In einem ausführlichen Artikel über die Grenzen und Möglichkeiten
einer Föderalisierung des Iraks nach einem möglichen Wechsel des Regimes
Saddam Husseins reagiert Kanan Makiya auf verschiedene Kritiken, die an
dem von ihm mitverfassten Dokument 'Transition to Democracy' geäußert
wurde. Dieses Dokument gehörte zu den zentralen Vorstellungen, die auf
der Konferenz irakischer Oppositioneller im Dezember letzten Jahres in
London diskutiert wurden. In seiner Erwiderung konkretisiert Makiya den
von ihm geprägten Begriff eines 'non-Arab Iraq', der in weiten Teilen
der arabischen Öffentlichkeit auf scharfe Ablehnung gestoßen ist. Makiya
geht es nach eigener Darstellung darum, mit einer föderalen Konzeption,
die den 'mosaikhaften Charakter des Iraks' bewahre, eine staatliche
Struktur zu entwerfen, in denen individuelle Rechte gegenüber
Gruppenrechten im Vordergrund stehen.
Der Text, der am 14. Januar 2003 in der arabischsprachigen Londoner
Tageszeitung al-Hayat erschienen ist, bezieht sich unmittelbar auf einen
Artikel von Hasan Mneimneh, ist aber als allgemeine Erwiderung auf seine
Kritiker zu verstehen. Das Dokument "Transition to Democracy" ist auf
Wunsch als pdf-Datei über
memri@memri.de erhältlich. (1)
"Warum ich glaube, fragte Hasan Mneimneh in seinem wichtigen Artikel in
al-Hayat vom 29. Dezember 2002, dass ein föderales System die beste
Lösung für die Probleme des irakischen Staates darstelle. Schließlich
gäbe es andere Wege, einen Staat zu dezentralisieren, und immer, wenn
sich ein zuvor zentralistischer Staat versuchte, den Übergang zu einem
föderalen Staat zu schaffen, scheiterte das Experiment (Sowjetunion,
Ex-Jugoslawien, Tschechoslowakei). Föderalismus funktioniert am besten,
wenn es darum geht, bereits bestehende Teile zu einem größeren Ganzen
zusammenzufügen (USA, Schweiz und die Vereinigten Arabischen Emirate) -
aber nicht, wenn es um die Dezentralisierung eines bereits bestehenden
Ganzen geht. Hasan Mneimneh hat Recht. Die Argumente, die er vorbringt,
stellen die größte Herausforderung für die Idee des Föderalismus im Irak
dar, wie sie zuerst vom Irakischen Nationalkongress in Salahaldin 1992
beschlossen wurde. Die Risiken eines föderalen Zuganges zu den Problemen
des Iraks sind in der Tat sehr groß, und wir Iraker müssen uns weiter
Gedanken machen, um die verschiedenen Fallen zu umgehen, auf die Mneimeh
hingewiesen hat. Es gibt nur ein gutes Argument dafür zu versuchen, die
Idee des Föderalismus an die irakischen Verhältnisse in einer Zeit nach
Saddam anzupassen: um die kurdische Bevölkerung als Iraker im Irak zu
halten, als Iraker, und nicht als eine Bevölkerungsgruppe, die aufgrund
ihrer Geschichte nach Abspaltung und nach einem eigenen Staat strebt.
[...]
Föderalismus ist in meinen Augen (und ich kann nicht für andere
sprechen) kein Synonym für Spaltung und Schwäche. Sollte es gelingen,
ihn im Irak zu etablieren, dann sollte er einen Faktor der Einheit und
der Stärke darstellen. Alles andere wäre nicht akzeptabel und sollte von
jedem reflektierten Iraker bekämpft werden. Ich würde sogar noch weiter
gehen und den Föderalismus ins Zentrum einer völlig neuen Vision für die
Zukunft des irakischen Staates stellen. In meiner Rede auf der Konferenz
der irakischen Opposition und im Bericht ,Transition to Democracy in
Iraq', an dem ich mitwirkte, erklärte ich: Föderalismus ist der Beginn
der Demokratie im Irak. Er ist der erste Schritt zu einem Staatssystem,
das auf dem Prinzip gründet, die Rechte eines Teils [der Gesellschaft],
einer Minderheit, niemals dem Willen der Mehrheit opfern zu dürfen. Die
fundamentalen Menschenrechte eines Teils - sei dies ein einzelner Mensch
oder ein Kollektiv von Menschen, die eine andere Sprache sprechen und
ihre eigene Kultur haben - dürfen vom Staat nicht verletzt werden. Beim
Föderalismus geht es um die Rechte der kollektiven Teilgesellschaften,
die das Mosaik der irakischen Gesellschaft bilden. Das Wesen einer
föderalen Demokratie ist nicht die Herrschaft der Mehrheit. Das Wesen
der föderalen Demokratie besteht aus den Rechten der Minderheiten oder
den Rechten der Teilgesellschaften, einschließlich der Rechte des
Einzelnen. Zweifellos werden einige, die dies lesen, sagen, ich sei
hoffnungslos idealistisch. Dagegen ist nichts einzuwenden. Ich
akzeptiere diese Kritik, wenn sie ernst gemeint ist. Ich akzeptiere sie,
da wir Iraker in diesen Tagen Ideale und Träume ganz besonders nötig
haben. Ohne Träume kann man kein neues Land aus den Baumaterialien
aufbauen, die uns Saddam Hussein zurückgelassen hat. Der Irak steht vor
einem Neubeginn. Wir werden bald eine neue Seite in unserer Geschichte
aufschlagen. Vielleicht sind wir sogar die Vorhut eines Neubeginns für
alle Völker des Nahen Ostens, die heute in einem aus der Kontrolle
geratenen Kreislauf von Gewalt und Vergeltung gefangen sind. Ein Land,
das so wie der Irak gepeinigt ist, braucht eine Portion Idealismus, die
groß genug ist, damit die eigene Bevölkerung wieder an sich glauben
kann. Ohne den Glauben an unsere eigene einzigartige irakische
Fähigkeit, über unsere Vergangenheit hinauszuwachsen, wird die bald
aufgeschlagene neue Seite, ob wir es wollen oder nicht, genauso schwarz,
wenn nicht sogar schwärzer als die vorherige sein. Dessen bin ich mir
sicher, wie idealistisch und utopisch ich auch in anderen Dingen sein
mag. Meine Arbeit der letzten Jahre über die Zukunft des Iraks hat sich
mit den Rahmenbedingungen für einen solchen Neubeginn beschäftigt. Ich
versuche, eine Vorstellung des Iraks auf praktische und innovative Weise
wieder zu beleben, die diese Einheit in der Vielfalt bewahrt, welche ich
als fast zeitloses Wesen des Iraks betrachte, und welche unter allen
Umständen bewahrt werden muss. Ich bin auf der Suche nach einer
positiven politischen Idee, in die wir Iraker uns noch einmal verlieben
können. Solch eine Idee darf nicht nostalgisch auf die Tage der
Monarchie oder auf die noch weiter zurückliegenden goldenen Jahre des
Osmanischen Reichs oder der Zeit der Abbasiden in Bagdad zurückblicken.
Noch viel weniger kann eine solche Vorstellung in einer Nostalgie für
die alten assyrischen oder babylonischen Reiche gründen, auch wenn es im
Irak immer Gemeinden geben wird, die diese Abschnitte der irakischen
Vergangenheit über alle anderen stellen werden. Diese Reiche sind
Vorläufer, auf die wir aufbauen müssen, unseren Blick auf die Zukunft zu
unseren Träumen gerichtet, nicht auf unsere Vergangenheit. Was ist der
Irak? Es gibt jene, die den Irak nur als ein seltsam geformtes Land
betrachten, das von den Großmächten vor einem Jahrhundert oder so
zusammengeschustert wurde. Dem stimme ich nicht zu. Der Irak ist eine
Idee, die das Potential hat, uns wieder aufzurichten und uns politisch
gesehen voranzutreiben. Wir müssen eine Idee des Iraks wieder entdecken,
in der der Irak als Quelle der Einigkeit und Einheit vieler
verschiedener Völker, Religionen und Nationalitäten dient. Sicherlich,
diese Idee existierte einst sehr rege und lebendig unter den Männern und
Frauen der Generation meines Vaters. Aber meine Generation schob sie
beiseite. Wir, die wir an den einen oder anderen Nationalismus, an
Sozialismus oder Marxismus und seit Kurzem auch an den politischen Islam
glaubten. Dies sind die großen Ideologien, die die Bedeutung der Idee
des Iraks so schwerwiegend zerstörten und beeinträchtigten. Mit ihrem
schrecklichen Werk in den 60er und 70er Jahren säten sie den Samen für
die Atmosphäre der Abgeschlossenheit, unter der die jüngste Konferenz
der irakischen Opposition im Dezember stattfand. Über diesen schädlichen
,Ismen' ragen der Nationalismus und religiöses Sektierertum, egal, ob in
Gestalt der Ba'th Partei oder in der jüngsten Zeit in Form seiner
kurdischen, turkmenischen und assyrischen nationalistischen
Entsprechungen. Nationalismus ist die große Plage unserer Welt. Er ist
die politische Kraft, die am meisten für den rückwärtsgerichteten
Zustand der Region verantwortlich ist. Wenn wir zulassen, dass
irgendeine Art von Nationalismus oder religiösem Sektierertum den neuen
föderalen Irak bestimmt, dann sind Hasan Mneimneh Befürchtungen und
Ängste tatsächlich begründet und könnten sogar die Grundlage für eine
noch schwärzere Seite als die vorherige in der Geschichte des Iraks
werden. Ein Föderalismus im Irak darf sich, wenn er funktionieren soll,
in keiner Weise dem Nationalismus oder dem religiösen Sektierertum
verpflichten. Er kann nur auf der Grundlage entstehen, dass die Idee
einer ,Iraquiness' des Iraks über alle Nationalismen und religiösen
Sektierertums gestellt wird. Nur auf diesem Weg wird es uns gelingen,
das tödliche Erbe der Ba'th Partei wirklich hinter uns zu lassen,
welches in Gestalt von wetteifernden arabischen, kurdischen,
turkmenischen und assyrischen Nationalismen oder in der Form von
religiösem Sektierertum den Irak selbst noch nach dem Abtritt von Saddam
Hussein zerstören könnte.
Aus diesen Überlegungen ergeben sich folgende Beobachtungen für einen
Föderalismus im Irak:
Erstens: Kein Iraker sollte jemals wieder auf den Gedanken kommen,
Gewalt anzuwenden, um die Kurden im Irak zu halten. Dieser Weg wurde
bereits beschritten und bis zum ultimativen Extrem des Völkermords in
den Anfal-Kampagnen getrieben. Es funktionierte trotz allem nicht.
Politische Überzeugung ist die einzige Alternative zur Gewalt.
Zweitens: Es kann kein föderales System im Irak auf der Grundlage der
gegenwärtigen Situation Irakisch-Kurdistans aufgebaut werden. Die
heutigen Grenzen, die durch die willkürliche Festlegung der Schutzzonen
von 1991 und durch die Vereinbarungen zwischen der KDP, der PUK und dem
irakischen Regime entstanden sind, sind vorübergehende Festlegungen, die
auf der Grundlage rationaler und strikt administrativer Überlegungen
genauso wie die Aufteilungen des restlichen Iraks überdacht werden
müssen. Dies mit dem Ziel, dass ethnische Zugehörigkeit nicht zur
Grundlage einer territorialen Aufteilung werde.
Drittens: Die kurdische Milizen, die Peschmerga, werden einer
Entwaffnung während der Übergangszeit als Teil eines Gesamtpakets
zusammen mit der Umgestaltung der gesamten Sicherheitsstrukturen im
neuen irakischen Staat zustimmen müssen. Die Entwaffnung muss von den
kurdischen Organisationen selbst geregelt werden. (Ansonsten bestünde
die Gefahr, dass die Amerikaner oder die Türken sie mit Gewalt
durchführen, und das wäre eine Katastrophe. Und selbstverständlich
dürfen irakische Araber angesichts der schrecklichen Geschichte des
kurdischen Leides unter der Ba'th Partei nicht an der Entwaffnung
beteiligt sein.)
Viertens: An der Erhaltung von Recht und Ordnung in einem zukünftigen
föderalen Staat müssen lokale Behörden in den Regionen beteiligt sein
(diese Behörden müssen in Regionen, in denen Kurden überwiegen,
natürlich mehrheitlich kurdisch sein). Zudem muss es eine übergreifende
irakische Bundesbehörde geben, der es gestattet ist, in den einzelnen
Regionen gegen gewisse verfassungsrechtlich festgelegte kriminelle
Aktivitäten vorzugehen.
Fünftens: Ein zukünftiges föderales System muss auf völlig offenen
Grenzen zwischen den Regionen beruhen, ohne Grenzübergänge und mit
völliger Bewegungsfreiheit für Menschen und Kapital. Die verschiedenen
Landesparlamente sollten keine Autorität haben, Gesetze zu erlassen, die
Eigentum behindern oder die Bewegungsfreiheit von Kapital und Menschen
zwischen den Regionen einschränken.
Dies, so scheint mir, sind die minimalen Grundregeln, um einen
Föderalismus im Irak aufzubauen. Viele andere Details sind in dem
Dokument ,Transition to Democracy' weiter ausgeführt, das bis jetzt der
einzige durchdachte, wenn auch unvollkommene Plan für einen zukünftigen
irakischen Staat darstellt. Was zurzeit schmerzlich fehlt ist ein Dialog
zwischen kurdischen Experten und Professionellen, die auf Veranlassung
ihrer Parteien einen Entwurf für eine Verfassung ausgearbeitet haben und
den Autoren des ,Transition to Democracy'-Dokuments. Solch ein Dialog
könnte meines Erachtens einen großen Schritt hin zu einer gemeinsamen
gesamt-irakischen Haltung bezüglich des Föderalismus bedeuten. Die
Konsequenzen wären für uns Iraker unter diesen speziellen politischen
Umständen auf internationaler Ebene eindeutig positiv.
Es bleibt ein letzter Punkt, auf den ich gerne als Antwort auf Hasan
Mneimneh und andere weniger verantwortungsvolle Kritiker eingehen
möchte. Er betrifft die vielfach missverstandene Idee eines
,nicht-arabischen Iraks', für die ich mich in einer Rede beim American
Enterprise Institut eingesetzt habe. Der Nationalismus, dem ich die
meisten Krankheiten des arabischen Nahen Ostens zuschreibe, ist der, den
Hannah Arendt in ihrer Analyse über den Totalitarismus als ,tribal
nationalism' beschrieben hat. Dabei handelt es sich sicherlich nicht um
,Heimatliebe' oder Liebe zum Staat, den wir Patriotismus nennen. Unter
den sehr konkreten Bedingungen des heutigen zersplitterten Iraks lobe
ich den Patriotismus, wohingegen ich alle politischen Erscheinungsformen
des ersten Nationalismus fürchte, da sie die Integrität des Iraks
letztlich, so wie ich sie sehe, als Idee und als Land zerstören. Der
Unterschied zwischen diesen beiden Nationalismen besteht darin, dass
sich der ,tribal nationalism' als Gefühl auf ein noch nicht bestehendes,
konkretes Gebilde bezieht (und trifft deshalb auf den kurdischen
Nationalismus generell genauso zu wie auf den arabischen Nationalismus).
Patriotismus geht von einem bereits bestehenden Gebilde aus, in diesem
Fall der Irak, dem gegenüber man sich auf eine besondere und in erster
Linie politischer Art loyal fühlt. Auf persönlicher Ebene bedeutet dies:
Hinsichtlich aller politischen Fragen, meiner Rechte und meiner
Verpflichtungen als Staatsbürger des zukünftigen irakischen Staates,
möchte ich zuerst und zuallererst und allein als Iraker angesehen
werden. Hinsichtlich meiner Kultur aber, meines Hintergrund und meiner
gesamten moralischen und ethischen Erziehung zu einem menschlichen Wesen
(welche für mich als Person weitaus wichtiger sind), bin ich immer ein
Araber schiitisch-muslimischer Herkunft, der durch Zufall für lange Zeit
im Westen lebte und viele westliche Ideen absorbiert hat. Wenn man diese
Selbstwahrnehmung politisch betrachtet, wäre dies ein Argument für die
zentrale Rolle der irakischen Idee in der Politik. Aber dies bedeutet in
keiner Weise, dass ich mein Arabischsein oder meine muslimische Herkunft
abschwäche. Tatsächlich bestärkt es die Bedeutung dieser Aspekte für
meine moralische und spirituelle Erziehung zu einem menschlichen Wesen.
Politik ist nur eine kleine Komponente in dem, was wir sind. Politik von
anderen Dimensionen der Identität und Persönlichkeit zu trennen, ist
eine notwendige und gute Sache. Nur Totalitaristen weigern sich, diese
Trennung zu machen. Als ich während der letzten Konferenz der irakischen
Opposition bemerkte, dass sich nicht die Araber, sondern die Kurden am
meisten gegen die Formulierung eines ,nicht-arabischen Iraks'
aussprachen, war ich offen gesagt bis ins Mark erschüttert. Diese Idee
zielt darauf, die Entwicklung einer nicht-ethnischen Vorstellung eines
Föderalismus im Irak zu erleichtern. Aber wie sich herausstellte, sind
die größten Verteidiger des Ethnischen als Grundlage für einen
Föderalismus scheinbar gerade die kurdischen Organisationen, von denen
ich gehofft hatte, sie in einen Dialog über die zukünftige Form eines
irakischen Staates zu verwickeln. Ich denke immer noch über die
Konsequenzen dieser Situation nach und gedenke, dies zusammen mit der
kurdischen Führung während des anstehenden Besuchs des
Koordinierungskomitees der irakischen Opposition in Erbil, an dem ich
teilnehmen werde, weiter auszuloten."
(1) Die Übersetzung basiert auf der englischen Version des Artikels,
die von al-Hayat zur Verfügung gestellt wird. Sie unterscheidet sich in
einzelnen Formulierungen geringfügig von der arabischen Version.
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