Am Anfang des Weges Im früheren
Niemandsland zwischen Tel Aviv und Jerusalem stellt sich ein
"Friedensdorf" seit dreißig Jahren der größten Herausforderung des Nahen
Ostens: dem Zusammenleben der Religionen
von SUSANNE KNAUL
Auf einem kleinen Hügel neben dem Kloster Latrun, auf
halber Strecke zwischen Tel Aviv und Jerusalem, üben sich vierzig
Familien in der größten Herausforderung im Nahen Osten: dem
Zusammenleben von Juden, Christen und Muslemen. Die "Oase des Friedens"
- so der Name des Dorfes, das vor gut dreißig Jahren gegründet wurde -
liegt idyllisch von Weingärten und Feldern umgeben nicht weit von der
alten israelisch-jordanischen Grenze.
Bis zum Sechstagekrieg 1967
galt die Gegend als Niemandsland zwischen den beiden Staaten. Als der
vom Judentum zum Katholizismus konvertierte Priester und Mönch Bruno
Hussar nach einem geeigneten Grundstück für sein Projekt suchte, stellte
ihm das Trapistenkloster Land für eine symbolische Pacht von drei
Pfenning pro Jahr zur Verfügung. Zwei Jahre später zogen die ersten
Familien auf den damals noch kargen Hügel, wo man fortan gemeinsam
leben, aber jeder für sich wirtschaften wollte.
"Ich bin vor dem Fanatismus geflohen", sagt Daoud
Boulos, ein Palästinenser mit israelischem Pass, der für die Entwicklung
des Dorfes zuständig ist. 1989 schloss sich Boulos der "Oase des
Friedens" an, um dort "eine bessere Zukunft aufzubauen". Seine Tochter
Natalie war damals gerade ein Jahr alt. Auf sie setzt Boulos seine ganze
Hoffnung. "Wir Älteren tragen ein schweres Paket auf den Schultern",
aber die Kinder wachsen gemeinsam als Gleichberechtigte auf, wobei "die
Juden hier sehr jüdisch sind und die Araber sehr arabisch". Auf keinen
Fall sollen Unterschiede verwischt werden. Ein zentrales Motto ist: "In
Verschiedenheit zusammenleben."
Das Friedensdorf ist zwar nicht der einzige Ort Israels,
in dem jüdisch-arabische Nachbarschaft stattfindet, allerdings leben die
meisten "Palästinenser mit israelischem Pass" - wie sie sich selbst
bevorzugt nennen - in rein arabischen Dörfern oder kleinen Städten. In
Nazareth bestehen praktisch zwei Städte, eine jüdische und eine
arabische, nebeneinander. Ramle und Lod wiederum sind zwei alte
arabischen Städte, wo Juden und Araber zusammenleben. Doch diese
Nachbarschaft ist nicht immer gewollt, in der Regel hat sie sich
zufällig ergeben, und das Miteinander ist begrenzt. So gehen schon die
Kinder auf verschiedene Schulen, wo sie entweder auf Hebräisch oder auf
Arabisch unterrichtet werden. Dazu kommen unterschiedliche Inhalte im
Geschichtsunterricht, in Literatur und Religion.
Im Friedensdorf kommen die Kinder der drei Religionen
hingegen schon im ersten Lebensjahr zusammen. Ihre Betreuer sprechen
beide Sprachen, was auch für Eltern, die nicht im Friedensdorf leben,
die Erziehung dort attraktiv macht. 85 Prozent der Kinder werden täglich
aus der Umgebung in die Tagesstätten und die Schule des Dorfes gebracht.
Erst nach Abschluss der sechsten Klasse stellt sich die Frage nach der
weiterführenden Schule, die entweder jüdisch oder arabisch ist.
Die inzwischen zwölfjährige Natalie entschied sich, die
besseren Möglichkeiten in einer hebräischen Schule wahrzunehmen. "Ganz
zu Anfang hatte ich noch ein paar Freunde dort, aber die wandten sich
einer nach dem anderen von mir ab", sagt sie über das "schwierigste
Jahr" in ihrem Leben. Ihre Mitschüler hänselten sie und riefen sie eine
"stinkende Araberin". "Ich war überrascht", sagt sie. "Ich hatte damit
gerechnet, dass sie mich als eine von ihnen aufnehmen werden."
Mit Natalie zusammen kamen zwei weitere Kinder aus der
"Oase des Friedens" in die hebräische Schule, die jüdische Neria und der
arabisch-christliche Carlos. Neria habe sie "manchmal in Schutz vor den
anderen genommen", doch Carlos hätte alles versucht, "sich an die
anderen Kinder ranzuschmeißen". Mit dem Ende des Schuljahres wechselte
Natalie in die arabische orthodoxe Schule in Ramle.
"Draußen ist der Hass groß", sagt Daoud Boulos, "hier
gibt es ihn nicht." Natürlich lässt sich auch im Friedensdorf die
schwierige Lage in der Region nicht ausblenden, die Frage nach der
eigenen Identität im Umgang mit dem anderen stellt sich auch hier. Und
natürlich, gibt Boulos zu, kommt es auch im Dorf zu Konflikten - aber
nicht aus politischen Gründen, sondern wegen "ganz normalen
Alltagsproblemen", die sich aus dem engen Miteinander ergeben.
Zweifelsohne sind die Leute aus der "Oase" ihrer Zeit voraus.
Linksliberal, eher weltlich und über den Durchschnitt gebildet. Alle
verfolgen das Lösungsmodell der zwei Staaten für zwei Völker, den Abzug
der israelischen Armee aus Westjordanland und Gaza-Streifen sowie die
Auflösung aller jüdischen Siedlungen und die Aufgabe Ost-Jerusalems.
Auf dieser Basis gibt auch
die seit gut einem Jahr andauernde Intifada keinen Anlass zu Konflikten
zwischen den Juden und Arabern im Friedensdorf. Gerade in Krisenzeiten
melden sich immer wieder Journalisten an, um zu prüfen, wie es um die
Koexistenz bestellt ist. Wenn es in der "Oase des Friedens" noch klappt,
so die Devise, scheint die Hoffnung nicht ganz verloren zu sein. Die
Leute aus dem Dorf finden diese Herangehensweise eher problematisch, da
es nicht darum ginge, ob "etwas klappt" oder nicht. Niemand zweifelt
daran, dass das Dorf noch lange existieren wird. Für Außenstehende mag
es mit Blick auf vereinzelte Freudendemonstrationen auf
palästinensischer Seite überraschend kommen, aber auch die Reaktionen
auf die Terroranschläge in den USA waren unter den Juden, Christen und
Muslimen im Dorf kaum unterschiedlich. "Wir sind alle tief erschreckt",
sagt Ruth Schuster und fügt mit wenig Verständnis für die Nachfrage
hinzu: "Worüber hätten wir uns denn streiten sollen?"
Die jüdische Israelin arbeitet im Gästehaus, das sich
zum Teil selbst trägt, zum Teil von Spenden auch aus der Bundesrepublik
finanziert wird. Dazu kommt ein Schwimmbad und die Friedensschule, in
der Seminare für Kinder und Erwachsene aller Religionen abgehalten
werden. Nicht selten treffen jüdische Israelis im Friedensdorf zum
ersten Mal mit einem arabischen Israeli zusammen. Dabei geht es immer um
die friedliche und vor allem gerechtere Koexistenz innerhalb Israels.
"In Gedenken an Tom Kitain, ein Kind des Friedens",
steht in hebräischen Buchstaben auf dem Plastikschild am Eingang zum
Basketballfeld. Tom war vor fünf Jahren ums Leben gekommen, als zwei
israelische Militärhubschrauber bei einem nächtlichen Einsatz auf dem
Weg in den Südlibanon zusammenprallten. Der junge Fallschirmspringer saß
in einem der beiden Hubschrauber.
Über seinen Tod gerieten die Leute aus dem Dorf in die
schlimmste Krise jemals - wobei die Fronten nicht jüdisch-arabisch
waren, sondern vollkommen heterogen durch die Bevölkerung gingen. Schon
Toms Einberufung hatte Anlass zu Auseinandersetzungen im Friedensdorf
gegeben.
Als seine Eltern nach dem Unglück einen Gedenkstein für
ihren gefallenen Sohn forderten, kam es zum offenen Disput unter den
Arabern im Dorf. Die einen lehnten ein solches Denkmal strikt ab, die
anderen zeigten Verständnis für die Eltern des Jungen. Sie mussten sich
den Vorwurf anhören, zu angepasst zu sein und Positionen zu vertreten,
die nicht ihre eigenen sind. Motiv sei pures Eigeninteresse und die
Hoffnung, ihre Chancen bei der Vergabe von Führungsposten zu steigern.
Auch unter den Juden kam es zu Konflikten, und diejenigen, die ein
Denkmal mit militärischem Charakter nicht grundsätzlich ablehnten, waren
fortan als "Nationalisten" entlarvt. Die einmal im Monat einberufene
Mitgliederversammlung stimmte schließlich über das bescheidene
Plastikschild ab, das nur hebräisch beschriftet ist. Ein eher wackliger
Kompromiss. Komplett gelöst scheint der Konflikt bis heute nicht zu
sein.
"Tom ist hier aufgewachsen. Wir haben um ihn geweint",
sagt Daoud Boulos, trotzdem sei die Forderung, ein Denkmal für ihn
aufzustellen, ein Fehler gewesen. Boulos ist der Abstimmung darüber fern
geblieben. "Toms Tod hat Themen geöffnet", sagt Ruth Schuster, die
selbst Mutter eines pubertierenden Sohnes ist, der früher oder später
eine Entscheidung treffen muss. Er wächst mit Arabern auf und muss im
Zweifelsfall eines Tages gegen sie kämpfen.
Ruths Mann gehört, wie
viele jüdische Männer aus dem Friedensdorf, der Initiative "Es gibt eine
Grenze" ("Jesch Gwul") an, in der sich Soldaten organisieren, die den
Dienst in den besetzten Gebieten verweigern. Trotzdem "sind wir
natürlich Teil der Gesellschaft, und unsere Kinder sollen sich auch so
verhalten", sagt sie. Würde man nicht in der "Oase des Friedens" leben,
stellte sich die Frage der Verweigerung vermutlich gar nicht erst.
Gleichzeitig wolle man die israelische Realität "herausfordern", sagt
Ruth. "Das Problem ist, dass das politische Establishment letztendlich
aus Angst vor den Arabern die Ungleichheit verschärft." Dabei geht es um
eine Minderheit, die immerhin zwanzig Prozent der Gesamtbevölkerung
ausmacht.
"Am Ende des Weges wird es überall so sein, wie hier",
ist Daoud Boulos optimistisch, "selbst wenn bis dahin noch unschuldiges
Blut fließen muss." Heute stehen nicht weniger als dreihundert Familien
auf der Warteliste für die Neuaufnahme ins Friedensdorf. Sobald Land von
staatlicher Seite für Neubauten zugelassen wird, sollen mindestens
sechzig neue Familien aufgenommen werden. Boulos rechnet damit, dass es
in zwei Jahren so weit sein wird. "Es hat Höhen und Tiefen gegeben",
sagt er, "aber wir sind immer stärker und größer geworden."
Dialog der Identitäten:
Arabisch-jüdische
Treffen in Neveh Schalom
SUSANNE KNAUL, 40, ist taz-Korrespondentin für Israel
taz Magazin Nr. 6585 vom 27.10.2001, Seite
V, 274 TAZ-Bericht SUSANNE KNAUL
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30-10-2001 |