützt, als die USA Saddam Hussein
unterstützen, nun da die Kurden mit den Amerikanern alliiert seien,
würde sie sich gegen sie wenden. Wie ist Ihre diesbezügliche
Erfahrung?
A. B.: Berham Saleh hat den Punkt getroffen. Er
wollte damit unsere Ansicht verdeutlichen, dass bestimmte Kreise in
der Linken die Kurden nicht unterstützt haben, weil ihnen unser
Anliegen am Herzen lag, sondern man hat uns aus ideologischen
Gründen unterstützt. Und in dem Augenblick, wo das Thema Kurden
nicht mehr zu dieser antiimperialistischen oder antiamerikanischen
Ideologie passt, lässt man es fallen. Die Kurden waren interessant,
als sie unterdrückt wurden, Opfer waren und von Staaten Repressionen
erlitten, die von den USA und den Europäern unterstützt wurden.
Jetzt, wo vor allem bei den irakischen Kurden, die Lage anders ist,
sieht man uns plötzlich im "Lager der Imperialisten". Das ist
natürlich lächerlich.
T. v. O.: Ein Argument taucht aus diesen
Kreisen immer wieder auf. Da bislang die USA die Kurden immer wieder
fallen gelassen haben, wenn sie sie denn mal unterstützt haben wie
1975 , werden sie sie auch diesmal fallen lassen. Haben Sie keine
Angst, dass sich 1975 wiederholen könnte?
A. B.: Wir sind erstens im Gegensatz zu diesen
Linken reif genug, um zu wissen, dass es nicht nur um Ängste und
Ideologien geht in der Politik, sondern um Interessen. Und die
Beziehungen zu den Amerikanern - aber auch zu vielen europäischen
Staaten - haben sich so weit entwickelt, dass wir inzwischen
diplomatische Beziehungen unterhalten. Damals gab es Kontakte nur
auf der Sicherheitsebene. Zweitens: wir überlassen ja unser
Schicksal nicht den Amerikanern. Wir versuchen auch, unsere
Interessen eben in Zusammenarbeit mit der Koalition durchzusetzen.
Aber es ist eben eine historisch neue Situation eingetreten, weil
wir jetzt grösstenteils die gleichen Interessen wie die Amerikaner
in der Region haben, nämlich die Beseitigung Saddam Husseins und die
Schaffung eines demokratischen Irak. Dies war in den vergangenen
Jahrzehnten anders, aber heute haben wir die Gelegenheit und die
Möglichkeit, und die wollen wir nutzen.
T. v. O.: Die Zusammenarbeit der USA mit der
Türkei liegt aber wohl kaum im Interessen der Kurden. Wie beurteilen
Sie die mögliche Entsendung von türkischen Truppen?
A. B.: Humanitäre Hilfe und Unterstützung beim
Wiederaufbau des Irak durch die Nachbarstaaten sind willkommen und
notwendig. Die Entsendung von Truppen aller Nachbarstaaten in den
Irak, darunter natürlich auch türkische Truppen, würde die
Sicherheitsprobleme im Irak nicht lösen, sondern zusätzliche
Probleme schaffen. Deshalb hat der irakische Regierungsrat sich
gegen die Entsendung von türkischen Truppen in den Irak
ausgesprochen und vor einer Eskalation der Sicherheitsprobleme
gewarnt. Wir sind uns des Dilemmas der amerikanischen Armee bewusst,
die im Zentralirak in den Provinzen al-Anbar und Saleehdin, dem so
genannten Sunnitischen Dreieck, die Hauptlast des selbst erklärten
Widerstandes zu tragen und viele Tote zu beklagen hat. Wir haben den
Amerikanern jede Art der Unterstützung, auch kurdische Truppen,
angeboten, um sie zu entlasten. Bislang wurde auf diese Angebote
nicht zurückgegriffen. Momentan nehmen wir erleichtert wahr, dass
die Amerikaner unsere Bedenken und Einwände sehr ernst nehmen.
Würden sich aber die Europäer nicht derart weigern, sich an der
Schutztruppe für den Irak zu beteiligen, dann wäre die Diskussion um
türkische Truppen nicht so virulent geworden. Das sollte man nicht
vergessen.
T. v. O.: Was wären die nächsten Schritte, die
aus Ihrer Sicht zu einer Stabilisierung des Irak getätigt werden
müssten? Was ist die Hoffnung dabei für die irakischen Kurden?
A. B.: Die Interessen der irakischen Kurden werden
durch die Etablierung eines demokratischen und föderalen Irak
gesichert, und Föderalismus ohne Demokratie ist nicht denkbar. Daher
sind wir der Meinung, dass diese Kombination unseren Interessen am
besten dient. Das heißt aber nicht nur, dass wir unser Gebiet
verwalten werden, sondern auch durch eine aktive Beteiligung an der
Zentralregierung die Kurden repräsentieren und für die Belange des
Irak einsetzen werden. Das tun wir, indem wir Minister stellen - der
neue irakische Außenminister Hoshiar Zebari etwa ist ein Kurde - und
uns aktiv an der Übergangsregierung beteiligen. Wichtigste
Herausforderung für diese neue Übergangsregierung im Irak ist es,
die Sicherheit wieder herzustellen. Die Übertragung dieses Bereiches
an die Iraker ist auch die Schlüssellösung. Die Kurden sollten da
als Vorbild dienen; unsere Sicherheitskräfte sind sehr erfolgreich
bei der Festnahme von Baathisten und Islamisten, und anders als im
Zentralirak herrscht bei uns Ruhe. Niemand muss sich fürchten, wenn
er auf die Strasse geht. Die Amerikaner beschleunigen in der letzten
Zeit diesen Prozess, den wir schon im April als notwendig erachtet
haben. Dann steht der Wiederaufbau der zerstörten Ökonomie und
Infrastruktur an.
T. v. O.: Weist die neue UNO-Resolution in die
richtige Richtung?
A. B.: Wir begrüßen die endlich verabschiedete
neue UN-Resolution. Der irakische Regierungsrat hat sie ebenfalls
begrüßt und ist bereit, einen ungefähren Zeitplan für Verfassung und
Wahlen im Irak vorzulegen. Nur die Diskussion im Sicherheitsrat über
die Resolution hat uns insofern gestört, weil es bei der Debatte
nicht nur um den Irak ging, sondern mehr um die Interessen der
Staaten des Sicherheitsrates. Vor allem den Franzosen, Russen und
Deutschen ging es nicht um die Verbesserung der Sicherheitslage und
den anderen Sorgen der Iraker, sondern mehr um die Durchsetzung
eigener Ideen, ohne mit Irakern bzw. mit dem irakischen
Regierungsrat darüber zu beraten. Der neue Außenminister Hoshiar
Zebary hat völlig recht, wenn er beklagt, dass niemand die Deutschen
und Franzosen gebeten hat, sich plötzlich "irakischer als die
Iraker" aufzuführen. Anders als Deutschland und Frankreich tauschen
die USA und England ihre Ideen zumindest mit dem irakischen
Regierungsrat im Vorfeld von solchen Debatten aus und beteiligen die
Iraker so am Entscheidungsfindungsprozess.
T. v. O.: Nun gelten vielen die seit 1991
selbst verwalteten kurdischen Gebiete als eine Art Vorbild für den
Irak. Glauben Sie, der ganze Irak wird sich so entwickeln?
A. B.: Sicherlich kann der ganze Irak ein solches
Niveau erreichen, sogar ein höheres. Denn die kurdischen Gebiete
waren durch die systematische Vernichtungspolitik des Saddam-Regimes
völlig zerstört. Gesellschaftlich und ökonomisch war Kurdistan
deshalb sehr rückständig und im Vergleich zu der Situation in Bagdad
oder Mosul vernachlässigt. Wenn es also unter solchen Umständen den
Kurden - ohne internationale Anerkennung! - gelingt, gewisse
demokratische und zivilgesellschaftliche Strukturen zu etablieren,
dann sind wir hundertprozentig sicher, dass die Bevölkerung in
Bagdad und anderen Gebieten Iraks dazu nicht nur in der Lage ist,
sondern es sogar besser machen kann.
T. v. O.: In letzter Zeit wird immer wieder die
Befürchtung geäußert, auch im Irak könne sich der Islamismus
ausbreiten. Die arabischen Nachbarländer des Irak ebenso wie der
Iran haben keinerlei Interesse, dass sich der Irak positiv
entwickelt und unterstützen direkt oder indirekt die verschiedenen
Gruppierungen, die gegen die Amerikaner im Irak kämpfen. Ist also
eine positive Entwicklung im Irak überhaupt möglich, ohne dass sich
die Nachbarn des Irak auch radikal verändern?
A. B.: Sicher versuchen unsere Nachbarn, ihre
Interessen durchzusetzen. Und wir müssen versuchen, dagegen die
Interessen Iraks zu vertreten und für die Sicherheit unserer
Bevölkerung zu kämpfen. Der Islamismus - und ich meine den
fundamentalistischen terroristischen Islamismus - ist ja ein nicht
nur im Irak virulentes Problem, sondern dieses Problem existiert in
der gesamten islamischen Welt und auch in Europa und Deutschland
gibt es eine solche Bewegung, etwa Metin Kaplan. Es handelt sich um
ein globales Problem. Wir glauben nicht, dass sich im Irak ein
größeres Problem mit dem Islamismus entwickelt. Aber was man hier
nicht versteht: die Brutalität des Saddam-Regimes verbot jede Form
der freien Meinungsäußerung. Jetzt herrscht im Irak
Meinungsfreiheit. Man kann sagen: ich bin Nationalist, Kommunist,
Islamist oder Demokrat. Deshalb hört man auch plötzlich
islamistische Stimmen aus dem Irak. Aber unserer Erfahrung zufolge
ist die Mehrheit der Iraker nicht für extremistische religiöse
Parolen zu erwärmen. Das werden Minderheitspositionen bleiben.
T. v. O.: Man hatte ja den Krieg mit der
Existenz von Massenvernichtungswaffen im Irak legitimiert. Bislang
wurde nichts gefunden. Sowohl in den USA als auch in Europa löste
dies Diskussionen aus. Spielen diese Diskussionen im Irak eine
wichtige Rolle?
A. B.: Zunächst: Der Irak hat über
Massenvernichtungswaffen verfügt und diese eingesetzt. Im
Iran-Irak-Krieg wurden chemische Waffen gegen die Iraner eingesetzt.
Ich war damals, Anfang der achtziger Jahre, noch im Irak. Jede
Stunde mussten wir Fernsehbilder von im Gas gestorbenen Iranern
sehen. Die Lieferung von Know-How, vor allem von bundesdeutschen
Firmen, sind ja durch entsprechende Gerichtsurteile aktenkundig. Der
Einsatz von chemischen Waffen gegen die eigene Bevölkerung, vor
allem gegen die Kurden bei der Anfal-Kampagne und in Halabja, sind
weitere Belege, die man nur schwer verleugnen kann. Und die Struktur
des Baath-Regimes selbst ist ein Hinweis darauf, dass dieses Regime
bereit war, die Bevölkerung und das ganze Land aufs Spiel zu setzen,
um seine Macht zu behalten. Für uns aber spielen die Massengräber
und die Bilder aus den befreiten Gefängnissen eine weit größere
Rolle. Denn für die Iraker ist die Frage nach den
Massenvernichtungswaffen nicht von zentraler Wichtigkeit; wir haben
den Sturz Saddam Husseins aus anderen Gründen gefordert. Ich bin der
Meinung die Debatte um die Massenvernichtungswaffen war nur ein
Ausdruck machtpolitischer Spiele. Die Amerikaner wollten Saddam
Hussein stürzen; für uns war das die lang ersehnte Befreiung von
diesem Regime und wir sind den Amerikanern dafür dankbar. Die
Länder, die uns nicht geholfen haben, werden vielleicht weiter
argumentieren, dass bislang keine Massenvernichtungswaffen gefunden
wurden und deshalb der Krieg nicht gerechtfertigt war. Dies heißt
für uns: wir sollten ihrer Ansicht nach weiter unter Saddam Hussein
leben. Das mag im Ausland eine Option sein. Im Irak ist es das
nicht.
Thomas von der Osten-Sacken ist
Mitarbeiter der im Irak tätigen Hilfsorganisation WADI e.V. und
Mitherausgeber des Buches "Saddam Husseins letztes Gefecht? Der
lange Weg in den III. Golfkrieg", Hamburg 2002
Interview erschienen in Risse
Nr. 6
hagalil.com
18-11-2003 |