Amos Oz im Gespräch:
Tragedia dell´arte
Der israelische
Schriftsteller Amos Oz über die Familie als grenzübergreifendes
Phänomen, den palästinensisch-israelischen Konflikt und die Normalität
am Rande eines Vulkans
Die
Vergangenheit müsse warten, sagte Amos Oz auf der Abschlussveranstaltung
seiner Poetik-Vorlesungen in Tübingen. Es sei nicht die Zeit, alte
Wunden zu lecken - die Zukunft sei wichtig in Gaza, im Westjordanland,
in Jerusalem, und auch die sei nicht ohne Verletzungen auf beiden Seiten
vorstellbar, wie bei einer Ehescheidung. Aber die Scheidung sei die
einzig realistische Möglichkeit. Oz, 1939 in Jerusalem noch unter
englischem Mandat geboren und dort aufgewachsen, ist der bekannteste
Schriftsteller im heutigen Israel. In Tübingen hat er jetzt in drei
Vorlesungen über sein Schreiben referiert. "Make peace, not love" war
Oz´ Botschaft an die deutsche Friedensbewegung. Den palästinensischen
wie zionistischen Fanatismus will er mit vorsichtig dosierten
Humor-Kapseln bekämpfen. Dabei könne auch die Literatur nützlich sein.
In der Politik wie im Privaten rät Oz zum Kompromiss: der sei besser als
der ideologisch einwandfreie Heldentod.
FREITAG: Sie arbeiten in Israel nicht nur als Schriftsteller, sondern
sind auch einer der Wortführer der linken Friedensbewegung, die unter
dem Motto "Land gegen Frieden" für einen Rückzug aus den besetzten
Gebieten und für eine Verständigung mit den Palästinensern wirbt. Ich
vermute, das Schreiben von Romanen und Essays geht im Nahen Osten anders
vonstatten als im vergleichsweise sicheren Mitteleuropa.
AMOS OZ: Man muss eine klare Trennlinie ziehen zwischen CNN-Nachrichten
und der Realität. Das wirkliche Israel ist nicht Tag und Nacht in
gewalttätige Auseinandersetzungen mit den Palästinensern verwickelt, in
den Kampf um heilige Stätten und Siedlungen. 80 Prozent der Israelis
leben in der Küstenebene. Sie sind unreligiös und hedonistisch, laute,
lärmende Mittelklasse, etwa wie in einem Fellini-Film. Große Teile
meiner Arbeit beschäftigen sich mit dieser Normalität am Rande eines
ausbrechenden Vulkans. Auch in einem Dorf, das nahe an diesem Vulkan
liegt, gibt es Leute, die die Frau des Nachbarn begehren oder zum
Bürgermeister gewählt werden wollen. Oder Leute, die nicht schlafen
können, weil sie Angst um ihre Jobs haben. Also, wenn ich nur über den
Vulkan schreiben würde, dann wäre ich besser Leitartikler geworden und
nicht Romancier.
In Ihren Romanen arbeiten Sie die politischen Wirrnisse Israels sehr oft
anhand von Paar- und Familienbeziehungen auf, zum Beispiel in "Black
Box" oder "Mein Michael". Die deutschen Gegenwarts-Schriftsteller sind
eher mit sich selbst beschäftigt ...
Wenn ich meine literarische Arbeit in einem Satz zusammenfassen sollte,
dann würde ich sagen: Ich schreibe über Familien. Die Familie ist die
mysteriöseste, die surrealistischste, die politisch komplizierteste
Institution der Welt. Sie ist eine absurde Einrichtung, und doch
funktioniert sie, in Israel wie in Deutschland. Sie funktioniert in New
York und im Iran der Ayatollahs ...
Meinen Sie das ernst?
Irgendwie scheint es ja auch dort zu gehen, wenngleich in anderer Form.
Ich will das gar nicht politisch bewerten. Die Familie gibt es bei den
Eskimos und in Lateinamerika. Wie sie mit all ihren Widersprüchen und
immanenten Frustrationen funktioniert - das ist der Punkt, an dem
menschliche Tragödie und Komödie in eins fallen. Darüber arbeite ich.
Ich habe nie einen Roman geschrieben, nur um zu sagen, die israelische
Regierung möge sich zum Teufel scheren. Sie würden sowieso nicht auf
mich hören. Also, wenn ich in der Stimmung bin, der israelischen
Regierung etwas zu sagen, dann schreibe ich einen Artikel oder einen
Essay. Der Roman dagegen ist ein Zusammenstoß komplizierter
Widersprüche: Alle haben Recht und Unrecht, jeder ist Täter und Opfer,
Folterer und Gefolterter in einem. In meinen Romanen tun die Leute oft
das Gegenteil von dem, was sie wollen. Man mag das politisch
interpretieren - aber das ist dann Sache des Lesers.
Sie haben lange im Kibbuz gelebt.
Mehr als 30 Jahre! Es war eine meiner wichtigsten Erfahrungen, die mein
Leben sehr bereichert hat. Ich habe in meinen Kibbuz-Jahren mehr über
den Menschen gelernt als man anderswo in 300 Jahren hätte erfahren
können. Der Kibbuz ist eine offene Gesellschaft, und man kann seine
Dramen genau beobachten. Die Kluft zwischen hochfliegendem ideologischen
Anspruch und dem Alltag, den Unterschied zwischen Glauben und Tun, die
unfreiwillige Komik, den Idealismus und die Selbstsucht.
Im Kibbuz wird tragedia dell´arte gespielt. Und obwohl ich nicht mehr
dort lebe, glaube ich an eine Art freiwilligen Sozialismus im kommunalen
Leben. Nicht von der Regierung gesponsert, nicht zentral kontrolliert,
sondern freiwillig. Kleine Zellen von Leuten, die wie eine stark
vergrößerte Familie agieren. Das wird in Zukunft vielleicht wieder in
Mode kommen.
In der Tat enthüllen meine Romane die Paradoxien dieser Lebensart. Und
doch haben diese Paradoxien mehr mit der menschlichen Natur als mit dem
Kibbuz zu tun: Wir wollen immer, was wir nicht haben, und wenn wir es
haben, wollen wir es nicht mehr. Wenn wir ein sicheres Zuhause haben,
wollen wir hinaus in die Freiheit; wenn wir draußen sind in der
Einsamkeit, wollen wir wieder heim. Das sind so Ironien, und ich meine,
dass das der menschlichen Natur inhärent ist.
Natürlich findet man das auch in der Politik: diese Hasslieben, diesen
Widerspruch zwischen Anspruch und Praxis, die Dummheit, und am Ende eben
die pathetische Unfähigkeit des Menschen, sich selbst zu verwirklichen.
Wenn man Ihre politischen Einlassungen liest, lernt man eine Art
desillusionierten, praktischen Sozialismus kennen, ohne Ideologie.
Ich mag keine Dogmen. Vielleicht ist das auch eine Ideologie, die
Ideologie der Dogmen-Verachtung. Ich glaube an den Kompromiss. Ich weiß,
dass das Wort Kompromiss in Europa und speziell in Deutschland einen
schlechten Ruf hat, vor allem unter jungen deutschen Idealisten. Sie
glauben, dass der Kompromiss unehrlich ist, ein Mangel an Integrität,
sie halten ihn für opportunistisch. In meinem Vokabular aber ist das
Wort Kompromiss gleichbedeutend mit Leben. Das Gegenteil von Kompromiss
sind nicht Integrität und Idealismus, sondern Fanatismus und Tod.
In einigen meiner Romane kommt dieser Fanatismus vor - er muss noch gar
nicht politisch sein. Es kann zum Beispiel sexueller Fanatismus sein
oder Liebeswahn oder Eifersucht oder dergleichen, das passiert ja
häufig. Ich aber bin ein Anhänger des Kompromisses, auch politisch:
keine Kapitulation, nicht die andere Backe auch noch hinhalten. Aber man
muss immer versuchen, auf halbem Wege den anderen zu treffen.
Eine Ihrer Poetik-Vorlesungen hat den schönen Titel "How to cure a
fanatic", wie man einen Fanatiker heilt. Schon in Ihrem "Bericht zur
Lage des Staates Israel" haben Sie vorgeschlagen, Fanatiker mit einem
speziellen Therapeutikum zu behandeln: mit Humor. Das klingt zunächst
etwas irreal.
Ich habe noch nie einen Fanatiker mit Sinn für Humor getroffen. Und ich
habe noch nie erlebt, dass jemand, der humoristisch begabt war,
plötzlich zum Fanatiker geworden wäre - außer er oder sie hätte ihren
Humor durch ein Ereignis völlig verloren. Meine Frage ist: kann man
Humor transplantieren oder den Leuten injizieren, so dass sie immun
werden gegen Fanatismus? Natürlich kann ich niemanden zwingen, kleine
Humor-Kapseln zu schlucken. Aber ich glaube, dass die soziale Rolle von
Literatur unter anderem in der Hebung der menschlichen Humorfähigkeit
bestehen sollte. Damit fördert man nämlich auch einen Sinn für die
Relativität der eigenen Position: die Fähigkeit, sich selbst aus dem
Blickwinkel der anderen zu sehen.
Ich denke nicht, dass man die menschliche Natur über Nacht verändern
kann. Das glauben nur Ideologen und Tyrannen, und gewöhnlich vergießen
sie dann Ströme von Blut dafür. Ich glaube an Mutationen oder langsame
molekulare Veränderungen, und die Kunst kann dazu beitragen. Und selbst
daran glaube ich nur an guten Tagen; an schlechten glaube ich mir selber
nicht.
Goethe und Beethoven waren zwar nicht gerade Humoristen, aber auch sie
haben die Deutschen nicht vom Völkermord abgehalten.
Ich habe nie angenommen, dass die Lektüre von Tolstoi aus jemandem einen
besseren Menschen macht. Aber auf lange Sicht lernen wir uns selbst
besser kennen, und wir erschrecken etwas mehr über uns. Das könnte ein
kleiner Fortschritt sein.
Eines Ihrer in Deutschland bekanntesten Bücher ist "Black Box"; es ist
in der Technik des Briefromans geschrieben, wie der "Werther" und der
"Hyperion". Ich weiß, dass das vielleicht keine angenehme Frage ist,
aber: Haben Sie eine Beziehung zur deutschen Kultur?
Nur eine sehr indirekte. Ich spreche kein Deutsch. Ich gehöre da zur
verlorenen Generation: Meine Eltern sprachen Deutsch fließend, und jetzt
spricht es meine Tochter - sie hat Germanistik studiert und lehrt an
einer israelischen Universität. Ich benötige immer Übersetzungen. Alles,
was mit deutscher Kultur und Tradition zu tun hat, erzeugt bei mir eine
immerwährende Ambivalenz, eine Art Unbehaglichkeit und Unruhe. Ich bin
zugleich fasziniert und abgestoßen. Es gibt bei mir immer noch diesen
Schrecken über die Kulturgeschichte dieses Landes.
Das sind offene Worte.
Ja, aber das ist die Wahrheit. Ich könnte natürlich auch sagen:
Deutschland ist wundervoll und ich liebe es, aber ...
Ich hatte nicht erwartet, dass Sie von Deutschland schwärmen würden...
... das wäre nur nett gelogen. Also: Deutschland ist nicht großartig,
ich liebe es nicht, aber ich bin von diesem Land angezogen. Und vieles
von dem, was Deutschland seit Generationen anzubieten hat, ist Teil
meiner Identität, ob es mir gefällt oder nicht. Auch die jüdische
Tradition gehört zu den deutschen kulturellen Genen, wenn man das so
sagen kann. Egal, ob die Deutschen nun glücklich darüber sind oder
nicht.
Lassen Sie uns über die Friedensbewegung sprechen. In Deutschland
scheint sie mir ein bisschen hysterisch, pseudomoralisch, ideologisch
fixiert. Die israelische Friedensbewegung macht offenbar eine viel
praktischere Politik.
Ich habe Meinungsverschiedenheiten mit dem sentimentalen Teil der
deutschen Friedensbewegung. Er verwechselt Frieden mit Liebe und
Brüderlichkeit, mit Zuneigung und Vergebung. Frieden ist aber ein ganz
unemotionaler Begriff. Es ist eine Art Geschäft, ein Vertrag. Im Nahen
Osten zum Beispiel ist es extrem unwahrscheinlich, dass Palästinenser
und Israelis eines Tages aufwachen, sich unter Tränen umarmen, die
besetzten Stellungen räumen und einander ihrer Liebe versichern. Das
wird nicht passieren. Das Höchste, auf das wir hoffen dürfen, ist: ein
Kompromiss mit zusammengebissenen Zähnen. Es gibt keine glücklichen
Kompromisse - das wäre ein Widerspruch in sich.
In Deutschland aber gibt es viele Leute, für die Frieden eine
tränenreiche Versöhnung ist. Oder die in aller Einfalt an einen
plötzlichen Ausbruch christlicher Nächstenliebe zwischen Feinden
glauben. Oder die sogar meinen, dass - egal um was es sich handelt - die
Dritte Welt immer recht hat. Und zwar deshalb, weil die Dritte Welt so
viel gelitten habe.
Das führt einige Teile der deutschen Friedensbewegung zu einer Art
Doppelmoral, was die Beurteilung Israels betrifft. Deutsche
Intellektuelle haben mir schon öfter vorgehalten: Ihr Juden habt so viel
gelitten - wie könnt ihr jetzt so gewalttätig auftreten? Die
Palästinenser dagegen betrachtet man als arme Unterdrückte - sie sind
gewalttätig, aber das findet man ganz natürlich. Das ist Heuchelei. Das
Leiden macht die Menschen nicht automatisch besser. Es ist eine sehr
einfältige, sentimentale Phantasie, dass jeder, der leidet, ein besserer
Mensch wird. Das kommt aus der christlichen Vorstellungswelt, in der
jeder, der leidet, erhöht werden, zum Himmel auffahren wird.
Nach meiner Erfahrung werden manche Leute durch Leiden tatsächlich
geläutert, sie werden großzügiger und sensibler. Andere, die genau
dasselbe erlitten haben, werden immer wütender, misstrauischer und
rachsüchtiger. Beide Reaktionen sind ziemlich menschlich. Deshalb muss
man mit bestimmten Teilen der europäischen Friedensbewegung
philosophisch argumentieren und nicht auf sentimentaler Ebene.
Wie schätzen Sie die aktuelle Lage in Israel ein? Es gibt jede Woche
palästinensische Selbstmordattentate und Aktionen der israelischen Armee
in den besetzten Gebieten. Arafat steht unter Hausarrest. Was müsste
geschehen, damit die Lage sich wieder entspannt?
Scharon und Arafat sind fürchterliche Präsidenten. Israelis wie Araber
verdienten eine bessere politische Führung. Aber die öffentliche Meinung
in Europa sollte Empathie für beide Konfliktparteien aufbringen. Denn
eine Lösung des Problems wird für beide Seiten sehr schmerzhaft sein.
Und es gibt nur die Zwei-Staaten-Lösung. Die israelische Besetzung von
Westbank und Gaza-Streifen muss beendet werden, heute noch, besser
gestern. Auch ohne Frieden. Es gibt für Israel keinen Grund, das Leben
der Palästinenser zu kontrollieren.
Trotzdem bin ich nicht sicher, ob palästinensische Fundamentalisten
Israel in Ruhe lassen, wenn es die Besetzung beendet: Sie wollen, dass
die Juden zur Hölle fahren. Wir sollen nicht nur Gaza und Westjordanland
verlassen, wir sollen uns auflösen. Als Jude bin ich nicht sehr scharf
darauf, zur Hölle zu fahren, da war ich nämlich schon. Und einmal ist
genug.
Ich möchte also andeuten, dass es in Israels eigenem Interesse ist, die
Besetzung schnellstmöglich zu beenden und über einen Friedensvertrag zu
verhandeln. Vielleicht nicht mit dieser politischen Führung, aber
vielleicht mit der nächsten. Das deutsche Publikum muss verstehen, dass
dies ein tragischer Konflikt zwischen zwei Parteien ist, die beide Recht
haben.
Glauben Sie, dass Arafat in der Lage ist, die radikalen
Palästinenser-Organisationen zu kontrollieren? Oder will er es einfach
nicht?
Wenn Arafat die Radikalen nicht kontrollieren kann, dann kann man mit
ihm auch keine Verträge machen. Man erreicht nichts mit jemandem, der
nicht Herr der Lage ist.
Trotzdem: wenn die israelische Regierung auf mich hören würde, dann
würde sie die Besetzung der Palästinensergebiete einseitig beenden. Und
wenn es auch danach noch notwendig ist, unser Land zu verteidigen, dann
werden wir das tun. Selbstverteidigung ist eine Sache, die Besetzung
fremder Territorien eine andere. Ich gehöre in Israel zu einer
Minderheit, aber ich denke, wir sollten uns in unsere Staatsgrenzen
zurückziehen. Ich bin mir nicht sicher, ob das der Frieden wäre. Aber
ich glaube, dass Israel und Palästina eines Tages zwei Nachbarstaaten
sein werden, so wie das heute - ein Beispiel für eine gelungene
Scheidung - die Tschechei und die Slowakei schon sind.
Es wird bei Verhandlungen die eine oder andere Unstimmigkeit geben, weil
die heutigen demographischen Realitäten nicht mit dem genauen
Grenzverlauf übereinstimmen. Aber das Wesentliche ist: Israel sollte
aufhören, das Leben der Palästinenser zu kontrollieren. Es gibt weder
ein Recht noch eine Notwendigkeit dazu.
Das
Gespräch wurde geführt und aus dem Englischen übersetzt von Christian
Gampert
haGalil onLine
08-02-2002 |