MEMRI Special Dispatch – 30.
September 2002
Liberaler ägyptischer Intellektueller:
Rolle der arabischen Regierungen in Camp David
In einem am 9. September 2002 veröffentlichten Artikel der
arabischsprachigen Tageszeitung Al-Hayat kritisiert der ägyptische Autor
Amin Al Mahdi die arabischen Regierungen für die Instrumentalisierung
der Palästinafrage und untersucht ihre Rolle bei der Ablehnung des
Friedensvertrags von Bill Clinton in Camp David.
Es folgen Auszüge aus dem Artikel: "Historische
Momente zwingen die Völker und ihre Führungen normalerweise zu einer
schicksalhaften Wahl: sich an der Gestaltung der Geschichte zu
beteiligen oder unter die Räder der Geschichte zu geraten. Zweifelsohne
war die zweite Hälfte des Jahres 2000 ein solcher verhängnisvoller und
gefährlicher Moment in der Geschichte des palästinensischen Volkes und
hatte Auswirkungen für die gesamte arabische Welt. Das Ergebnis zeigt,
dass die palästinensische Führungsriege und die herrschende arabische
politische und mediale Stimmung dieser Entscheidung nicht gewachsen
waren. [...] Eine Folge war, dass die
Palästinafrage hinter den Nullpunkt zurückfiel. Es wurde nicht nur eine
einzigartige Möglichkeit für eine vernünftige Lösung verpasst, die den
Palästinensern eine Integration ins Zeitalter der Moderne ermöglicht
hätte, hätten sie die Zügel zur Veränderung ergriffen. Sondern selbst
die Fortschritte aus den Verhandlungen von Camp David II gingen
verloren. [...] Das palästinensische Volk hatte
einen Staat im Aufbau, der deutliche Fortschritte machte. Er umfasste
acht große Städte und 400 Dörfer, es gab ernsthafte Verhandlungen über
zwei Dörfer in der Umgebung Jerusalems. [...] [Es gab] einen Hafen,
einen Flughafen, eine Fluggesellschaft mit Sitz in Jerusalem, [...] ein
sich im Bau befindendes Parlamentsgebäude in Abu Dis, aktiven Tourismus,
ein vernünftiges Steueraufkommen, eine selbständige Industrie,
beträchtlichen Handel mit Jordanien, Israel und der EU, ein kompetentes
und kooperationsfähiges Landwirtschaftswesen. Der Staat im Aufbau hatte
127 000 Arbeiter in Israel mit einem Durchschnittseinkommen von 100 $
[pro Monat], dazu ein Drittel dieser Zahl ohne Genehmigung, ein
anerkanntes Erziehungswesen und eine Identität. [Es gab] einen Polizei-
und Geheimdienstapparat und Gefängnisse (mehr als genug), Medien, das
Projekt einer Exekutivverwaltung, internationale politische und
wirtschaftliche Unterstützung. [...] Was viel
wichtiger ist, es gab eine Entität, eine urbane Elite, die es schaffte,
die erste Intifada so erfolgreich wie sonst kaum in der arabischen Welt
anzuführen. Diese Elite brachte es fertig, das israelische Volk
anzusprechen und große Teile für die Unterstützung der Palästinafrage zu
mobilisieren. Präsident Arafat verzeichnete einen Rekord an Besuchen im
Weißen Haus. Das nationale palästinensische Gebilde wurde von vielen
internationalen Präsidenten, angefangen bei Clinton und Chirac, und den
meisten Premier- und Außenministern der Welt besucht. Die Ausrufung
eines Staates war zum Greifen nahe. Präsident Clintons Vorschlag
eröffnete eine Chance für Wandel und Fortschritt. […]
Obwohl Präsident Arafat zugab, dass es falsch war, Clintons Vorschlag
abzulehnen (Haaretz, 21. Juni 2002), ist sein Zugeständnis nutzlos. Denn
er hätte ehrlich erklären müssen, warum er den Vorschlag abgelehnt hat,
warum es ein Fehler war und warum es so lange gedauert hat, seinen
Fehler zuzugeben. Ich glaube, die Situation hat sich soweit
verschlimmert, dass sie den Fehler der Ablehnung des Friedensangebot
Clintons übertrifft. Diese Ablehnung war ein Glied in der tragischen
Kette von Fehlern: der Flucht in die Gewalt (wie es im Mitchell-Report
dargestellt wird, der von allen Seiten akzeptiert wird), die direkte
Allianz vor den Verhandlungen mit Teilen des politischen Islams, die
Übergabe der Führung der palästinensischen Öffentlichkeit an ‚Gestalten
der al-Fakahani Republik’ (2). Damit wurde die Basis der
Friedensverhandlungen völlig zerschlagen. Dies trug deutlich zum Zerfall
der israelischen Linken, der zentralen Kraft für eine friedliche Lösung,
und damit auch zum Zerfall des Friedenslagers bei.
Im Überschwang des internationalen Kampfes gegen den Terror wurde die
Gewalt mit religiösem Hintergrund, besonders jene von jungen Männern und
Frauen, die aus Armut, Unterdrückung und Verzweiflung kommen und die
durch eine Gehirnwäsche dazu gebracht wurden, Selbstmordattentate gegen
Zivilisten durchzuführen, [in der internationalen Öffentlichkeit] zu
einer Wiederholung der Ereignisse des 11. Septembers und einer
beständigen Erinnerung der Welt daran, das der Terror arabisch und
islamisch ist. Die moralische Stärke, die die Palästinafrage besass,
ging damit zurück. So schwand der Unterschied zwischen der Gewalt
Scharons und der palästinensischen Gewalt. Gerade angesichts des
politischen Vakuums, welches entstehen wird, sobald das irakische Regime
gewaltsam ausgetauscht wird, rückte der dritte palästinensische
Transfer, die jordanische Lösung, näher als je zuvor. […]
Der äußere Schaden ist sogar noch schlimmer. Die neue amerikanische
Regierung besteht aus Neo-Konservativen […], nach deren Ansicht die
palästinensische Führungsriege unfähig ist, den Weg des Friedens zu
wählen. Als die Regierung von Arafat verlangte, den ‚Terror’ zu
bekämpfen, forderte sie das Unmögliche, da Arafat schon sehr weit in
eine Richtung gegangen war, aus der ein Zurück nicht mehr möglich war
.[…] Als Arafat aus Camp David zurückkehrte,
wurde er von den Massen dafür auf den Schultern getragen, dass er nichts
erreicht hatte. Die arabischen Propagandaapparate und die Erklärungen
hochrangiger Offizieller der meisten arabischen Länder spielten eine
bedeutende Rolle bei diesen seltsamen Feierlichkeiten. Es war genau der
richtige Moment um Bedingungen anzufügen, die das Problem unlösbar
machen, beispielsweise das Festhalten am Rückkehrrecht der Flüchtlinge
nach Israel, was so viel bedeuten würde wie die Gründung von zwei
palästinensischen Staaten. Darüber hinaus [wurde] eine demagogische
Attacke gegen Clinton und die US-amerikanische Politik begonnen, die
ohne objektive Grundlage blieb (es gibt viele Gründe, die amerikanische
Politik zu kritisieren, aber ich glaube nicht, dass Clintons
Friedensplan dazu gehört). All das war der
Beweis für die rückläufige Richtung, die der Friedensprozess
eingeschlagen hatte. […] Hinzu kam die übertriebene Beschönigungen des
Sieges der Hisbollah [im Südlibanon], der fast mythologische Dimensionen
annahm, obwohl es sich schlicht um einen taktischen Sieg handelte, der
das Machtgleichgewicht nicht veränderte. Dies dauerte sechs elende
Monate, bis jede Hoffnung auf eine Bewahrung der Grundlagen friedlicher
Verhandlungen verschwunden war und Scharon die Regierung übernahm, der
bestmögliche Partner in diesem Totentanz. […]
Meine persönliche Meinung ist, dass ganz gleich welches Friedensangebot
Clinton der arabischen Seite gemacht hätte, es wäre so oder so abgelehnt
worden. Die Palästinafrage war immer die Hauptquelle für die
Legitimation der umstürzlerischen Regime, die feudale oder klanartige
Militärrepubliken gründeten. Die Palästinafrage war immer das erste
Thema in den Erklärungen der Putschisten. Darüber hinaus war die
Palästinafrage die Stütze des Krieges, der gegen Demokratie und die
Moderne geführt wurde, ein immer währender Vorwand für die Trennung von
der freien Welt und für die Durchsetzung von Ausnahmegesetzen
verschiedenster Art, von Notstands- bis zu Militärgesetzen. […]
Mit den regionalen Spannungen, den arabisch-israelischen Konflikt
eingeschlossen, der zur Front des Kalten Krieges wurde, und dem Beginn
der Neuordnung der Welt […] begannen die ehemaligen revolutionären
arabischen Militärrepubliken unter dem Druck zu leiden, der durch diese
Neuordnung, beispielsweise durch den Bedeutungsverlust nationaler
Souveränität, der Freiheit des Marktes, die Globalisierung der
Menschenrechte, internationale Gerichtshöfe und der Aufstieg des
Zeitalters der Völker, entstand. Die arabischen Regime versuchten, eine
Art neuen Kalten Krieg zu schaffen, indem sie eine Allianz mit dem
islamischen Fundamentalismus eingingen und ein neues Imperium der
Dunkelheit in Zentralasien gründeten. […] Die
Zentren dieser Spannungen - die Palästinafrage, der Südsudan und die
Spannungen in der Golfregion ersetzten den Eisernen Vorhang und die
Berliner Mauer und machten es möglich, sich zu positionieren, sich
selbst abzuschotten und eine Polarisierung gegenüber der gesamten Welt
zu schaffen […] Abu Ammar [Arafat] machte das
palästinensische Volk erneut zu einem menschlichen Schutzschild, das die
arabischen Regime vor dem Angriff der Moderne und der Freiheit schützen
soll. Die Palästinafrage wurde erneut zu einer wirklichen arabischen
Frage. Hätte er hier nur Schluss gemacht, aber er gab dem politischen
Islam die Gelegenheit für eine Entschädigung für seine demütigende
Niederlage in Afghanistan und im südöstlichen Asien, für seine schlechte
Reputation und für seine Verfolgung in der ganzen Welt.
Diese Entschädigung ging auf Kosten des palästinensischen Seins, indem
er sich in ein indirektes, objektives Bündnis mit der expansionistischen
zionistischen Rechten unter Führung begab, [...] sollte dabei auch die
palästinensische Zivilgesellschaft zerstört und die zivile Elite
marginalisiert werden. Auf diese Art verwandelte sich die Palästinafrage
von einer Frage der Befreiung und der Selbstbestimmung zu einer Frage
des Terrors."
THE MIDDLE EAST MEDIA RESEARCH
INSTITUTE (MEMRI)
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