Streitthema:
Gefangen im eigenen Lager
Um dem
Volk zu gefallen, macht Premier Abbas die Freilassung von
Palästinensern aus israelischer Haft zum großen Streitthema
Von Thorsten Schmitz
Der erst vor anderthalb Monaten beim
Nahost-Gipfel in Jordanien wiederbelebte Friedensprozess steckt
schon wieder fest. Zwar haben die palästinensischen Terrorgruppen
eine – zeitlich befristete – Waffenpause verkündet, und tatsächlich
hat es seit Beginn der Intifada im September 2000 noch nie so wenig
Anschläge oder Anschlagsversuche gegeben wie zurzeit. Doch beide
Seiten verlangen nun, dass der jeweils andere den weiteren Schritt
gemäß dem Friedensfahrplan des Nahost-Quartetts vollzieht – obwohl
dieser vorschreibt, dass Israel und Palästinenser ihre Maßnahmen zur
Befriedung der Region gleichzeitig vollziehen.
Um die Verwirklichung des Nahost-Fahrplans
voranzutreiben, hat US-Präsident George W. Bush den
palästinensischen Ministerpräsidenten Machmud Abbas für diesen
Freitag ins Weiße Haus geladen. Am nächsten Dienstag wird Israels
Premierminister Ariel Scharon in Washington erwartet. Bush wird von
Abbas verlangen, die Entwaffnung und Zerschlagung der
palästinensischen Terrorgruppen in Angriff zu nehmen, wie es in der
ersten Phase des Friedensplans vorgeschrieben wird. Zum Unmut der
USA und Israels hat Abbas diese Woche gesagt, er werde keinesfalls
die Gruppen Hamas und Islamischer Dschihad zwangsweise auflösen.
Von Scharon wiederum wird Bush weitere
Truppenrückzüge fordern, nachdem die israelische Armee den
Palästinensern den nördlichen Gaza-Streifen und Bethlehem im
Westjordanland überlassen hat. Zu einem zentralen Punkt dürfte die
Frage nach der Freilassung der etwa 5900 palästinensischen
Gefangenen in israelischen Haftanstalten werden – und das, obwohl
dies mit keinem Wort im Friedensfahrplan erwähnt wird. Die
palästinensischen Terrorgruppen haben das mit starken Emotionen
besetzte Thema für sich beansprucht und machen nun eine Fortsetzung
ihrer Waffenruhe von einer Freilassung aller Gefangenen abhängig.
Weil Abbas bei den Palästinensern wenig Rückhalt
hat – anders als der beliebte Palästinenserpräsident Jassir Arafat
gilt er als dem Volk entfremdeter Akademiker –, fordert nun auch er
die Freilassung von Gefangenen. Der frühere palästinensische
Chefunterhändler Saeb Erekat sagte am Mittwoch, Abbas dürfe nicht
mit leeren Händen aus Washington zurückkehren, ansonsten bedeutete
dies das Ende seiner Karriere als erster palästinensischer
Regierungschef.
Die von Israels Regierung nun beschlossene
Freilassung von zunächst 530 palästinensischen Gefangenen gilt als
Geste gegenüber Abbas und ist in erster Linie auf den enormen Druck
der USA zurückzuführen, die ihren Friedensfahrplan gefährdet sehen.
Allerdings wird Israel keine Gefangenen freilassen, die direkt in
Terroraktionen verwickelt waren. Ein Großteil der Gefangenen, die
bald freigelassen werden sollen, sind nach übereinstimmenden
Medienberichten jugendliche Steinewerfer oder solche, die als
illegale Arbeiter in Israel bei Razzien festgenommen wurden. Israels
Kabinett debattierte am Mittwoch heftig über die Kriterien der
Freilassung. Ein Minister kritisierte, dass ein 21-jähriges
Hamas-Mitglied freigelassen werden soll, das nicht in Terroraktionen
verwickelt gewesen sei, aber ein 58-jähriges Mitglied von Arafats
Fatach nicht, das 1974 an einem Anschlag beteiligt war, seitdem aber
der Gewalt abgeschworen habe.
Anfang August, nach Scharons Rückkehr aus
Washington, soll das Kabinett bei einem zweiten Votum erneut und
endgültig über die Liste mit den Namen der 530 Gefangenen abstimmen.
Den Terrorgruppen ist dies jedoch ohnehin zu wenig. Die
palästinensische Regierung befürchtet bereits, dass Hamas und
Islamischer Dschihad die Waffenruhe schon bald beenden könnten. Sie
verlangt von Scharon, zumindest 2500 Gefangene freizulassen, sonst
ende der Friedensprozess in einer "Sackgasse". Ein Hamas-Sprecher
drohte am Mittwoch, Scharon werde einen "hohen Preis zahlen",
sollten nicht auch Mitglieder der Terrorgruppen freigelassen werden.
hagalil.com
24-07-03 |