Fazit des Krieges:
Progressive Overthrow
Weil die Katastrophe im Irak
ausgeblieben ist, befindet sich Deutschland auf der Flucht vor der
Realität
Von Thomas Uwer
Ein Termin im Ministerium für Zusammenarbeit,
anwesend die Ministerin, die Experten sowie ein Entwicklungshelfer
als Protokollant, der folgendes zu Papier bringt. "Fazit der Runde:
Der Krieg hat mehr Probleme geschaffen als er gelöst hat. …
Deutschland wird sich an der humanitären Hilfe für den Irak
beteiligen, sich mit Blick auf weitergehende Wiederaufbauleistungen
jedoch zurück halten. Mit der Frage der Aufhebung der Sanktionen
sollte klug umgegangen werden. Nichts tun, was den nicht
legitimierten Krieg nachträglich gutheißen könnte… Wichtig ist, dass
das Öl im Besitz des irakischen Volkes bleibt. Wer freilich das Volk
ist …, ist noch nicht klar erkennbar." Noch prägnanter läßt sich die
deutsche Haltung zum Irak nach dem Sturz Saddam Husseins nicht
zusammenfassen.
Seit am 9. April in Bagdad die Statuen fielen und mit
ihr die Diktatur Saddam Husseins befindet sich Deutschland auf der
Flucht vor der Realität. Mit der gleichen Verbissenheit, mit der
deutsche Experten zuvor vor einem Flächenbrand und Hunderttausenden
Toten gewarnt hatten, hält man nun an den Analysen und
Prophezeiungen fest, die sich längst als falsch erwiesen haben. Jede
Tatsache, die der eigenen Erwartung widerspricht, muß ignoriert
werden, das unbestreitbare wird eingefügt in das bereits
existierende Bild. Am 14. Mai wurde das Protokoll einer "erweiterten
Leitungsbesprechung zur Lage im Irak" unter Punkt 4 eines Rundmails
des entwicklungspolitischen Dachverbandes VENRO versandt. Am selben
Tag hoben Schaufelbagger in al-Mahawil südlich von Bagdad eine Grube
mit den sterblichen Überresten mehrerer Tausend Menschen aus. Zuvor
waren in Hillah zwei Gruben mit jeweils über 2.000 Leichen gefunden
worden, fünf weitere im Südirak bereits Anfang Mai. "Der Krieg hat
mehr Probleme geschaffen, als er gelöst hat", das "Volk" leidet, wer
das Volk aber ist, läßt sich freilich nicht so einfach sagen.
Wer also ernsthaft glaubte, hinter der Ablehnung des
Krieges stünde einzig die Sorge um die irakische Bevölkerung, der
dürfte seit dem Fall von Bagdad eines Besseren belehrt sein. Es
geschah dort, womit keiner der deutschen Nahost Experten jemals
ernsthaft gerechnet hätte. Der angekündigte Flächenbrand, der mit
dem Krieg im Irak den gesamten Nahen Osten entfachen würde, blieb
einfach aus und anstelle einer verzweifelten Verteidigungsschlacht
boten die Irakis Bilder der Freude über den Sturz des Regimes, den
sie ohne fremde Hilfe nicht erledigen konnten. Seitdem wird der
Bevölkerung übel genommen, daß sie sich nicht als jenes aufgehetzte
Kollektiv zürnender Massen verhielt, als das man sie hier beständig
wahrgenommen hatte. Daß Irakis einfach dem gesunden Menschenverstand
folgten, als geschossen wurde zuhause blieben, Uniformierten
mißtrauten und die arabische Nation nicht in totaler Selbstaufgabe
bis zur letzten Granate verteidigten, wird ihnen nicht verziehen.
Anarchisten und Linksradikale, die noch jeden
Ladendiebstahl als einen Akt revolutionärer Umverteilung verbrämen,
echauffieren sich über Plünderer, die Junge Welt schimpft auf das
"Lumpenproletariat", das in die reichen Viertel Bagdads eindringt,
um sich schadlos zu halten an dem, was zuvor ihrer Unterdrückung
diente. Was geschieht, wenn man diese Leute sich selbst überläßt,
ahnte Franziska Augstein bereits vor dem Sturz Saddams. "Die meisten
Irakis können, ohne Schaden zu nehmen, eine Straße überqueren. Das
ist nicht viel. Aber wird man das auch von den Zuständen sagen
können, die im Land herrschen werden, nachdem die Amerikaner dort
aufgemischt haben? Allenthalben wird befürchtet, dass ein neuer
Golfkrieg und Saddams Sturz nicht Demokratie und Friede mit sich
brächten, sondern Bürgerkrieg und Anarchie." Der größte Feind des
Volkes ist die Freiheit.
So melden sich nunmehr auch jene zurück, die in der
Diktatur schon immer eine adäquate Herrschaftsform sahen. Professor
Walter Sommerfeld ist Vorsitzender der Deutsch-Irakischen
Gesellschaft, die vor zwei Jahren noch einen Solidaritätsflug mit
Jamal Karsli nach Bagdad organisierte. Im vergangenen September
sollte er gemeinsam mit dem außenpolitischen Sprecher der
Ba’th-Partei, Dr. Hashimi, und einem Vertreter der irakischen
"petrochemischen Industrie" vor deutschen Unternehmern im
Heidelberger Crown Plaza Hotel auftreten. Heute berichtet Sommerfeld
aus Bagdad und beschreibt, was der ARD Kulturreport als "Vernichtung
des Weltkulturerbes" bezeichnete – die "Plünderung" des irakischen
Nationalmuseums, nachdem dieses in "die Hände der Amerikaner fiel".
"Die Plünderer brachen ungestört die Magazine auf, deren Bestände
insgesamt über 170.000 Inventarnummern umfassten… der größte Teil
der Kollektionen dürfte geraubt sein." Irakis, die ihm dies
berichteten, wollten "lieber anonym bleiben, weil sie sich vor
Repressionen fürchten".
Die Meldung machte schnell die Runde, aus der
Vermutung wurde Gewißheit, aus der "Vernichtung" in der Süddeutschen
ein "Verbrechen gegen die Menschlichkeit". Was half es da, daß ein
großer Teil der verschwundenen Exponate wieder aufgetaucht, das
Nationalarchiv nicht, wie zuvor behauptet wurde, verbrannt ist und
Bagdader Bürger Hunderte mitgenommener Gegenstände wieder
zurückgebracht haben – inklusive dem, was vorher im Museumsshop lag?
Was zählt schon das Leben Hunderttausender, die ermordet wurden,
angesichts des "unschätzbaren Wertes" einiger Tonscherben aus
Nebukadnezars Zeiten? "Seit dem Fall von Bagdad herrscht in der
5-Millionen-Stadt Anarchie", schreibt Sommerfeld. "Unter Saddam war
es schlimm, aber jetzt ist es noch schlimmer."
Die Rede von dem Chaos im Irak zeugt dabei längst
nicht mehr nur vom Wunsch der Experten, ihre Horrorszenarien könnten
am Ende doch noch wahr werden. Die notwendig falsche Wahrnehmung der
deutschen Experten, die in der Redewendung zum Ausdruck kommt, der
Friede sei schwerer zu gewinnen als der Krieg, trachtet zugleich
danach, das Zerrbild des Irak in Wirklichkeit zu überführen. Denn
das Scheitern der anglo-amerikanischen Bemühungen um den Aufbau
einer föderalen Regierung, die den nationalstaatlichen Rahmen des
Irak unberührt lässt, stellt die zentrale Voraussetzung dar für die
Rückkehr Deutschlands in die Politik des Irak.
Bereits im März veröffentlichte die
Bertelsmannstiftung das Strategiepapier "Towards a European Strategy
in Iraq", das keinen Zweifel daran ließ, daß die erste
Auseinandersetzung in der Frage der Gestaltung des Irak verloren
ist. "Die Anerkennung der Tatsache, daß ein Regime Change im Irak
sicher bevorsteht", schicken die Autoren des Papiers voraus,
"bedeutet nicht, daß der Krieg oder die Politik der jetzigen
US-Administration gutgeheißen würde." Es gehe vielmehr darum, in der
Zeit nach dem unabwendbaren Regimewechsel, Europa zurückzuführen zu
der Rolle einer gestaltenden Großmacht in Nahost, dem "Hinterhof der
EU". Eine Rolle, die Europa ohnehin zustehe. "Die Bevölkerung der EU
wird von heute 371 Millionen auf 539 Millionen wachsen – mehr als
doppelt groß also wie die der USA. Das Bruttoinlandsprodukt liegt
etwa 15 % über jenem der USA. Dieses Potential könnte den Status
einer Weltmacht sichern – rund 35 % der Weltproduktion (USA 27%) und
30% des Welthandels (USA 18%) liegen in Europäischen Händen."
Frankreich und Deutschland müßten nur wieder gemeinsam "den
weltpolitischen Horizont in den Blick nehmen".
Um das Potential gegen Amerika ausspielen zu können,
empfehlen die Autoren nach dem Sturz des Regimes einen "progressive
overthrow" im Irak. Was damit gemeint ist, erläutert Werner
Weidenfeld, führender Experte der Stiftung. Die territoriale
Integrität des Irak, so Weidenfeld, könne nur pro-forma erhalten
bleiben, während eine langfristige Neuordnung darauf zielen sollte,
"die administrativen Grenzen der Region zügig zu zerschlagen" (to
speedily demolish administrative frontiers in the region), um das
eigentliche Kernproblem des Nahen Ostens anzugehen, "die
artifizielle Teilung der Region in Nationalstaaten." Eine Neue
Ordnung im Irak, die den europäischen Interessen entspricht, werde
nur über eine Neuordnung der gesamten Region zu erreichen sein.
Nationale Grenzen, so das Papier, hätten sich als untauglich
erwiesen, Stabilität und Sicherheit zu garantieren.
Das Papier erinnert verhängnisvoll an die Strategien,
die von der Bertelsmannstiftung bereits angesichts der "Neuordnung
des Balkan" entwickelt wurden. Die Nationalstaaten Osteuropas galten
damals als Hindernis auf dem Weg zu einer "deutschen
Vormachtstellung" auf dem Balkan. Hegemonialpolitik, so das Konzept
damals wie heute, müsse die destruktiven Kräfte von Ethnien und
Völkern nutzen. Es ist ein leichter Weg, wie sich erwiesen hat – und
einer, der dem deutschen Gerechtigkeitssinn entgegenkommt. Wie
bereits auf dem Balkan, so fußt auch die Wahrnehmung des Orients auf
der Vorstellung eines Primats ethnischer und religiöser
Selbstbestimmung gegenüber dem Prinzip von Nationalstaatlichkeit und
Individualrechten. Konflikte, so die Logik, entspringen der
Künstlichkeit von Nationalstaaten und nationalen Grenzen sowie der
"Inkohärenz" von Staaten und Gesellschaften, innerhalb derer die
naturgemäß widerstreitenden Kollektive nicht ihr Recht auf
Selbstbestimmung erhalten können, ohne das gesamte Staatsgefüge in
Frage zu stellen. Die feste Überzeugung, ein Sturz des irakischen
Regimes werde unweigerlich zum Ausbruch innerirakischer Kämpfe und
dem Zerfall des Staates führen, speiste sich sicherlich auch aus
diesem Mißverständnis, daß Befreiung mit der Durchsetzung des
Selbstbestimmungsrechts gegen den Staat gleichzusetzen sei. Die
politischen Handlungsoptionen, die sich daraus ergeben, bewegen sich
zwischen den Extremen diktatorischer Unterdrückung der aus dem
Streben nach Selbstbestimmung herrührenden Konflikte oder aber der
radikalen Zuspitzung ethnischer Differenzen, mit dem Ziel der
vollständigen Auflösung von Staaten.
So erklärt sich die einführende Erläuterung, der
Regime Change im Irak sei eine zu akzeptierende Tatsache, von
alleine. Im Falle des Irak hatte Europa bekanntlich darauf gesetzt,
die Diktatur zu erhalten. Da dies nunmehr mißglückte, stören
Amerikanische Flugzeugträger den Ausblick auf den weltpolitischen
Horizont genauso, wie ein funktionierender irakischer Nationalstaat.
Dies mag erklären, warum Bundeskanzler Schröder, zuvor die führende
Stimme der weltweiten Proteste gegen eine Intervention im Irak,
nunmehr der prominenteste Anwalt ist für eine vollständige
Fremdverwaltung des Landes. Nichts anderes nämlich ist das
geforderte UN-Mandat. Denn partizipieren werden Frankreich und
Deutschland in Zukunft nur, wenn die Irakis selbst nicht zu
bestimmen haben. Daß die Strategien der Bertelsmannstiftung zur
Errichtung einer deutsch-europäischen Vormachtstellung sich bis dato
immer als wenig erfolgreiche Hyperkrisie entpuppt haben, vermag
angesichts dessen kaum zu beruhigen. Im Kosovo und in Bosnien kann
studiert werden, wie wirkungsvoll deutsche Völkerpolitik bestehende
gesellschaftliche Strukturen zu zerschlagen in der Lage ist.
Viel Überzeugungsarbeit wird die Bertelsmannstiftung
nicht betreiben müssen, um ihre Strategie in Deutschland
durchzusetzen. Schon längst wird jeder Zwischenfall im Irak in der
deutschen Presse mit dem Kommentar goutiert, die Amerikaner würden
halt die Völker des Orients nicht verstehen. "Während in Afghanistan
Gefolgschaft seit jeher erkauft werden kann, ist das in dem weniger
archaischen Irak, wo Schiiten, Kurden und Sunniten
miteinander hadern, nicht so leicht zu machen," weiß Franziska
Augstein. Und Heribert Prantl führt den Gedanken fort. "Die
Amerikaner haben mit ihrem Krieg gegen den Irak den Halys
überschritten. … Der Staat Amerika handelt wie einst der Titan
Kronos, der seine eigenen Kinder gefressen hat, aus Angst, sie
könnten ihm gefährlich werden." Hätte nur der Krösus Bush nicht dem
Kronos Bush die Kinder serviert, sondern statt dessen den Orakeln
aus Deutschland gelauscht, dann wäre alles anders ausgegangen. Ein
Reich wäre erhaltern geblieben, die Museen intakt und die Straßen
wären so sicher, wie das Öl im Besitz des irakischen Volkes. Nunmehr
aber ist alles in Frage gestellt.
Erscheinen in Konkret 6/ 2003
hagalil.com
09-06-2003 |