Professor Jonathan
Sacks, Oberrabbiner des Vereinigten Königreichs, warnte Israel in
einem Exklusiv-Interview mit der britischen Tageszeitung "The
Guardian" in ungewöhnlich klaren Worten: Die Politik der
israelischen Regierung habe Züge angenommen, die mit den zentralsten
Werten des Judentums unvereinbar seien. Der Konflikt mit den
Palästinensern korrumpiere die israelische Kultur.
Im
Interview mit Jonathan Freedland sagte Professor Sacks, er betrachte
die gegenwärtige Situation als ausgesprochen tragisch. Israel werde
in Positionen gezwungen, die "langfristig mit unseren tiefsten
Überzeugungen nicht zu vereinbaren sind".
Ungeheuer erschüttert habe ihn vor kurzem ein Bericht über
israelische Sicherheitskräfte, die sich vor der Leiche eines
getöteten Palästinensers lachend für ein Photo in Pose brachten. "Es
ist keine Frage, dass diese Art eines andauernden Konflikts,
zusammen mit dem Fehlen von Hoffnung, Hass und Gefühllosigkeit
erzeugt. Ein solcher Zustand muss eine Kultur langfristig
korrumpieren". "Im Jahre 1967 war ich davon überzeugt, dass Israel
all die (eroberten) Gebiete um des Friedens willen wird zurückgeben
müssen - und diese Meinung habe ich noch heute."
Rabbi Sacks ist sich der schmerzlichen Tatsache bewusst, dass
seine Aussagen in rechtsgerichteten Kreisen auf erbitterten
Widerstand stoßen werden. Er versicherte er werde in seiner
kontinuierlichen Unterstützung des jüdischen Staates fortfahren und
fühlte sich dazu verpflichtet auf die vielfältigen israelischen
Friedensbemühungen hinzuweisen und sein Bedauern darüber
auszudrücken, dass diese Bemühungen auf palästinensischer Seite
nicht auf die notwendige Kompromissbereitschaft getroffen seien.
Mit seiner ausdrücklichen Verurteilung der Folgen der seit
35-Jahren andauernden Besatzung und der Konsequenzen die der
jahrzehntelangen Konflikt auf Israel und das jüdische Volk habe, gab
Rabbi Sacks zum ersten Mal seine bisherige Linie auf, Israel in der
Öffentlichkeit stets Rückendeckung zu geben.
Der Guardian selbst meinte bereits gestern, dass wie vorsichtig
und gewählt die Worte des Rabbiners auch sein mögen, sie werden in
Israel und in der gesamten jüdischen Welt einen Schock auslösen.
Wütende Reaktionen sind erstrecht zu erwarten, wenn sein Aufruf
zum Dialog, selbst mit Repräsentanten des fundamentalistischen
Islams bekannt wird. In einem Vorabdruck seines neusten Buches "The
Dignity of Difference", das in Fortsetzungen im Guardian
erscheinen wird, signalisiert Sacks seine Bereitschaft auch mit
Sheikh Abu Hamza - dem fundamentalisischen Führer der Londoner
Taliban-Sympathisanten zusammenzutreffen. Erst vorgestern hatte Abu
Hamza gesagt es sei gerecht Nicht-Muslime zu töten, Juden verglich
er mit dem Satan.
Mit derartigen Gesprächen hat der 54-jährige Oberrabbiner bereits
Erfahrung. Am Rande einer UN-Konferenz traf er sich z.B. mit
Ayatollah Abdullah Javadi-Amoli, einem der ranghöchsten Geistlichen
des Iran: "Innerhalb weniger Minuten hatten wir eine gemeinsame
Sprache gefunden, die ganz spezielle Sprache, die Gläubige
verbindet", so Prof. Sacks.
Der Untertitel seines neuen Buches, das am
5.September 2002
erscheinen wird, lautet: "Wie wir den Zusammenstoß der
Zivilisationen vermeiden können". Es möchte der Welt einen Plan
anbieten um die Katastrophe zu umgehen. Insbesondere alle orthodox
bis fundamentalistisch Gläubigen ruft er darin auf, zu erkennen,
dass Unterschiede kein Problem sind das eine Lösung fordert, sondern
ein der g'ttlichen Schöpfung selbst innewohnender Grundsatz sind.
Rabbiner Sacks trat das Oberrabbinat der Britischen Orthodoxie
1991 an. Seither wird er als das geistige Oberhaupt der ca. 300.000
Mitglieder zählenden jüdischen Gemeinschaft der britischen Inseln
angesehen. Exponierte politische Aussagen zum Nahostkonflikt hatte
er seither möglichst vermieden. Während der Regierungszeit des
ermordeten Ministerpräsidenten Jizhak Rabin, hatte er dessen Politik
als ein g'ttlich gesegnetes Unternehmen entschieden befürwortet. Mit
Jizhak Rabin stand er bis zu dessen Ermordung in engem Kontakt.
Trotzdem scheute er die öffentliche Diskussion und eine
geistig-moralische Beurteilung der israelischen Besatzung in
Westbank und Gaza. Ganz im Gegensatz zu seinem Vorgänger, Rabbiner
Immanuel Jakobovits, der Israel für die "Herumkommandiererei der
Palästinenser" verurteilt hatte und dafür Drohungen und
Beleidigungen ernten musste. Ebenso wie Bakshi-Dorion, zur Zeit
sefardischer Oberrabbiner in Israel, oder auch der Rishon leZion
Owadjah Josef, die nach eindeutig den Frieden fordernden
Verlautbarungen und Mahnungen zum Verzicht auf vermeintlich
unverzichtbare Stätten in wüster Weise beschimpft und beleidigt
worden waren. Rabbiner Sacks werden ähnliche Ausbrüche der
Feindseligkeit kaum erspart bleiben, zumal in Großbritannien - wie
überall seit Zusammenbruch der Oslo-Gespräche, sich das
Meinungsspektrum in den jüdischen Gemeinden deutlich nach rechts
verschoben hat.