Man spricht viel über den islamistischen Terror, über Hamas und den
islamischen Jihad, aber was passiert auf der anderen Seite? Kann man
Israel die Schuld für das, was geschieht, ganz absprechen?
Nach dem Sieg im Sechs-Tage-Krieg hatte die israelische Regierung
beschlossen keine jüdischen Siedlungen im dicht besiedelten arabischen
Kernland zu etablieren. Dieses sollte als Pfand für einen möglichen
Frieden dienen. Schon damals lautete die Parole: "Land für Frieden".
Es sollte aber anders kommen. Die Araber haben vor Oslo jede
Friedensinitiative abgelehnt, aber zum Zeitpunkt dieser Verhandlungen
war der Zug längst abgefahren. Die inzwischen entstandenen Siedlungen in
den arabischen Gebieten waren zum grössten Hindernis für einen möglichen
Frieden geworden. Auf beiden Seiten, auf der jüdischen wie auf der
arabischen, geben heute die Fundamentalisten den Ton an. Hier möchte ich
mich mit dem weniger bekannten Problem des jüdischen
Fundamentalismus auseinander setzen, den Anhängern von Gross-Israel.
Alles fing am 4. März 1974 an. An dem Tag mietete sich ein
wohlgekleideter Herr mittleren Alters samt seiner Familie im Park Hotel,
dem besten Hotel Hebrons, ein. Die Gäste bezeichneten sich als Schweizer
Touristen, die gekommen waren, um sich einige Tage in der Stadt der
Gräber der Patriarchen, Abraham, Isaak und Jakob, aufzuhalten. Da
ausländische Touristen zu jener Zeit eine Seltenheit waren, unterließ es
der Hotelier die Identität der Gäste näher zu überprüfen. Später stellte
es sich heraus, dass es sich dabei um einen schwer wiegenden Fehler
handelte, dessen Nachwirkungen bis zum heutigen Tag spürbar sind. Dieses
war nämlich der erste Schritt im Kampf um den restlichen Teil des
mandatorischen Palästina, um den Teil, der auf der arabischen Seite der
Grenze von vor 1967 liegt und in der Welt als die „Westbank und Gaza“
bekannt ist. Dies ist der Krieg, der bis heute andauert und dessen Ende
nicht in Sicht ist.
Schon am Tag nach ihrer Ankunft ließen die „sogenannten
Touristen“ ihre Tarnung fallen und erklärten sich als die neuen
jüdischen Ansiedler von Hebron, die die historischen Rechte des
jüdischen Volkes auf diese Stadt geltend machen wollten. Sie kamen nicht
aus der Schweiz, sondern entpuppten sich als israelische Bürger: der aus
München stammende Rabbiner Mosche Levinger, seine amerikanische
Frau, und eine ganze Gruppe von Verwandten. Seine Ausstrahlung zeigte,
dass es sich um einen wahren Fanatiker handelt: asketisches Gesicht,
flammender Blick. Alle Versuche der Behörden die ungebetenen Gäste aus
der Stadt zu entfernen scheiterten. Die einzige Konzession, auf die sich
der streitbare Rabbi und seine Anhänger in Israel und insbesondere in
den USA einließen, war eine zeitweilige Übersiedlung in ein Militärlager
außerhalb der Stadt.
So fing alles an, und heute leben fast 200.000 Siedler außerhalb der
von der Weltgemeinschaft anerkannten Grenzen Israels.
Wer sind diese Siedler? Ein hoher Prozentsatz von ihnen sind
Einwanderer aus den Vereinigten Staaten und der früheren Sowjet-Union,
die zumeist aus nicht religiösen Häusern stammen und glauben jetzt ihre
„jüdische Identität“ gefunden zu haben. Ihre Vorbilder sind die Pioniere
der zionistischen Bewegung, die Anfang des 20. Jahrhunderts sich und das
Land Israel erlösen und dort einen eigenen Staat gründen wollten.
Weitere Vorbilder sind biblische Figuren wie Josua und König David. „Das
Land Israel gehört nur den Juden, und zwar das ganze Land“, ist die
Basis ihres Glaubens, „sonst wird der Messias nicht kommen können. Wir
bereiten ihm nur den Weg.“ Die Palästinenser sind für sie gleich den
Kanaanitern und Philistern (deren Namen sie auch tragen), die in der
heutigen Welt zwar nicht ausgerottet werden können, aber keine eigenen
Rechte auf das Land besitzen. Man kann die Siedler auch „wiedergeborene
Juden“ nennen, parallel zu den „wiedergeborenen Christen“ der
Vereinigten Staaten oder den islamistischen Mujaheddin.
Um nur einige Beispiele aus meiner eigenen Erfahrung zu erzählen: Nach
dem Frieden mit Ägypten mussten die Siedler im Sinai ihre Siedlungen
verlassen und wurden von der damaligen Regierung in den Gazastreifen
umgesiedelt.
Zu der Zeit war ich verantwortlich für die öffentliche Gesundheit im
Gazastreifen und musste Israel bei Treffen mit Ägyptern und diversen
internationalen Organisationen vertreten. Die Frage, die immer wieder
aufkam, war die folgende: Der ganze Gazastreifen hat eine Oberfläche von
320 km2 und fast eine Million Einwohner. Warum muss Israel
diesen noch einen Teil ihres Landes wegnehmen? Hat Israel nicht genug
Land um die Siedler unterzubringen?
Als ich mit dieser Frage zu den Militärbehörden kam, wurde ich mit
fadenscheinigen Argumenten wie „Es handelt sich um eine Pufferzone mit
Ägypten“ abgewimmelt. Ich sage „fadenscheinig“, denn zwischen den
Siedlungen und Ägypten befindet sich die palästinensische Stadt Rafah.
Ich merkte, dass diese Antwort von den Siedlern vorgeschrieben war. (Zu
der Zeit war schon Menachem Begin, einer der Vertreter von Gross-Israel,
an der Macht. Sein Verteidigungsminister war niemand anders als Ariel
Sharon, einer der grössten Gegner der Räumung von Sinai.) Als ich mit
derselben Frage zu den Vertretern der Siedlungen kam, erhielt ich die
folgende Antwort: „Sie sollen dankbar sein, dass man sie überhaupt hier
lässt. Dieses Land gehört schliesslich uns.“ Sie haben nur „übersehen“,
dass es sich dabei um Flüchtlinge handelte, die sich nur infolge des
Krieges von 1948 dort befanden. Diese Flüchtlinge waren es auch,
die den Siedlern ihre schönen Villen bauten und abends nach der Arbeit
in ihre schäbigen Unterkünfte in den Flüchtlingslagern zurückkehrten.
Als ich die Siedler darauf hinwies, dass das bestimmt nicht das
Verständnis zwischen den Völkern fördern würde, traf ich auf völliges
Unverständnis. Diese Frage interessierte sie gar nicht. Wenn ich
überhaupt eine Antwort bekam, war es die folgende: „Was wollen Sie
eigentlich? Wir verschaffen ihnen doch Arbeitsplätze.“
Was ich von den Palästinensern hörte, war folgendes: „Sehen Sie,
diese Siedler nehmen uns den Rest des Bodens und das beste Wasser weg.
Wo werden wir uns je niederlassen können? Und auf so ein Volk sollen wir
uns verlassen, mit denen sollen wir Frieden schliessen?“ Das war der
Anfang des tiefen Misstrauens gegenüber Israel. Dort entwickelte sich
auch die Terrororganisation Hamas, das war ihr Nährboden. Manche
Palästinenser fügten noch die ironische Bemerkung bei: „Das sind ja
schöne Häuser, die wir dort für uns bauen.“ Ähnliche ironische
Bemerkungen hörte ich auch bei einem Besuch mit arabischen Ärzten im
ultramodernen Hadassah-Krankenhaus auf dem Skopus-Berg, das vor 1967
eine jüdische Enklave im arabischen Teil Jerusalems war.
Zu meinen Aufgaben gehörte es auch, die Pläne für die Kläranlagen der
Siedlungen zu genehmigen. Als ich die Pläne sah, war ich wie vor den
Kopf geschlagen. Auf den Vorlagen waren nur die jüdischen Siedlungen
markiert und rund herum gab es nur weisses Papier. Palästinensische
Dörfer und Städte existierten für sie nicht. Als ich den Plan mit der
Landkarte verglich, stellte sich heraus, dass die Kläranlagen entweder
inmitten dicht besiedelter palästinensischer Ortschaften lagen oder auf
landwirtschaftlichem Gelände.
Als ich diese Pläne nicht annehmen wollte, wurde mir die Aufsicht
entzogen. Nur das Einschalten der Militärbehörden konnte ihre Ausführung
verhindern.
Das 1992 in Oslo unterzeichnete Abkommen zwischen Israel und der PLO
versetzte die jüdischen Fundamentalisten in eine Art
Weltuntergangsstimmung, in der sie vor nichts mehr zurückschreckten. Die
Begeisterung, mit der die überwältigende Mehrheit der Israelis auf die
Hoffnung auf einen Frieden reagierte, sahen sie als ein Todesurteil für
ihre Träume an. Nach der Räumung des Sinais wussten sie sehr genau, dass
die israelische Bevölkerung auch nicht vor einem Abtragen der Siedlungen
auf der Westbank zurückschrecken würde. Schliesslich sind diese – aus
der Sicht der Mehrheit - nur entstanden, um den Palästinensern klar zu
machen, dass sie Gefahr laufen auch den Rest ihres Landes zu verlieren.
Die Reaktion der Siedler war natürlich ganz anders als die der
alteingesessenen Bevölkerung Israels. Sie waren unter keinen Umständen
bereit aufzugeben und drohten, dass sie sich mit der Waffe in der Hand
dem israelischen Militär widersetzen und einen eigenen Staat gründen
würden. Eines ihrer ersten Opfer war der Initiator des Friedensvertrags,
Jizchak Rabin.
Die arabische Hamasbewegung spielte ihnen dabei in die Hände. Auch sie
war nicht an einem Friedensabkommen mit Israel interessiert und
inszenierte eine Reihe von Terroranschlägen innerhalb Israels. Das
Resultat war genau das, was von beiden fundamentalistischen Bewegungen
erhofft war. Statt Peres wurde der rechtsradikale Netanjahu gewählt und
der Friedensprozess unterbrochen.
So vertiefte sich immer mehr das Misstrauen zwischen den Völkern. Die
palästinensische Bevölkerung verlor immer mehr den Glauben an einen
möglichen Frieden mit Israel. Sie wurde sich immer sicherer, dass Israel
die Westbank nie aufgeben würde und der Besuch von Sharon auf dem
Tempelberg bestätigte nur ihre schlimmsten Befürchtungen.
In der momentanen Situation würde es keine israelische Regierung wagen
irgendetwas gegen die Siedler zu unternehmen. Aber diese Gefahr besteht
ohnehin nicht, denn die Regierung befindet sich (z.Zt.) in den Händen
derjenigen, die die Siedlungsbewegung am stärksten befürworten, also
selbst den Traum von einem Gross-Israel hegen.
Die Minderheit beherrscht die Mehrheit und Israel ist zum Gefangenen
der Fundamentalisten beider Seiten geworden. Um den angesehenen
Kommentator Eric Silver im Londoner „Jewish Chronicle“ zu zitieren: „Es
geht nicht mehr um eine Zweiteilung zwischen Juden und Arabern, sondern
um eine Dreiteilung: Palästina, das weltliche Israel und den von den
jüdischen Fundamentalisten regierten jüdischen Gottesstaat.“
Vielleicht handelt es sich sogar um eine Vierteilung: Als vierten Teil
einen von Hamas regierten islamischen Gottesstaat.
Die Spirale der Gewalt geht weiter.