Verbale Hetze kann zu Mord führen:
Lasst das Unerwartete nicht geschehen
Kommentar von Yoel Marcus, Ha'aretz, 27.07.2004
Übersetzung Daniela Marcus
Als die US-Kommission, die die Ereignisse des
11. September untersuchte, dabei war, ihre Arbeit abzuschließen,
schrieb der amerikanische Journalist Thomas L. Friedman eine
überraschende Kolumne. Er vertraute den Lesern an, dass er die
Untersuchung nicht im Auge behalte und dass er nicht plane, ihre
Ergebnisse zu lesen, weil der 11. September nicht durch einen Fehler
des Geheimdienstes verursacht worden sei, sondern durch einen
"Fehler der Vorstellungskraft".
Die Welt hat Entführungen und Explosionen von
Flugzeugen gesehen. Sie hat mit Sprengstoff präparierte Autos und
Selbstmordattentäter gesehen. Doch wer konnte sich vorstellen, dass
eine Bande von Extremisten zwei Jahre mit dem Plan zubringen würde,
Passagierflugzeuge in Raketen zu verwandeln, die Zwillingstürme zum
Einsturz zu bringen und einen Flügel des Pentagon zu zerstören? Kein
Geheimdienst-Analyst konnte eine solch irrsinnige, unkonventionelle
und unerwartete Operation wie diese aus Millionen von kleinen
Informationsstückchen, die jeden Tag aufgefangen werden,
herausfiltern.
Seit Israel vom Jom-Kippur-Krieg überrascht wurde,
sind die Menschen hier misstrauisch gegenüber einem "Konzept", das
an einer vorgefassten Meinung über das, was sein wird, festhält.
Doch die Wahrheit ist, dass das Zusammensetzen von
Informationsstücken, die in keinerlei Verbindung zueinander zu
stehen scheinen, sehr schwierig ist, wenn man kein "Konzept" hat und
keine Definition der hypothetischen Gefahr –wie verrückt diese auch
klingen mag-, auf die wir uns vorbereiten müssen. Amerika, das auf
den Höhen des Zweiten Weltkriegs niemals einen japanischen Angriff
erwartet hatte, geriet in einen Schockzustand, als die US-Marine in
Pearl Harbor bombardiert wurde. Geheimdienste rund um die Welt und
sogar die größten Sowjet-Experten blieben auf Grund des plötzlichen
Zusammenbruchs des Kommunismus mit vor Staunen offenem Mund zurück.
Im Jahr, das dem Jom-Kippur-Krieg voranging, traf
die israelische Verteidigungsarmee zufällig auf ein paar Dutzend
Bazooka-Raketen, die den Namen "Sager" trugen. Jedoch dachte bald
niemand mehr an sie – bis die Ägypter den Suezkanal überquerten und
Hunderte von Infanterie-Soldaten, die alle mit einem
Sager-Raketen-Abschusssystem ausgerüstet waren, unsere Panzer an der
Bar-Lev-Linie zerstörten. Wir lernten unsere Lektion, jedoch nicht
ganz. Als die israelische Armee in den Libanon zog, um dort für
Ordnung zu sorgen, entdeckte sie die Straßenminen, die unsere
Soldaten 18 Jahre lang verstümmelten und töteten.
Geheimdienste tendieren dazu, sich mit Hilfe der
Erfahrungen aus dem letzten Krieg auf den nächsten Krieg
vorzubereiten. Die Sicherheit auf amerikanischen Flugplätzen ist in
einer Art und Weise konzipiert, die den 11. September nicht noch
einmal geschehen lassen soll. Doch was wird getan, um für die
nächste Überraschung aus Bin Ladens Zauberkasten bereit zu sein?
Angesichts der islamischen Fundamentalisten, die
randvoll sind mit ihrem Hass auf Israel, und einer wachsenden Anzahl
religiös-nationaler Extremisten, ist die einzige Schlussfolgerung,
dass auch wir etwas Unerwartetem entgegensteuern – etwas, das uns
von beiden Seiten, der jüdischen und der arabischen, angreifen kann.
Als er Leiter des israelischen Geheimdienstes Shin Bet war, warnte
Carmi Gillon davor, dass verbale Hetze zum Mord an Juden führen
könnte. Doch er versagte darin, genügend Vorkehrungen zu treffen, um
Jitzchak Rabin zu schützen. Der heutige Leiter des Shin Bet hat
verkündet, dass mindestens 200 jüdische Fanatiker Sharon 1,80 Meter
tiefer sehen möchten. Werden die Sicherheitsvorkehrungen für ihn nur
auf Grund des Szenarios von Rabins Ermordung getroffen? Tzachi
Hanegbi sagt, er sei besorgt darüber, dass jüdische Extremisten
versuchen könnten, den Tempelberg anzugreifen. Ist dies seine Art
sich abzusichern? Oder weiß Hanegbi etwas, das wir nicht wissen? Was
kann es sein? Ein Flugzeug, das normalerweise
Schädlingsbekämpfungsmittel versprüht und nun in den Felsendom
stürzt? Oder, um bei der Theorie des erwarteten Unerwarteten zu
bleiben, ein Baruch-Goldstein-Imitat, das sich innerhalb der
Al-Aksa-Moschee in die Luft sprengt? Oder hat man schon mal an einen
Angriff einer jüdischen Untergrundbewegung auf das islamische
Allerheiligste in Mekka gedacht?
Die Atmosphäre in Israel ist vergiftet. Sie ist
eine Mischung aus Kritik und Aufwiegelung zu zivilem Ungehorsam. Die
"Menschenkette" vom Gazastreifen nach Jerusalem, die von Silvan
Shalom und Uzi Landau angeführte Versammlung von Likud-Dissidenten,
das Gerede jüdischer Terrorgruppen – all dies sind Zeichen, dass
Sharons Initiative in Gefahr ist. Die Saat des Bösen und der Gewalt
schlägt Wurzeln, vor allem bei religiösen Fanatikern – bei der so
genannten "Hügeljugend" (No'ar Ha'G'wa'oth), den Siedlern, den
Rabbinern, die unbekümmert Mordgenehmigungen aussprechen und
Rebellion gegen den Willen der Mehrheit predigen. Trotz all der
Warnungen liegt das Gefühl einer drohenden Katastrophe in der Luft,
die von einer Art ist, die entweder niemand erwartet oder auf die
niemand vorbereitet ist. Es reicht nicht aus, dass die Geheimdienste
und Gesetzesvertreter nur Alarm schlagen. Sie müssen tun, was immer
nötig ist, um diese Plage im Keim zu ersticken. Wenn sie nichts tun,
werden wir eines Morgens inmitten der Katastrophe aufwachen – und
uns darüber wundern, dass wir sie nicht haben kommen sehen.
hagalil.com
27-07-2004 |