Vorbild:
Israel braucht eine KSZE
Die Spirale der
Gewalt im Nahen Osten muss unterbrochen werden. Ein Vorbild für
diesen Prozess könnte die Konferenz für Sicherheit und
Zusammenarbeit in Europa sein
Von Martin Forberg
Der Arzt Eyad As
Sarraj, prominenter palästinensischer Bürgerrechtler aus Gasa, hat
jüngst an die vernünftigen Kräfte in der Bush-Administration
appelliert, die angesichts der Kriegsgefahr im Nahen Osten das
schlimmste verhüten möchten. Er fordert, dass das von Präsident Bush
unterzeichnete Gesetz eingefroren wird, mit dem die Vereinigten
Staaten erstmals Jerusalem einseitig als Hauptstadt Israels
anerkennen. As Sarraj hingegen wünscht sich Jerusalem als Symbol für
Frieden und Harmonie (siehe
www.miftah.org). Das US-Gesetz macht deutlich, dass die
Bush-Administration nicht nur maßlos, sondern auch widersprüchlich
agiert.
Die Maßlosigkeit
zeigte sich zum Beispiel an der Drohung des Präsidenten, die USA
würden die UNO verlassen, wenn diese in Sachen Irak nicht pariere.
Und die Widersprüchlichkeit wird erkennbar, wenn man bedenkt, dass
die USA im März diesen Jahres selbst eine Resolution in den
Weltsicherheitsrat eingebracht haben, die sich klar für die
friedensstiftende Perspektive "zwei Staaten für zwei Völker", Israel
und Palästina aussprach. Heute segelt die US-Administration im
Schlepptau der israelischen Rechten. Der derzeitige israelische
Ministerpräsident will den Palästinensern keine Heimat, sondern nur
Homelands zugestehen. In einer Erklärung warnen 125 israelische
Wissenschaftler und Intellektuelle davor, dass
ultranationalistische, extremistische Kräfte mit Einfluss in der
israelischen Armeeführung versuchen könnten, im Windschatten eines
Irakkrieges die Palästinenser aus dem Westjordanland und dem
Gasastreifen zu vertreiben - gegen den Willen der Mehrheit der
israelischen Bevölkerung. Aber neben den Warnungen ist es heute auch
notwendig, den Radikalen auf allen Seiten eine positive Perspektive
entgegenzusetzen.
Eine internationale
kritische Öffentlichkeit sollte sich dafür einsetzen, dass für die
beiden aktuellen Unruheherde - den israelisch-palästinensischen und
den Irakkonflikt - so schnell wie möglich politische Lösungen
gefunden werden. Diplomatischer Druck auf den Irak, um den
Inspektoren maximale Kontrollrechte zu verschaffen bei
gleichzeitiger Aufhebung der Sanktionen, die die Zivilbevölkerung
treffen - das würde die Diktatur wirklich schwächen. Vor allem aber
muss es um eine Befriedung des israelisch-palästinensischen
Konfliktes gehen, da hier sonst ein Vakuum entsteht, das zu einer
Eskalation unkontrollierbaren Ausmaßes führen kann. Politische
Perspektiven jenseits von Besatzung, Siedlungspolitik und Gewalt
dürfen nicht auf den Nimmerleinstag verschoben werden. Dabei sollte
die Initiative Saudi-Arabiens nicht vergessen werden, die Israel für
den Abzug aus den 1967 besetzten Gebieten Frieden mit der arabischen
Welt anbietet.
Eine Perspektive für
den Nahen Osten könnte eine Konferenz für Sicherheit und
Zusammenarbeit bieten - ähnlich der KSZE, die in Europa von den
Siebzigerjahren an einen wesentlichen Beitrag zur Überwindung der
Blockkonfrontation geleistet hat. Die Idee selbst ist nicht neu.
Heute oder morgen hat eine solche Konferenz natürlich keine Chance,
einberufen zu werden. Und dennoch: Politik braucht konkrete Utopien
und Ziele, auf die zu hoffen und für die zu arbeiten sich lohnt, um
zu zeigen, dass mit Vernunft und Augenmaß eine andere Welt möglich
ist, auch im Nahen Osten. Insofern taugt eine solche Initiative
heute vor allem für eine demokratische, internationale Debatte. Eine
Debatte, die Zug um Zug den Krieg aus den Köpfen vertreiben hilft.
Selbstverständlich ist sie in Demokratien wesentlich leichter zu
führen als in Diktaturen. Aber auch Diktaturen lassen sich
beeinflussen.
Die vier Grundideen
der alten KSZE waren erstens Gewaltverzicht als bindendes Prinzip;
zweitens Rüstungskontrolle; drittens wirtschaftliche Zusammenarbeit
und viertens Förderung von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten.
Die Verpflichtung zum Verzicht auf Gewalt beispielsweise wäre für
Staaten und nichtstaatliche Gruppen bindend. Wirtschaftliche
Zusammenarbeit buchstabiert sich im Nahen Osten vor allem als
Überwindung existenzieller Armut und Not, nicht nur, aber nicht
zuletzt der Palästinenser in den wieder besetzten oder belagerten
Gebieten. Das bedeutet auch, das Wasserproblem, das allen Bewohnern
dieser Region gemeinsam ist, einer gerechten Lösung näher zu
bringen. Rüstungskontrolle als Ziel zu formulieren, heißt, ein
ziviles Schutzschild gegen die tödliche Gefahr durch
Massenvernichtungsmittel aufzurichten, denen sich jetzt wieder viele
Menschen im Nahen Osten - nicht zuletzt in Israel - ausgesetzt
sehen. Das Schutzschild müsste auf der Form gegenseitig bindender
Vereinbarungen beruhen. Die Förderung von Menschenrechten und
Rechtsstaatlichkeit gibt Reformkräften an der Basis der jeweiligen
Gesellschaften wie auch innerhalb der staatlichen Institutionen
neuen Spielraum. Ein nahöstlicher KSZE-Prozess würde sich also
gleichzeitig auf die Regierenden stützen und sie unter Druck setzen
- zugunsten der Zivilgesellschaften und zugunsten einer Entfeindung
zwischen den Menschen. Wie sehr Basisinitiativen von einem solchen
Projekt profitieren können, hat die KSZE in Europa gezeigt.
Der etwas aus der
Mode geratene Slogan der Friedensbewegung "Schwerter zu
Pflugscharen" erhielte in einem solchen Friedensprozess die
Aktualität, die er dringend wieder braucht. Denn das Gegenteil -
Pflugscharen zu Schwertern - scheint in der US-Administration
mächtige Anhänger zu haben. Diese Umkehrung des Bibelwortes gibt es
übrigens wortwörtlich aus dem Munde christlicher Fundamentalisten,
die Israel in einen "Heiligen Krieg" gegen Muslime drängen wollen.
Zum Glück gibt es auch andere Stimmen: Der Bundesverband Jüdischer
Studenten in Deutschland etwa hat sich davon distanziert und spricht
sich für ein "friedliches und tolerantes Miteinander aller
Religionen und Kulturen in Deutschland, Israel und weltweit" aus.
Das alte System von Gewalt und Gegengewalt, der Götzendienst
gegenüber allem Militärischen hat versagt - und jeder weiß es
eigentlich. Daher ist es dringend erforderlich, Konturen einer neuen
Friedensordnung zu entwickeln, die auch diejenigen an Bord nimmt,
die bislang noch den alten Feindbildern anhängen. Auf der
Tagesordnung steht die Konversion, die Umwandlung der Rüstung und
der politischen Systeme in Richtung Frieden und Demokratie. Was
natürlich auch bedeuten muss, dass eine kritische internationale
Öffentlichkeit Rüstungsexporte in den ganzen Nahen Osten (und auch
aus dem Nahen Osten heraus) in Frage stellen, erschweren oder gar
verhindern sollte. "Ab einem bestimmten Punkt der Gewalt ist es
egal, von wem sie ausgeht, sie soll nur aufhören", sagte eine anonym
gebliebene Frau im Deutschen Herbst des Jahres 1977. Dieser Satz
gilt heute für den Nahen Osten. Man würde sich vielleicht wundern,
wie viele auch derjenigen Akteure, die heute Gewalt befehlen oder
anwenden, ganz froh darüber wären, wenn sie davon abgehalten würden.
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14-10-02 |