Von Thomas Uwer und Thomas von der Osten-Sacken
Jungle World, 24. 12. 2002
Gleich zwei historische Reden zum kommenden Irakkrieg hatte
die vergangene Woche zu bieten, die in Deutschland wenig beachtet
wurden. Die erste stammte von Ahmed Chalabi, dem Präsidenten des
Irakischen Nationalkongresses (INC). Er stellte auf der Londoner
Konferenz der irakischen Opposition, die am Dienstag der vergangenen
Woche beendet wurde, das Interimsprogramm zur demokratischen
Neuordnung des Landes nach dem Sturz Saddam Husseins vor.
350 Vertreter der irakischen Opposition, Mitglieder von rund 50
Parteien sowie Menschenrechtsorganisationen und unabhängige
Exiliraker hatten sich zusammengefunden, um eine gemeinsame
Plattform zu erarbeiten. Sie bildeten ein Übergangsgremium, das an
einem Entwurf für eine künftige Verfassung sowie an konkreten
Vorschlägen zur Bildung einer Interimsregierung arbeiten wird. "Eine
historische Chance tut sich auf", hieß es in einem von irakischen
Intellektuellen und Politikern bereits vor der Konferenz
erarbeiteten Papier, "von einer Bedeutung, die alles übertrifft, was
im Nahen Osten seit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches und
dem Einmarsch britischer Truppen in den Irak im Jahr 1917 geschah."
Die zweite Rede über den Irak hielt Heidemarie Wieczorek-Zeul,
die Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit, am Montag
der vergangenen Woche auf einer Irak-Konferenz der
Friedrich-Ebert-Stiftung im Deutschen Bundestag. Sie erklärte, dass
einzig die Bekämpfung von Armut geeignet sei, gegen den Terror
vorzugehen, beklagte das Fehlen "funktionsfähiger gesellschaftlicher
Dialogstrukturen" und die Gefahr, "bestehende Brücken" könnten
"einstürzen".
Wo Brücken bestehen oder vielmehr wo nicht, darüber gab weniger
Wieczorek-Zeul als vielmehr die Zusammensetzung des Podiums
Auskunft. Kein einziger Exiliraker, von der Opposition ganz zu
schweigen, war zu der Expertenrunde geladen. Historisch war diese
Veranstaltung nur, weil sie das Versagen der deutschen Politik vor
dem angekündigten Umsturz dokumentiert, während gleichzeitig der
irakische Rüstungsreport offen legte, wie der Dialog in der
Vergangenheit geführt wurde. Mehr als 80 deutsche Firmen nennt der
Bericht, die an der Aufrüstung des Irak beteiligt waren (siehe auch
Seite 9).
Die Konferenzteilnehmer in London dürfte das genauso wenig
gewundert haben wie die Nennung US-amerikanischer Firmen, die mit
Unterstützung ihrer Regierung militärisches Material lieferten. Doch
während die Bundesregierung und die Opposition in Deutschland am
Status Quo eines von diktatorischen Regimes regierten und von
islamistischen Terroristen destabilisierten arabischen Nahen Ostens
festhalten und weiter einen "konstruktiven Dialog" mit den Eliten
führen, macht sich die irakische Opposition daran, den von der
US-Regierung propagierten regime change ernst zu nehmen und sich der
verhassten Diktatur zu entledigen.
Ihr Ziel, einen demokratischen Nationalstaat Irak zu schaffen, an
dem Kurden, Araber und andere Bevölkerungsgruppen gleichermaßen
partizipieren, ist in der Tat historisch zu nennen. Nicht weniger
als die ideologische Prämisse der Herrschaft in den arabischen
Staaten des Nahen Ostens wurde in London, lange bevor ein Krieg
wirklich stattgefunden hat, verworfen: dass ein grundlegender Wandel
zu einer Besserung der Lebensverhältnisse nicht im Land selbst,
sondern nur durch die Überwindung äußerer Bevormundung, den Sieg
über fremde Interessen und die Wiederherstellung arabischer oder
islamischer Einheit erreicht werden könne.
Besserung trete nur ein, so das vor der Konferenz verfasste
Papier von irakischen Intellektuellen um den Schriftsteller Kanan
Makiya, wenn sich der Irak selbst grundlegend demokratisiere. Der
irakische Staat, erklärte Ahmed Jalabi in London, habe
unermessliches Leid über Menschen gebracht, weil sie einer nicht
arabischen Minderheit angehörten. Ein künftiger Irak werde ihnen
wieder die vollen Staatsbürgerrechte anbieten. Explizit schloss er
dabei nicht nur die in den vergangenen Jahrzehnten systematisch
vertriebenen Kurden und Schiiten, sondern auch die im Irak
verfolgten Juden ein.
Die irakische Opposition, der bislang vor allem Zerstrittenheit
bescheinigt wurde, hat sich gemeinsam zur Einheit des irakischen
Nationalstaates bekannt. Nicht die Freiheit der Araber oder der
Kurden, sondern die Befreiung von der diktatorischen Herrschaft im
Irak haben die in London vertretenen Parteien als Ziel formuliert.
Ein künftiger Irak, so der Beschluss der Konferenz, solle kein
"arabischer", sondern ein föderaler Staat sein. Die irakische
Opposition, der bis zum 11. September 2001 wenig Aufmerksamkeit
zuteil wurde, steht dabei auch unter dem Druck der USA, die
ankündigten, Saddam notfalls auch ohne irakische Alliierte zu
stürzen. Lange zögerten die beiden Kurdenparteien, sich dem von den
USA forcierten Prozess anzuschließen. Einen militärischen Sturz
Saddam Husseins ohne eine politische Neuordnung des Landes lehnen
sie strikt ab. Dass diese Neuordnung die nationale Einheit
erfordert, darüber sind sich die Parteivorsitzenden Massud Barzani
(KDP) und Jalal Talabani (PUK) einig, die beide an dem in London
gegründeten Übergangsrat teilnehmen.
Hinter den Kulissen wurde jedoch auch ein harter Kampf um die
Posten innerhalb des Übergangsgremiums geführt, das Mitte Januar im
Nordirak zusammenkommen soll. Gegen den ursprünglich geplanten
Parteienproporz haben sich parteilose Exiliraker durchsetzen können,
die nun ebenfalls beteiligt sein werden. Enttäuscht zeigten sich
dagegen vor allem die zur Opposition übergelaufenen Offiziere um den
ehemaligen Generalstabschef Nizar al-Khazraji, deren Vorschlag eines
Militärputsches von der Konferenz strikt abgelehnt wurde. Die
islamistische Dawa Partei sowie die irakische KP lehnten die
Beschlüsse grundsätzlich ab. Vor allem die irakischen Kommunisten
verweisen auf die Gefahr eines Krieges und betonen ihr Misstrauen
gegenüber den US-Amerikanern.
Während dieser Krieg täglich näher rückt, bleibt das zu
erwartende Szenario weiterhin unklar. US-amerikanische Quellen
warnen erneut vor einem Angriff auf Israel und der Gefahr, dass
Gruppen wie die libanesische Hizbollah die Gunst der Stunde nutzen
könnten, um einen Mehrfrontenkrieg gegen den jüdischen Staat zu
eröffnen. Ob sich unter diesen Bedingungen die Hoffnung der Iraker
auf einen schnellen Sturz des Regimes und eine demokratische
Regierung erfüllen wird, bleibt nach wie vor fraglich.
Erstmals aber hat sich eine arabische Opposition zu einem
westlichen Staatsmodell bekannt und zugleich auf die Benennung eines
Führers verzichtet. Die Feindschaft, die ihr bereits jetzt
entgegenschlägt, legt nahe, wie sehr sie an das Selbstverständnis
nahöstlicher Politik rührt. Die islamistische Hizb ut-Tahrir
beispielsweise prangert sie als Büttel der "Kolonialisten" an und
verwirft den irakischen Nationalismus als unislamisch, der
nationalistische palästinensische Intellektuelle Edward Said zählt
Kanan Makiya zu den "zynischen antiarabischen Falken".
Was sie befürchten, erscheint anderen als Hoffnung. In der
arabischen Tageszeitung al-Hayat erklärte Hazem Saghiyeh, ein neues
Kapitel in der Geschichte des Nahen Ostens sei aufgeschlagen.
Während noch niemand weiß, wie dieses Kapitel enden wird, scheint
doch allen klar, dass Saddam Hussein darin keine Rolle mehr spielt.
Einzig im Deutschen Bundestag wird noch von alten "Brücken" nach
Nahost geträumt.