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Israels Sicht der Dinge:
Krieg und Erinnerung
Leitartikel Ha'aretz, 12.02.2003
Übersetzung Daniela Marcus
Diejenigen Israelis, die diese Woche erlebt
haben, dass Frankreich seinen Verpflichtungen als NATO-Mitglied
nicht nachkam, werden sich schwer tun, nicht an die düsteren Tage
des Wartens vor dem 1967er-Krieg zu denken und daran, auf welch
zynische Art Frankreich Israel damals im Stich gelassen hat. Ältere
Menschen werden sich an die 1930er Jahre erinnern und an die
Unfähigkeit aufgeklärter Nationen, zwischen der begründeten
Verschiebung einer Stunde der Entscheidung und der Besänftigung
eines machthungrigen Diktators zu unterscheiden.
Es scheint, dass man in Paris nichts aus dieser
trostlosen Zeit gelernt hat und auch nicht aus den düsteren Jahren,
die folgten. Amerikas Bereitschaft, Europa zweimal kurz
hintereinander zu retten und den zertrampelten Stolz Frankreichs
wieder aufzurichten, ist anscheinend vergessen. Chirac’s pathetische
Aussage nach dem 11. September -"Wir sind alle Amerikaner"-
offenbart sich als scheinheilige Theatralik, die in nationalen
Ambitionen, vermischt mit wirtschaftlichem Opportunismus, dahin
schwindet.
Natürlich müsste angesichts der großen Anzahl
muslimischer Immigranten in Frankreich auch ein französischer
Führer, der rechtschaffener ist als Chirac, die Schritte, die sein
Land in der Irakkrise geht, behutsam und klug abwägen.
Doch genau daran werden Führungsqualitäten in
westlichen, demokratischen, pluralistischen Ländern gemessen. Der
französische Präsident muss in dieser Sache etwas von Tony Blair
lernen. Und der deutsche Kanzler Gerhard Schröder ebenfalls.
Berlin -Verbündeter von Paris in der
de-facto-Demontage des NATO-Bündnisses (was übrigens ein undankbarer
und kurzsichtiger Schritt ist)-, hat eine Art von postmoderner
politischer Doktrin entwickelt, die jeden Krieg als Verbrechen
betrachtet.
Man sagt dort, dass dies das Vermächtnis der
schrecklichen Jahre Mitte des letzten Jahrhunderts sei.
Doch während des Kalten Krieges, der sich Hitlers
Krieg anschloss, wurde die Armee Westdeutschlands zurecht als für
die Tat gut vorbereitetes Hauptelement der westlichen Verteidigung
gegen die Sowjetmächte betrachtet.
Wäre die deutsche Armee damals gebraucht worden,
hätten ihre Soldaten Schulter an Schulter mit Zehntausenden von
amerikanischen und britischen Truppen gekämpft, die dort stationiert
waren, um das freie Europa zu schützen. Vermutlich ist es inzwischen
so, dass die Tage dieser Armee, die den Frieden schützen sollte,
gezählt sind, selbst dann, wenn der Bruch zwischen Frankreich,
Deutschland und Belgien auf der einen Seite und den Amerikanern und
dem Großteil der westlichen Länder auf der anderen Seite irgendwie
vertuscht werden könnte.
Im politischen Fundament, auf dem globale
strategische Stabilität mehr als fünfzig Jahre lang aufgebaut war,
zeigen sich Risse.
Der kommende Freitag scheint nun ein Tag der
dramatischen Prüfung zu werden.
Wenn Frankreich es wagt, im Sicherheitsrat sein
Veto gegen den amerikanisch-britischen Vorschlag einzulegen, wird
nicht nur die NATO, sondern auch die UNO irrelevant werden.
Doch selbst wenn Paris stehen bleibt, bevor es die
letzte rote Linie überschreitet, wird der Schaden, der bereits
entstanden ist, nicht einfach zu reparieren sein.
Die Auswirkungen des Konflikts unter den
westlichen Ländern werden bei den Mitgliedern der EU und bei den
Kandidaten für eine Mitgliedschaft schmerzlich zu spüren sein. Die
Ambitionen der EU, ihre eigene, uniforme Außenpolitik zu gestalten,
wird man zu den Akten legen können. Von Frankreich angeführte
europäische Bestrebungen, eine diplomatische Hauptrolle in Nahost zu
spielen –z. B. im Rahmen des Nahostfriedens"quartetts"- werden sich
in der neuen Weltordnung vor unseren Augen zu einem Anachronismus
entwickeln.
hagalil.com
12-02-2003 |