Anfang von Scharons Ende oder:
Dennoch eine historische Wende
Kommentar von Yoel Marcus, Ha'aretz, 08.06.2004
Übersetzung Daniela Marcus
Obwohl er die Mehrheit in der Regierung
bekommen hat, sind nun die Meinungen darüber geteilt, ob es sich
hier um eine historische Wende oder um den Anfang von Scharons Ende
handelt. Manche sagen, die Abstimmung innerhalb der Regierung hat
keine Bedeutung. Es gibt in diesem Land keinen vergleichbaren Fall
von einem Ministerpräsidenten, der revolutionäre Initiativen
umgesetzt hat, obwohl die Hälfte seiner Partei diese nicht
unterstützte und die Parteiführung versuchte, ihn zu Fall zu
bringen.
Indem er zwei Minister der Partei Nationale Union
entließ, gewann Scharon Zeit, um eine Regierungsmehrheit zu seinen
Gunsten zu bilden, jedoch nicht, um den Plan auf einen Streich
umzusetzen. Die kurvige Regierungsentscheidung, die "Ja" zur
Abkoppelung, jedoch "Nein" zur Evakuierung von Siedlungen sagt und
sich dabei verbaler Gymnastik und einer Schweizer-Käse-Logik
bedient, bedeutet, dass Scharon von nun an bis ins Jahr 2005, wenn
"kein Jude in Gaza zurück bleiben wird", vor jedem Schritt einen
Kniefall vor der Regierung und vor der Knesset machen muss.
Es gibt nur einen anderen vergleichbaren
historischen Fall für das, was Scharon tut. Das war damals, als
Charles de Gaulle von seiner Partei vorgeladen wurde in der
Hoffnung, er werde Algerien unter französischer Herrschaft lassen.
Zur Zeit seiner Wahl erschien er vor einer schreienden Menge von
einer Million französischen Siedlern in Algerien, die ihn mit dem
Ausruf "Lang lebe Französisch-Algerien" willkommen hieß. Er winkte
mit seinen langen schlaksigen Armen und sagte: "Ich verstehe euch!"
Dann ging er nach Frankreich zurück und tat das Gegenteil von dem,
was jeder von ihm erwartet hatte, wobei er seiner Partei, den
Siedlern und den politisch rechts außen Stehenden die kalte Schulter
zeigte. Als sie ihm später vorwarfen, er habe sie belogen, sagte er:
"Ich verstand euch, doch ich tat, was gut für Frankreich war."
Wie in Frankreich so scheint auch in Israel nur
die politische Rechte zu wissen, wie man mit den ganz rechts außen
Stehenden umgehen muss. Im Rückblick sehen wir eine israelische
Linke, die eine Menge über Frieden und die Notwendigkeit von
Konzessionen und der Evakuierung von Siedlungen gesprochen hat –
meistens in Hotels in Genf und Paris. Es war die Linke, die nach dem
Sechstagekrieg 1967 mit dem Siedlungsbau begonnen und seither nicht
mehr als ein Sandkorn aufgegeben hat. All das Gerede über die
Besatzung und die Aufgabe von Siedlungen blieb einfach das, was es
war – Gerede.
Der Likud predigte Groß-Israel, gab jedoch den
Sinai zurück, arbeitete das Rückzugsprinzip bis zum letzten
Zentimeter aus und räumte die Siedlung Yamit in einer gewalttätigen
Auseinandersetzung mit einem Mob voller verrückter politischer
Extremisten. Benjamin Netanyahu –ja, er und kein anderer- setzte den
Rückzug aus Hebron um und unterschrieb das Wye-Abkommen. Yitzchak
Schamir ebnete den Weg für den Dialog mit den Palästinensern bei der
Nahost-Friedenskonferenz in Madrid.
Scharon ist einen langen Weg gegangen, seit er
darauf bestand, dass Israel keine Siedlungen wie Netzarim oder Kfar
Darom verlassen könne, weil "jede Siedlung entscheidend für unsere
Verteidigung ist". Als jemand, der vor vier Monaten das Privileg
hatte, die Einzelheiten von Scharons einseitigem Abkopplungsplan
direkt aus seinem Mund zu hören, glaube ich, dass er nun trotz
seiner bewegten Vergangenheit keine Spielchen spielt. Für ihn ist es
weder Gimmick noch Trick, um auf seinem Regierungssitz zu bleiben,
der sowieso bis zum Jahr 2007 sicher ist. Wir reden über eine
mentale Veränderung. Scharon kam zu dem Schluss, dass es für die
Besatzung keine Zukunft gibt, dass Terror nicht mit Gewalt
ausradiert werden kann, dass Israel am Ende einer demütigenden,
auferlegten Lösung ins Gesicht sehen könnte, auf Grund deren es
alles verlieren wird.
Die massive öffentliche Unterstützung für seinen
Plan brachte Scharon den Rückenwind, den er brauchte, um mit voller
Kraft voraus zu segeln. Als ein geübter Taktiker verstand er, dass
es bei all dem öffentlichen Rückhalt dumm wäre, in einer zerrissenen
und geteilten politischen Atmosphäre Neuwahlen anzusetzen. Er sorgte
sich auch darum, dass Likud-Abgeordnete eine Gruppe von 61
Abgeordneten -und angeführt von Netanyahu- aufstellen würden, um den
Gang zu den Wahlurnen zu verhindern. Diejenige Friedensinitiative,
für die ein Abgeordneter bereit ist seinen kostbaren Sitz
aufzugeben, muss erst noch entworfen werden. Scharon wusste, dass
nur die Rechte die Rechte besiegen kann. Bevor er seinen Vorschlag
vor die Regierung brachte, erkämpfte er zwei "Zuckerstückchen" von
der US-amerikanischen Regierung: die Verpflichtung, sich gegen das
palästinensische Rückkehrrecht zu stellen und die Bereitschaft, in
einem Endstatus-Abkommen Siedlungsblöcke in der Westbank
anzuerkennen.
Beabsichtigt Scharon, Siedlungen zu räumen? Ja, er
beabsichtigt es. Wird es einfach werden? Nein, bestimmt nicht. Am
Ende könnte Blut fließen. Doch eine Sache ist klar: Die
Regierungsabstimmung ist eine historische Wende. Für Scharon ist sie
kein Gimmick. Er wendet keinen gerissenen Trick an. Die Würfel sind
gefallen. Der "Nicht-Ein-Zentimeter-Club" hat begonnen, seinen
letzten Atemzug zu tun. Die Zahnpasta ist aus der Tube und es gibt
keinen Weg zurück für sie.
hagalil.com
08-06-2004 |